Eine ökologische Ära?

Perspektiven einer neuen Geschichte der Umweltbewegungen

Anmerkungen

Jeder weiß, was „die Umweltbewegung“ ist – bis man aufgefordert wird, sie zu definieren. Im Vergleich mit anderen sozialen Bewegungen zeichnen sich Umweltbewegungen seit jeher durch eine besondere Unschärfe aus, die Forscher und Kommentatoren regelmäßig irritiert. Hinter dem Kollektivsingular „Umwelt“ verbirgt sich ein breites Themenspektrum: vom Artenschutz bis zur Pflege des Landschaftsbildes, von der Umweltverschmutzung bis zur Ressourcenschonung. Zudem fehlt ein mächtiges Zentralorgan: Die Organisationen der Umweltszene sind nicht nur in Deutschland ein unübersichtliches Geflecht von regional und thematisch heterogenen Verbänden. Weiter lässt sich eine zentrale Konfliktlinie, anlog etwa zum Gegensatz von Arbeit und Kapital, für ökologische Fragen nur mit Mühe konstruieren. Schließlich greift eine Fixierung auf Verbände offensichtlich zu kurz. Mit Hingabe kultivieren Aktive zum Beispiel den Archetyp des Mahners und Warners, der sich um die Alltagsprobleme zivilgesellschaftlicher Organisation nicht sonderlich kümmert.

Vermutlich hat die zeithistorische Forschung diese Unübersichtlichkeit nur deshalb so lange ignorieren können, weil ihr in den 1980er-Jahren, als sich die umweltgeschichtliche Forschung in der Bundesrepublik konstituierte, ein spezifischer Organisationstyp als Ideal vor Augen stand. Das war der Typus der Neuen Sozialen Bewegungen – ein Begriff, der bezeichnenderweise Selbstbeschreibung und analytisches Konzept zugleich war.1 Damit gab es ein attraktives Leitbild, wie eine Umweltbewegung auszusehen hatte: uneigennützig, aufmüpfig, öffentlich präsent. So favorisierte die umwelthistorische Forschung in Deutschland lange Zeit eine recht enge Definition, obwohl Robert Gottliebs Geschichte der amerikanischen Umweltbewegung schon in den frühen 1990er-Jahren einen alternativen, breiteren Ansatz verfolgte.2 Hinzu kamen vermutlich die Imperative der Arbeitsökonomie. Die Geschichte des deutschen Naturschutzes wird zum Beispiel deutlich übersichtlicher, wenn man sich einfach auf jene Institutionen und Verbände beschränkt, die den Naturschutz im Namen führen.

Inzwischen sind die Neuen Sozialen Bewegungen als Organisationen wie als analytischer Begriff etwas verblasst, und die Vielfältigkeit der Umweltbewegungen steht jedem Zeitungsleser des 21. Jahrhunderts vor Augen. Die Globalisierungskritik hat ökologische Belange aus der Isolation befreit und mit sozioökonomischen Themen verbunden. Neuere Initiativen wie Foodwatch und Campact setzen nicht mehr auf klassische Vereinsmitgliedschaften, sondern auf mediale Sichtbarkeit und elektronische Vernetzung. Mit dem Aufschwung des Ökolandbaus kamen profitorientierte Verbände in den Blick. Menschen, die sich einem „Lifestyle of Health and Sustainability“ verbunden fühlen und inzwischen als „LOHAS“ sogar ein eigenes Akronym haben, sprengen mit ihrer Lebensstilorientierung die vertrauten Muster sozialer Bewegungen. Außerdem ist die transnationale Vernetzung der Umweltbewegungen, die tatsächlich schon vor dem Ersten Weltkrieg begonnen hatte, im 21. Jahrhundert unübersehbar geworden.3

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Es ist deshalb höchste Zeit, die Geschichte der Umweltbewegungen neu zu schreiben: kritischer, methodisch reflektierter, thematisch und geographisch offener. Vor allem erscheint es dringend notwendig, den Blick von isolierten Fallstudien zu lösen und wieder mehr den Gesamtzusammenhang der modernen Umweltbewegungen in den Blick zu nehmen.4 Wie lässt sich eine Geschichte der Umweltbewegungen schreiben, die die Engführungen früherer Studien überwindet, ohne dabei in eine konturlose Beliebigkeit zu verfallen? Die folgenden Bemerkungen verstehen sich als skizzenhafte Antworten.5

Strukturwandel des Ökologischen. Viel Energie hat die Umweltbewegungsgeschichte in die Diskussion von Zäsuren investiert. Noch Joachim Radkaus kürzlich erschienene Synthese kreist seitenlang um die Frage, inwiefern das Jahr 1970 als Epochenscheide zu bewerten sei.6 Der diffuse Charakter des Gegenstands reizt offenkundig dazu, mit chronologischen Barrieren zumindest etwas Übersichtlichkeit zu schaffen. Allerdings hat sich dieser Versuch inzwischen als unergiebig erwiesen: Entweder ist man bereit, die Geschehnisse durch rigide Grenzmarkierungen in ein allzu enges Korsett zu zwängen, oder man akzeptiert unter dem Druck der Empirie so viele Relativierungen und Differenzierungen, dass diese letztlich das Projekt unterlaufen.7

Erhellend ist der Blick auf die Historische Semantik. Um 1970 wurde schlagartig der Begriff „Umwelt“ populär, ursprünglich „eine bürokratische Sprachschöpfung par excellence“, die dann in die Alltagssprache einging.8 Der Umweltbegriff verband Themen, die vormals isoliert gesehen worden waren und primär als technisch-administrative Anliegen galten. Damit zielte er jedoch eher auf Synthese als auf inhaltliche Neuausrichtung, und tatsächlich waren die neuen „Umweltprobleme“ den vormaligen Abwasser- und Lärmproblemen durchaus ähnlich. Erst in den 1980er-Jahren wurden Umweltfragen umfassend neu diskutiert, was sich dann auch in Begriffsschöpfungen niederschlug, die tatsächlich neue Herausforderungen markierten: „Waldsterben“, „Ozonloch“, „Klimakatastrophe“, „Risikotechnologien“.

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Es könnte deshalb ratsam sein, Worte wie „Zäsur“ oder gar „Ära“ in Zukunft mit Vorsicht zu verwenden. Treffender wäre es, von einem Strukturwandel des Ökologischen zu sprechen. Damit wird betont, dass in jeder modernen Gesellschaft ein Aushandlungsprozess des Verständnisses von „Umwelt“ und „Umweltproblemen“ stattfindet, der gleichermaßen von gesellschaftlichen Strukturen und Leitbildern wie von Veränderungen der Umwelt selbst geprägt ist. Inwiefern dabei in einem bestimmten Zeitraum Neuerungen oder Traditionen überwiegen, ist jeweils im konkreten Einzelfall zu bestimmen. An die Stelle der analytisch nicht immer fruchtbaren Suche nach Wendepunkten tritt damit die Frage, in welchen Zeiten sich die fortlaufende gesellschaftliche Neuerfindung des Ökologischen verdichtete und inwiefern aus solchen Zeiten des Wandels neue, längerfristig stabile Strukturen entstanden.

Ein solches Verständnis von Periodisierungen hätte nicht zuletzt den Vorzug, dass es die umwelthistorische Debatte für die Zeitgeschichte in ihrer ganzen thematischen Breite öffnen würde. So lässt sich der bundesdeutsche Aufschwung für Umweltfragen in den frühen 1980er-Jahren mit akzidentiellen Momenten wie der Debatte über das Waldsterben nur unzulänglich erklären. Es erscheint lohnender, die Ökologisierung der Bundesrepublik als einen Teil des grundlegenden politischen Umbruchs zu betrachten, der sich in den westlichen Gesellschaften um 1980 vollzog. Die Regierungswechsel jener Zeit waren umgeben von einer Aura umfassender Neuorientierungen: in Richtung Neoliberalismus im Falle Thatchers in Großbritannien und Reagans in den USA, in Richtung Staatssozialismus bei Mitterrand in Frankreich. Im Gefolge des zweiten Ölpreisschocks entstand offenkundig in vielen westlichen Gesellschaften die Chance zu grundlegenden Verschiebungen und neuen Zukunftsperspektiven.9 Pointiert könnte man deshalb fragen, inwiefern die politische Ökologie in der Bundesrepublik eine Art sozialpsychologisches Äquivalent zum Neoliberalismus im angelsächsischen Raum gewesen ist.

Die Umwelt wird links. Seit den 1970er-Jahren wurden Umweltthemen in der Bundesrepublik zu dezidiert linken Themen. Das geschah durchaus unerwartet: „Nicht links, nicht rechts, sondern vorn“, lautete ein früher Wahlspruch der Partei Die Grünen.10 Dass dies keineswegs nur politische Rhetorik war, belegte 1979 die Wahl des ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Herbert Gruhl zu einem der drei Sprecher. Nicht minder bezeichnend ist freilich, dass Gruhl schon nach wenigen Monaten innerhalb der Partei isoliert war und nach seinem Austritt die Ökologisch-Demokratische Partei als konservative Alternative aufzubauen versuchte.11 Dass diese in der Wählergunst deutlich hinter den Grünen zurückblieb, unterstreicht nachdrücklich, dass das Engagement für Umweltfragen fortan als links galt.

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Historisch gesehen war diese parteipolitische Kolorierung alles andere als zwingend. Die politische Verortung all dessen, was seit 1970 unter dem Rubrum „Umwelt“ lief, war lange Zeit ziemlich unbestimmt. Da gab es Gruppen und Verbände, die explizit auf parteipolitische Abstinenz setzten, und andere, die sich bestimmten Schattierungen des politischen Konservatismus verbunden fühlten. Jene, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dem Naturschutz und der Heimatpflege verschrieben, fühlten sich vielfach im Dunstkreis des bildungsbürgerlichen Kulturpessimismus besonders wohl. Anderer-seits gab es aber auch die sozialdemokratischen Naturfreunde, deren Bedeutung zuletzt Ute Hasenöhrl unterstrichen hat.12 Selbst in der NS-Zeit waren die Naturschützer in ideologischer Beziehung keineswegs so durchgängig braun, wie es eine oberflächliche Lesart lange Zeit suggeriert hat.13 Warum also bekamen Umweltthemen nach Jahrzehnten politischen Vagabundierens eine klare, sogar im Parteiensystem verankerte Heimat?

Vermutlich wird diese bemerkenswerte Wende erst dann verständlich, wenn man die Geschichte der politischen Linken seit 1968 in den Blick nimmt. Man übertreibt nur wenig, wenn man diese als lange Folge politischer Enttäuschungen tituliert. Exemplarisch erwähnt seien der Zerfall der Studentenbewegung, der Radikalenerlass, Helmut Schmidt als sozialdemokratischer Bundeskanzler, der „Deutsche Herbst“ 1977 und der vergebliche Protest gegen den NATO-Doppelbeschluss. Vor diesem Hintergrund mussten linke Zeitgenossen um 1980 geradezu nach einem populären Thema suchen. Das war zwar nicht das einzige Motiv der Umweltbewegten, aber doch ein sehr gewichtiges, das häufig unberücksichtigt bleibt.

Mit etwas Sarkasmus und einem vielzitierten Buchtitel von Jürgen Habermas könnte man deshalb davon sprechen, dass die politische Ökologie für die Linken ein Vehikel war, ihre Legitimationsprobleme im Spätmarxismus zu übertünchen.14 Der Preis war eine Aufladung der Umweltdebatte mit ideologischen Versatzstücken: Entfremdung, Kapitalistenkritik, Ausbeutung der Natur als Analogon zur Ausbeutung der Arbeiterschaft. Dass derlei nach der reinen Lehre eher Vulgärmarxismus war, störte bald kaum noch jemanden. Die entscheidende Brücke war die hochgradig kontroverse Debatte um die Atomkraft, in der sich Staat und Industrie auf eine Weise miteinander verschränkten, die dem einschlägig vorgeprägten Beobachter als geradezu schulbuchmäßiger Fall des staatsmonopolitischen Kapitalismus erschien.

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Der Staat, dein Feind und Partner. Der Atomprotest zementierte noch eine zweite Auffassung: Wer die konfliktträchtigen Demonstrationen am Bauzaun miterlebt hatte – Zeitgenossen sprachen von der „Schlacht von Brokdorf“ am 13. November 1976 und der „Schlacht um Grohnde“ am 19. März 197715 –, der konnte den Staat nur als erbitterten Gegner sehen. Auch bei anderen Themen war es für Umweltverbände kommod, die staatliche Verwaltung als Adressaten darzustellen, der dem eigenen Anliegen bestenfalls zögerlich nachkomme. Erst neuere Analysen haben gezeigt, dass der Staat der Zivilgesellschaft mit offenen Armen begegnete. Das Bündnis von Verwaltung und Verbänden, das sich schon in der Naturschutzbewegung des Kaiserreichs herausgebildet und bis hin zu finanziellen Verflechtungen verdichtet hatte, wurde auch in ökologisch bewegten Zeiten nicht aufgekündigt.16

Tatsächlich hatte die Staatsverwaltung gute Gründe, Umweltthemen mit Wohlwollen aufzugreifen. Nach dem Ende der Planungseuphorie befand sich der bundesdeutsche Interventionsstaat zu Beginn der 1970er-Jahre in der Defensive; das stockende Wirtschaftswachstum lief zugleich auf eine chronische Mittelknappheit hinaus.17 Für agile Polit-Unternehmer waren Umweltthemen insofern durchaus eine politische Versuchung, und tatsächlich zählten ökologische Themen zu den ganz wenigen Bereichen, in denen sich während der 1970er- und 1980er-Jahre noch eine massive Expansion von Budgets und Stellenplänen durchsetzen ließ.

Ökologie als Stil-Frage. Wer sich in die Quellen der neueren Umweltbewegungen vertieft, sollte gelegentlich auch auf die Papierqualität achten. „Umweltschutzpapier“ war in den 1980er-Jahren gleichermaßen Schreibutensil und politisches Bekenntnis, und das ist nur eine Facette jener ökologischen Lebenswelt, die gerade in dieser Zeit fröhlich erblühte. Natur war stets mehr als ein politisches Anliegen: Das Nachdenken über und Erleben von Natur prägte zugleich Kultur und Lebensstile.

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Alternativer Konsum: „Jute statt Plastik“. 1978 brachte das Handelshaus GEPA diese in Bangladesch genähten Taschen auf den bundesdeutschen Markt und verkaufte davon in der Folgezeit mehrere Millionen – als alltägliches Hilfsmittel und öffentliches Bekenntnis zugleich. (Siehe auch http://www.zeit.de/2006/24/Selbst-schuld-Jutetuete_xml und http://www.youtube.com/watch?v=wnkd5hPAM4M.) Die GEPA war 1975 als „Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt“ gegründet worden und war erste Lizenznehmerin des fairen Siegels – für Kaffee. Heute ist sie nach eigenen Angaben „Europas größte Fair-Handels-Organisation“.
(GEPA – The Fair Trade Company)

 

Ein Bioladen in Hamm, der im März 1987 in Reaktion auf den Tschernobyl-Unfall vom April 1986 gegründet wurde – mit einer Verkaufsfläche von 28 qm.
(Foto: Dorrit Seemann)

 

„Bio aus Liebe“: Ein VW-Bulli der Firma „Rapunzel Naturkost“ bei einer Werbefahrt in Tübingen, 2005
(Wikimedia Commons; Björn Appel, Volkswagen-rapunzel, CC BY-SA 3.0)

Nach dem Boom einschlägiger Forschungen in den vergangenen Jahrzehnten registriert man verwundert, dass es bislang allenfalls Ansätze zu einer Kulturgeschichte der deutschen Umweltbewegungen gibt.18 Warum nur hat bislang niemand versucht, der farbenprächtigen Ausstellung über die Lebensreform, die 2001/02 auf der Darmstädter Mathildenhöhe stattfand,19 ein zeitgenössisches Projekt an die Seite zu stellen? Eine Geschichte der neueren Umweltbewegungen, die Bioläden und Birkenstock-Sandalen ausblendet, ist unvollständig: Wie will man die Faszination einer Bewegung nachempfinden, wenn man ihre enorme alltagsweltliche Prägekraft ignoriert? Auf Studien zu anderen Ländern, die Zugänge zu einer Kulturgeschichte der Umweltbewegungen eröffnen, sei daher an dieser Stelle nachdrücklich verwiesen.20

Wie deutsch darf eine Geschichte der Umweltbewegungen sein? Die bundesdeutschen Umweltbewegungen waren Teile einer Entwicklung, die in allen westlichen Gesellschaften zu erkennen war. Aber war dies lediglich das Resultat vergleichbarer Strukturbedingungen, oder gab es darüber hinaus einen nennenswerten transnationalen Austausch? Holger Strohm, der 1973 eine vielbeachtete Dokumentation über die Atomenergie vorlegte, profitierte beim Schreiben von Beziehungen in die USA; umgekehrt stammte eine der ersten Analysen der deutschen Grünen von der Amerikanerin Charlene Spretnak.21 Seit den späten 1960er-Jahren trat neben den Austausch unter den Aktiven zudem eine inzwischen kaum noch überschaubare Gipfeldiplomatie. Schon die Umweltgipfel von Stockholm 1972 und Rio de Janeiro 1992 standen jeweils am Ende einiger Jahre, in denen der internationale Austausch besonders intensiv gewesen war. Um die Bedeutung dieses Austauschs und seine Rückwirkungen in die Nationalstaaten genauer einschätzen zu können, sind weitere Studien erforderlich.

Im deutschen Fall müssen nicht zuletzt die Situation der langen staatlichen Teilung und die Gesellschaftsgeschichte der DDR berücksichtigt werden. Die Umweltbewegungen der DDR waren ihrerseits Teile eines osteuropäisch-sozialistischen Musters, das noch nicht hinreichend erforscht ist. Es gab einen autoritären Staat und zugleich spezielle Verbände. Es gab Dissidenten, aber auch viel Unmut innerhalb der offiziell sanktionierten Strukturen wie etwa den Interessengruppen der Gesellschaft für Natur und Umwelt zur „Stadtökologie“. Die bis heute erkennbare Schwäche zivilgesellschaftlicher Verbandsstrukturen öffnete Chancen für gut vernetzte, oft wissenschaftlich profilierte Personen, die auf eigene Faust erstaunlich viel bewegen konnten. Umweltthemen waren gleichermaßen Herzensanliegen und Vehikel für grundsätzlichen Unmut über das sozialistische Regime, und dieses reagierte mit ambitionierten Vorgaben, die zum Teil westlichen Entwicklungen vorgriffen: Ein Umweltministerium hatte die DDR zum Beispiel seit Ende 1971 – gut 14 Jahre früher als die Bundesrepublik. Hinzu kam der Spagat zwischen Anspruch und Realität, der durch den Ressourcenmangel im Sozialismus noch prekärer ausfiel als im Westen.22 Nicht selten wird die Umweltgeschichte Osteuropas zu einer Geschichte der Zerstörung verkürzt, aber ein genauerer Blick auf Bewegungen vor und nach 1989/90 zeigt, dass dies zu kurz greift.23

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Die Perspektive der Historischen Semantik dürfte besonders hilfreich sein, um die Geschichte der amorphen Umweltbewegungen schreiben zu können und dabei System- oder Staatsgrenzen zu überschreiten. Das Ökologische war für vielfältige politische und gesellschaftliche Bezüge offen, und doch wurde es nie ein beliebiger Begriff. Alle hier erwähnten Entwicklungen haben sich nicht zuletzt in spezifischen Sprachregelungen der verschiedenen Akteure ausgedrückt, denen künftig genauer nachzugehen wäre. Häufig war es vor allem die Sprache (einschließlich der Bild- und Symbolsprache), die den heterogenen Zielen der Umweltbewegungen ein einigendes Band verlieh.

Anmerkungen: 

1 Karl-Werner Brand/Detlef Büsser/Dieter Rucht, Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1983 (u.ö.).

2 Robert Gottlieb, Forcing the Spring. The Transformation of the American Environmental Movement, Washington 1993.

3 Vgl. neuerdings Anna-Katharina Wöbse, Weltnaturschutz. Umweltdiplomatie in Völkerbund und Vereinten Nationen 1920–1950, Frankfurt a.M. 2011.

4 Den Reiz, aber auch die Schwierigkeiten einer solchen Synthese verdeutlicht nachdrücklich Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011.

5 Für den Versuch des Verfassers, diese Postulate im Rahmen einer knappen Synthese einzulösen, siehe Frank Uekötter, Am Ende der Gewissheiten. Die ökologische Frage im 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2011.

6 Radkau, Ära (Anm. 4), S. 124-164.

7 Vgl. Jens Ivo Engels, Modern Environmentalism, in: Frank Uekötter (Hg.), The Turning Points of Environmental History, Pittsburgh 2010, S. 119-131.

8 Ders., Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980, Paderborn 2006, S. 275.

9 Zu Recht hat Martin H. Geyer konstatiert, dass der zweite Ölpreisschock und seine Konsequenzen von Historikern im Vergleich zur ersten Ölkrise 1973/74 in der bundesdeutschen Zeitgeschichte vernachlässigt worden sind: Martin H. Geyer, Auf der Suche nach der Gegenwart. Neue Arbeiten zur Geschichte der 1970er und 1980er Jahre, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), S. 643-669, hier S. 647. Siehe auch den Aufsatz von Frank Bösch in diesem Heft.

10 Vgl. zuletzt Silke Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011.

11 Joachim Raschke, Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln 1993, S. 144f.

12 Ute Hasenöhrl, Zivilgesellschaft und Protest. Eine Geschichte der Naturschutz- und Umweltbewegung in Bayern 1945–1980, Göttingen 2010.

13 Dazu als vorläufiger Schlusspunkt einer kontroversen Debatte: Frank Uekötter, Green Nazis? Reassessing the Environmental History of Nazi Germany, in: German Studies Review 30 (2007), S. 267-287.

14 Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a.M. 1973 (u.ö.).

15 Bernd-A. Rusinek, Wyhl, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, München 2001, S. 652-666, hier S. 654.

16 Vgl. Hasenöhrl, Zivilgesellschaft (Anm. 12), und Friedemann Schmoll, Erinnerung an die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a.M. 2004.

17 Dazu ausführlich Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005.

18 Axel Goodbody (Hg.), The Culture of German Environmentalism. Anxieties, Visions, Realities, New York 2002.

19 Kai Buchholz u.a. (Hg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001.

20 Michael Bess, The Light-Green Society. Ecology and Technological Modernity in France, 1960–2000, Chicago 2003; Allan M. Winkler, Life Under a Cloud. American Anxiety About the Atom, Urbana 1999.

21 Holger Strohm, Friedlich in die Katastrophe. Eine Dokumentation über Atomkraftwerke, Hamburg 1973; Charlene Spretnak, Die Grünen. Nicht links, nicht rechts, sondern vorne. Die Studie einer amerikanischen Aktivistin über Die Grünen und ein Bericht über grüne Politik in den USA, München 1985.

22 Als wichtigste Dokumentation zur DDR-Umweltgeschichte vgl. Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung (Hg.), Umweltschutz in der DDR. Analysen und Zeitzeugenberichte, 3 Bde., München 2007. Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Hauptseminars von Martin Schulze Wessel und Julia Herzberg im Sommersemester 2011 für wertvolle Hinweise zur osteuropäischen Perspektive.

23 Siehe auch den Beitrag von Julia Obertreis in diesem Heft.

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