„Sicherheit“ und „Selbstbestimmung“

Informationspolitik in der Bundesrepublik

Anmerkungen

Obwohl in der deutschen Zeitgeschichte über den Zugang zu politisch sensiblen Akten seit einigen Jahren diskutiert, mit Archiven und Behörden verhandelt oder gar öffentlich gestritten wird, sind die Vorgeschichten, Wege und Umwege dieser Konflikte noch so gut wie unerforscht. Abgesehen von Astrid M. Eckerts weiterhin einschlägiger Studie zum „Kampf um die Akten“ des NS-Staats nach 1945 hat sich die zeithistorische Forschung selten für die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren interessiert, von denen der Gebrauch staatlichen Schriftguts durch Historiker, Journalisten und Juristen abhing. Wer sich über den Wandel der Nutzungsbedingungen, der Rechtslage und der gesellschaftlichen Nachfrage nach Akten informieren möchte, kann bislang nur auf wenige Spezialstudien zurückgreifen.

Wer mehr wissen will, muss archiv-, politik- und rechtswissenschaftliche Arbeiten auf Details und Randbemerkungen durchsuchen, muss Studien zur Geschichte der Propaganda, der kritischen Öffentlichkeit, der Geheimdienste und der „Vergangenheitsbewältigung“ einer Relektüre unterziehen, Interviews mit Zeithistorikern führen oder andere Quellen erschließen – die Archive der Archive etwa oder die Bücher von Enthüllungsjournalisten. Welcher Chronologie eine solche Historisierung des Aktenzugangs folgen könnte und welcher Fragenkatalog dabei möglicherweise zu beantworten ist, skizziert der vorliegende Beitrag. Ein Hauptaugenmerk gilt dabei der Frage, inwiefern Akten nicht nur aus zeithistorischen und strafrechtlichen Gründen als besonders wertvoll angesehen wurden, sondern auch aus verwaltungspraktischen, sicherheitspolitischen und propagandistischen Erwägungen.1

Als 1942 die alliierten Flächenbombardements einsetzten, wurden neben historisch bedeutsamen Beständen auch im Gebrauch befindliche Akten in Sicherheit gebracht. Die Zerstörung von Personalunterlagen in Hamburg hatte gezeigt, dass es sich dabei um „für die Verwaltungen unersetzliches Material“ handelte, das „mit allen Mitteln vor der Vernichtung durch Luftangriffe geschützt werden muß“, wie eine Weisung des Reichsinnenministeriums vom Mai 1944 lautete. Von großem Wert waren die Akten aber auch für die Alliierten, die sich auf die dauerhafte Besetzung des Reichs vorbereiteten. Eine Direktive vom September 1944 sah daher nicht nur Massenverhaftungen vor, sondern auch die Sicherung von Akten. Bestände der Armee, Polizei, NSDAP und Wirtschaft sollten von der Militärverwaltung, den Geheimdiensten und den Gerichten genutzt werden. Vor diesem Hintergrund änderte sich die Informationspolitik des Reichs. Seit Oktober 1944 waren bei „drohendem Feindeinbruch“ alle Akten „geheimer und politischer Art“ zu vernichten sowie solche, die für „Maßnahmen gegen die deutsche Bevölkerung“ geeignet waren.2 Gestapo-Akten wurden fast überall zerstört, ebenso die meisten Akten des Reichssicherheitshauptamts (RSHA).

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Einen Teil der Vernichtung konnten die Alliierten stoppen. Teilweise dürften sich aber auch regimetreue Beamte der Zerstörung widersetzt haben – in der Hoffnung, sich freikaufen zu können oder sogar (gemeinsam mit den Akten) selbst wiederverwendet zu werden. Carl von Loesch etwa, ein Beamter des Auswärtigen Amts, übergab den Alliierten Mikrofilme, die das geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt enthielten. Auch Reinhard Gehlen konnte den Amerikanern bekanntlich nicht nur Kontakte und Erfahrungen aus seiner Zeit beim deutschen Militärgeheimdienst anbieten, sondern zugleich Kisten voller Informationen über Osteuropa. Diese wurden 1945 gemeinsam mit ihm in die USA verbracht, während das Gros der anderen NS-Funktionseliten – darunter Archivare und Historiker – im Zuge der Entnazifizierung entlassen wurde. Noch galt das Hauptinteresse der Herrschaftssicherung und dem Elitenwechsel in Deutschland: Belastete sollten dauerhaft Berufsverbot erhalten und die deutschen Akten fest in alliierter Hand bleiben.

Mit dem Heraufziehen des Kalten Kriegs wurden die Karten neu gemischt. Hatte sich die Verteidigung in Nürnberg noch erfolglos darum bemüht, das Geheimprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt als Beweismaterial aufnehmen zu lassen, wurde es in den Jahren 1946/47 zu einem Herzstück des antikommunistischen Containment. Als vor dem Hintergrund der Berlin-Blockade 1948 zu befürchten stand, dass auf deutschem Boden bald ein neuer Krieg geführt werden würde, wurden die meisten Sammelstellen aufgelöst. Ein Teil der beschlagnahmten Akten wurde evakuiert. Rund 12.000 Tonnen gingen nach Großbritannien und in die USA, einige kleinere Bestände nach Frankreich. Die Masse der personenbezogenen Akten, um die 500 Tonnen vor allem aus NSDAP- und SS-Beständen, verblieb in einem Document Center in Berlin-Zehlendorf, dem späteren Berlin Document Center (BDC). Diese Akten wurden zur Strafverfolgung gebraucht, aber auch bei der Neueinstellung von Personal, für die Klärung von Wiedergutmachungsansprüchen und für den Lastenausgleich. Weniger brisante Bestände gingen an die als entnazifiziert geltenden deutschen Verwaltungen zurück. Und während sich die USA die „Befreiung“ Osteuropas auf die Fahnen schrieben, klopfte ein Politologie-Doktorand namens Raul Hilberg deutsche Akten zum Thema Partisanenbekämpfung in der UdSSR ab.

Nach der Weststaatsgründung dauerte es nicht lange, bis eine Parlamentsmehrheit, die von der radikalen Rechten über CDU und SPD bis zur KPD reichte, die Rückgabe aller ins Ausland verbrachten Akten forderte . Sie würden benötigt, um die „deutsche Vergangenheit“ erforschen zu können. Dass bestimmte Bestände für sehr gegenwärtige Zwecke gebraucht wurden, namentlich bei der Reinkorporation der 1945 auf die Straße gesetzten Beamten, blieb meist implizit. Die Beamten wurden unter anderem durch das Bundesamt für Verfassungsschutz überprüft, das unter der Leitung von Otto John, einem noch von den Briten durchgesetzten Remigranten, seine Arbeit aufnahm. Unterstützt wurde John von Bundesinnenminister Gustav Heinemann (damals CDU). Dieser befürchtete, dass eine zu schnelle Eliten-Restauration und Wiederbewaffnung zu einer „Renazifizierung“ des Landes führen und die Sowjets zu einem Krieg provozieren könne. Gemeinsam mit dem Bundestagsabgeordneten Ludwig Bergsträsser (SPD), einem im „Dritten Reich“ entlassenen ehemaligen Archivar, sorgte der Minister dafür, dass das Bundesarchiv nach seiner Gründung 1950 jahrelang nicht nur ein „Archiv ohne Akten“ blieb (Wolfgang Benz), sondern auch eines ohne Archivare. Beide Politiker wollten Sekretierungen und Beseitigungen von Akten ausschließen. Für den Staatsdienst sollte nur rekrutiert werden, wer sich „standfest gegenüber nationalistischen und militaristischen Anwandlungen“ gezeigt hatte.3

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Fünf Jahre nach Kriegsende betrachtete man eine umfassende Aktenrückgabe auch auf alliierter Seite als Sicherheitsrisiko. In Einzellieferungen konnten jedoch solche Bestände zurückkommen, die bereits ausgewertet und teilweise mikroverfilmt worden waren. 1950/51 erhielt das Außenministerium auf diesem Weg diverse Haushalts- und Personalakten. Auch das Bundesinnenministerium konnte sich über Aktenkisten freuen, die es zur Umsetzung des „131er“-Gesetzes benötigte, also zur Reintegration von Beamten des NS-Staats. Allerdings wurden die Lieferungen bald eingestellt, obwohl die Alliierten noch im Juli 1951 angekündigt hatten, dass sich die Salamitaktik verstetigen würde. Der Grund: Von einer Handvoll Ausnahmen in Bund und Ländern abgesehen, waren nach dem Rücktritt Heinemanns 1950 alle entlassenen Archivare zurückgekehrt. Die Folgen für die Historiographie zeigten sich, als die erste Publikation des Instituts für Zeitgeschichte, „Hitlers Tischgespräche“, das „Märchen von dem ‚guten‘ Hitler“ perpetuierte, „der von den Taten des ‚bösen‘ Himmler nichts wußte“.4 Im Frühjahr 1952 warnte Alfred Wiener, dessen Jewish Central Information Office (später bekannt als Wiener Library) seit den 1930er-Jahren NS-Verbrechen dokumentierte, dass die bereits restituierten Personalakten mittlerweile große Lücken aufwiesen und womöglich noch mehr Akten beseitigt würden, „if they are not handed over to the right type of people“.5

Wieder wurde die Informationspolitik neu justiert. Pläne, den Mitarbeitern des Instituts für Zeitgeschichte den Zugang zum BDC zu erleichtern, legten die Amerikaner bis auf Weiteres ad acta. Auch für die Rückgabepraxis fand sich eine Alternative, obwohl ihr das State Department und die CIA durchaus offen gegenüberstanden – sofern sensibles Material weiter zurückgehalten werden konnte. Den Ausschlag gab die amerikanische Öffentlichkeit. Kritische Historiker, darunter Emigranten aus Deutschland, konnten durchsetzen, dass die deutschen Akten der Forschung vor Ort 1953 zugänglich gemacht und seit 1956 mikroverfilmt wurden. Zugleich wurde die Rückgabe an Bedingungen geknüpft. Im März 1956 versicherte die Bundesregierung den Alliierten schriftlich, „in- und ausländischen Gelehrten jederzeit Einsicht“ in die Aktenbestände des Außenamts zu gewähren.6 Im Oktober folgte eine ähnliche Garantie für das übrige Schriftgut.

Während die Akten des Außenamts schon 1957 eingesehen werden konnten, kam die Übergabe an das Koblenzer Bundesarchiv erst 1969 zu einem – relativen – Abschluss: Das BDC gab nur „non-biographic material“ zurück und wurde bis 1994 von einem US-Polizisten bewacht. Das Bundesjustizministerium gab an, Personalakten aus dem „Dritten Reich“ noch zu benötigen. Das Centre de Documentation Juive in Paris und das Institute for Jewish Research in New York behielten ihre Akten ebenfalls. Auch die alliierten Regierungen hielten sensibles Material zurück – und zwar nicht nur solches, das ihre eigene Spio-nagetätigkeit oder Kriegswirtschaft betraf, sondern zum Beispiel auch Akten über Waffen-SS-Einsätze an der Ostfront, die im Kontext der Wiederbewaffnung leicht zur kommunistischen Propagandawaffe werden konnten.

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Zentral ist die Frage, wie die genannte Garantie der Bundesregierung von 1956 umgesetzt wurde: Wie begegneten Archive und Ministerien den Anfragen von Historikern und Journalisten? Forderten diese den Aktenzugang überhaupt ein? In welchen Fällen und bei welchen Themen wurde Akteneinsicht gewährt? Wie sind spektakuläre Veröffentlichungen von Dokumenten durch Magazine wie „Der Spiegel“ oder „Quick“ zu deuten? Wie funktionierte die Amtshilfe bei personenbezogenen Daten? Wann gerieten Archiv und Ministerien in Konflikt? Warum war das Bundesarchiv im Jahr 1977 „noch immer provisorisch und keineswegs ansehnlich eingerichtet“?7 Welche Folgen hatte die Rechtsprechung zum Persönlichkeitsrecht („Mephisto-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts von 1971), zur Wissenschaftsfreiheit und nicht zuletzt zum „Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“? Welches waren die „Beispiele für mißbräuchliche Benutzung des Inhalts von Akten durch einseitige und gehässige Auswertung“, von denen Archivare 1977 berichteten?8 Wie wichtig waren Organisationen wie der Internationale Archivtag, der 1968 eine 30-Jahres-Sperrfrist empfahl? Schließlich: Welche messbaren Auswirkungen hatte die Informationspolitik auf die Inhalte, Methoden, Narrative und Schreibstile der Forschung, der Presse und des öffentlichen Diskurses? Wie schlug sich die Informationspolitik in der Archivwissenschaft nieder? Wie konnten Lücken gefüllt und Restriktionen umgangen werden? Von wem und ab wann wurden Barrieren thematisiert oder gar skandalisiert? Die folgenden Hinweise sind bewusst vorsichtig und vorläufig formuliert, da es bislang eher punktuelle Indizien als breiter fundierte Antworten gibt.

Einerseits ist sicher, dass die westdeutsche Zeitgeschichtsschreibung in großem Umfang auf die restituierten Akten zurückgegriffen hat, und auch die Massenmedien bedienten sich ihrer immer wieder. Andererseits wurden personenbezogene Akten sowie Unterlagen zur politisch-rassistischen Repression zunächst selten konsultiert. Nicht nur Albert Nordens „Braunbuch“ basierte auf osteuropäischen Beständen, sondern auch westdeutsche Tätergeschichten avant la lettre: Reinhard Streckers Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ von 1959, Rolf Seeligers Dokumentation „Braune Universität“ ab 1964, Beate Klarsfelds „Geschichte des PG 2633930 Kiesinger“ von 1969. Klarsfeld bedankte sich in ihrem Buch bei freundlichen Archivaren in Washington und Potsdam; Bonn und Koblenz erwähnte sie nicht. Ihren Lesern legte sie ans Herz, sich für jeweils 10 Dollar Mikrofilme in den USA zu bestellen. Dort habe „jeder das Recht“ auf Akteneinsicht.9 Glaubt man Anna Rosmus, gab es für sie im Passauer Stadtarchiv noch 1981 weder Stuhl noch Tisch: „Ein Archiv ist doch nicht zum Benutzen da“, habe man ihr gesagt, „im Archiv legt man Akten ab.“10 Einem breiteren Publikum bekannt wurde Rosmus erst 1990, als Michael Verhoeven die informationspolitischen Konflikte der Amateur-Historikerin in „Das schreckliche Mädchen“ verfilmt hatte.

Zumindest für „Nestbeschmutzer“ wie die Genannten scheint der Aktenzugang nicht immer einfach gewesen zu sein. Neben technischen Verzögerungen, wie sie sich etwa aus der Rekonstruktion alter Provenienz-Zusammenhänge ergaben, spielten dabei politische Schranken eine Rolle. Die Bestände des BDC konnten Wissenschaftler nur auf Empfehlung des Bundesinnenministeriums bzw. des Berliner Innensenats konsultieren. An Privatpersonen wurden generell keine Auskünfte erteilt. Eine Informationspflicht bestand nur westdeutschen und amerikanischen Behörden gegenüber, wovon neben den Geheimdiensten und Staatsanwaltschaften wohl vor allem ehemalige Beamte und Soldaten des NS-Staats profitierten, zu deren Pensionsansprüchen noch 1975 monatlich bis zu 2.000 Anfragen kamen. Aber auch in Koblenz und im Archiv des Auswärtigen Amts wurde Antragstellern, die als „vom Osten ferngesteuert“ erschienen, offenbar „vorsortiertes“ Material übergeben. Andere wurden wegen angeblichen Mangels an Arbeitsplätzen ganz abgewiesen. Umstritten war sogar, ob die Garantie von 1956 auch für Journalisten gelten sollte.

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Verkompliziert wurde der Aktenzugang zweifelsohne durch den Umstand, dass es bis zum Inkrafttreten des Bundesarchivgesetzes 1988 keine feste Rechtsgrundlage gab. In den stattdessen maßgeblichen Benutzungsordnungen erfuhr man nichts von der Existenz einer Garantie, die nur im „Bulletin der Bundesregierung“ publiziert worden war. Eine zivilgesellschaftlich-professionelle Lobby wie in den USA, die diese und andere Intransparenzen kritisiert hätte, fehlte zunächst. Als der sozialdemokratische Hinterbänkler Karl-Heinz Hansen 1976/77 im Bundestag für die Rückgabe und Auswertung der BDC-Akten plädierte, scheint ihm kein Historiker beigesprungen zu sein. Josef Henke zufolge kam „Benutzerdruck“, wenn überhaupt, weniger von der Forschung als von der Strafverfolgung.11 Oder eben von Außenseitern wie Hansen und Intellektuellen wie Rolf Hochhuth: Letzterer brachte 1978 bekanntlich die Filbinger-Affäre ins Rollen – mithilfe von Akten „aus dem Koblenzer Bundesarchiv“, wie er versicherte, und nicht aus Potsdam, wie man ihm zu Unrecht unterstelle. Im BDC sei Filbingers Akte mittlerweile allerdings „unauffindbar“.12

Erklärungsbedürftig bleibt, weshalb das in der Filbinger-Affäre neu erwachte Interesse an NS-Kontinuitäten im Führungspersonal des Bundes und der Länder nur wenig Niederschlag in der Zeitgeschichtsschreibung und in den Geschichtsdebatten der 1980er-Jahre fand. So könnte es sein, dass es für die Konzentration auf die Opfer- und Alltagsperspektive auch informationspolitische Gründe gab. Hatte der Verweis auf das Persönlichkeitsrecht lebender oder unlängst verstorbener Personen von Anfang an dazu gedient, Anfragen abzulehnen, scheint sich diese Praxis seit den 1970er-Jahren noch verschärft zu haben: durch das Bundesdatenschutzgesetz von 1978 und das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, das 1983 ein „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ postulierte (und das man auch in den postdiktatorischen Staaten Südamerikas aufmerksam registrierte).13 Nun wurden sogar Stimmen laut, das BDC sei möglicherweise verfassungswidrig.14

In der öffentlichen Debatte spielte die vergangenheitspolitische Dimension des Datenschutzes keine erkennbare Rolle. Das von Intellektuellen wie Günter Grass formulierte Unbehagen am Fragebogen der Volkszähler, aber auch Götz Alys und Karl Heinz Roths Studie von 1984 zur „restlosen Erfassung“ von Juden und „Erbkranken“ 1933–1945 luden eher zur Identifikation mit den Opfern ein als zum Nachdenken über die Persönlichkeitsrechte von Tätern und Mitläufern; dies war zumindest das dominierende Rezeptionsmuster. Immerhin diskutierten nun auch Zeithistoriker über Datenschutz, und der Historikerverband beklagte, dass Archive, Ämter und Gerichte den Zugang zu „unersetzlichen Daten“ verweigerten, „obwohl bislang kein Fall von Datenmißbrauch“ durch die Zunft bekannt geworden sei.15

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Dass 1987 schließlich mit der Arbeit an einem Bundesarchivgesetz begonnen wurde, nachdem es zuvor jahrelang keine gesetzliche Grundlage gegeben hatte, ist womöglich auch auf die verstärkte Aktivität des Verbands zurückzuführen. Keine Mehrheit fand allerdings ein von der Grünen-Fraktion eingebrachter Passus, wonach die Nutzung von Archivgut aus der Zeit vor dem 8. Mai 1945 einzig und allein bei personenbezogenen Akten, die NS-Opfer betreffen, verweigert werden dürfe; „Funktionsträger der NSDAP/SA/SS“ sowie „Amtsträger in Ausübung ihrer dienstlichen Obliegenheiten“ seien vom Persönlichkeitsrechtsschutz auszunehmen. Das Gesetz legte zwar erstmals einklagbar fest, dass das Archivgut des Bundes nach 30 Jahren allen Bürgern zur Benutzung offen steht und dass Schutzfristen speziell bei „Personen der Zeitgeschichte“ und „Amtsträgern in Ausübung ihres Amtes“ verkürzt werden könnten – letzteres jedoch nur, „wenn die schutzwürdigen Belange des Betroffenen angemessen berücksichtigt werden“.16

Nach der Wiedervereinigung nutzte Helmut Kohl eine ähnliche Konstruktion bekanntlich dazu, Historikern und Journalisten den Zugang zu seiner Stasi-Akte zu erschweren. Allzu viele ehemalige Amtsträger des „Dritten Reichs“ dürften jedoch nicht mehr von der Gesetzeslage profitiert haben. Als die Tätergeschichtsschreibung nun in Fahrt kam, waren die fraglichen Personen überwiegend bereits verstorben oder im Ruhestand – wie die seit 1950 wieder eingestellten Archivare auch. Die größte informationspolitische Herausforderung ist seit einigen Jahren denn auch der Zugang zu bundesdeutschem Schriftgut, das vor mehr als 30 Jahren entstand, aber weiterhin gesperrt bleibt: weil es personenbezogene Akten sind; weil die Sicherheit oder die Außenpolitik des Landes gefährdet sein könnten; weil es sich um Verschlusssachen handelt, die einer Geheimschutzregelung aus dem Jahr 1956 unterliegen.17 Eine zweite Herausforderung betrifft die Einsicht in jüngere Akten, die seit Inkrafttreten des Informationsfreiheitsgesetzes 2006 theoretisch möglich ist, aber aus denselben Gründen verweigert werden kann.18

Ob die Herausforderungen gemeistert werden, ist durchaus offen. Für die Verschlusssachen zeichnet sich zwar eine Lösung ab, doch scheinen insbesondere die Geheimdienste den Zugang selbst zu über 50 Jahre alten Akten jedenfalls für Einzelforscher weiterhin restriktiv zu handhaben. Anfragen auf Einsicht in jüngere Akten gemäß Informationsfreiheitsgesetz werden nicht selten negativ beschieden. In beiden Fällen springt der Unterschied zu den USA ins Auge, wo der Freedom of Information Act von 1966 ohne die Lobby-Arbeit von Historikern (und den Druck der Demokratischen Partei) wohl toter Buchstabe geblieben wäre. Erst seit dem 11. September 2001 ist auch dort eine starke Gegenbewegung zu verzeichnen, ein „Information Lockdown“,19 der viele Errungenschaften der letzten 40 Jahre rückgängig zu machen scheint. Umso mehr bleibt zu hoffen, dass Konflikte um die Nutzung sensibler Akten hierzulande in Zukunft seltener engagierten Einzelpersonen überlassen bleiben als in der alten Bundesrepublik und dass streitbare Historiker und Journalisten die Unterstützung bekommen, die ihre Arbeit verdient.20 Das gilt übrigens auch für die laufenden Auseinandersetzungen um Akteneinsicht und Aktenvernichtung im Verfassungsschutz-Skandal bezüglich der von Rechtsterroristen verübten Morde. Wer nicht so gern Petitionen unterschreibt oder gar selbst den Rechtsweg beschreitet, kann ja den Weg der kritischen Historisierung mitgehen.

Anmerkungen: 

1 Wenn nicht anders ausgewiesen, basiert die folgende Skizze auf den Darstellungen von Astrid M. Eckert, Kampf um die Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von deutschem Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 2004; Heinz Boberach/Hans Booms (Hg.), Aus der Arbeit des Bundesarchivs. Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde und Zeitgeschichte, Boppard 1977; Dieter Krüger, Archiv im Spannungsfeld von Politik, Wissenschaft und öffentlicher Meinung. Geschichte und Überlieferungsprofil des ehemaligen „Berlin Document Center“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 45 (1997), S. 49-74; zur personal- und sicherheitspolitischen Dimension vgl. Dominik Rigoll, Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr, Göttingen 2013.

2 Jeweils zit. nach Hans-Stephan Brather, Aktenvernichtungen durch deutsche Dienststellen beim Zusammenbruch des Faschismus, in: Archivmitteilungen 8 (1958), S. 115ff., hier S. 116.

3 Bergsträsser laut Clemm, 31.12.1949; zit. nach Eckert, Kampf um die Akten (Anm. 1) , S. 151f.

4 So Hannah Arendt, Bei Hitler zu Tisch, in: Der Monat 4 (1951/52) H. 37, S. 85-90, hier S. 86, über Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-42, Bonn 1951.

5 Zit. nach Eckert, Kampf um die Akten (Anm. 1) , S. 195.

6 Zit. nach ebd., S. 433.

7 Siegfried Büttner/Matthias Rest, Bundesarchiv und Bundesverwaltung, in: Boberach/Booms, Aus der Arbeit des Bundesarchivs (Anm. 1), S. 102-124, hier S. 116f.

8 Ebd., S. 121.

9 Beate Klarsfeld, Die Geschichte des PG 2633930 Kiesinger. Dokumentation mit einem Vorwort von Heinrich Böll, Darmstadt 1969, S. 160.

10 Eins zu Eins – Der Talk, Bayerischer Rundfunk, 17.5.2011.

11 Josef Henke, Das Schicksal deutscher zeitgeschichtlicher Quellen in Kriegs- und Nachkriegszeit. Beschlagnahme – Rückführung – Verbleib, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 30 (1982), S. 557-620, hier S. 599.

12 Rolf Hochhuth, „Filbinger-Akten aus der DDR“..., in: Spiegel, 19.6.1978, S. 18.

13 https://www.zensus2011.de/SharedDocs/Downloads/DE/Gesetze/Volkszaehlungsurteil_1983.pdf; siehe auch den Beitrag von Daniel Stahl in diesem Heft.

14 So ein Mainzer Ministerialbeamter in einem Leserbrief: Wolfgang Müller, Auch etwas für den Datenschutz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.1.1984, S. 7.

15 Datenschutzleute, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.9.1986, S. 25; vgl. auch Martin Broszat, Datenschutz und zeitgeschichtliche Forschung. Bericht des Direktors des Instituts für Zeitgeschichte an den Wissenschaftsrat, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 37 (1989), S. 545-561; Jürgen Weber (Bearb.), Datenschutz und Forschungsfreiheit. Die Archivgesetzgebung des Bundes auf dem Prüfstand, München 1986.

16 Deutscher Bundestag, Drucksachen 11/1215 (19.11.1987) und 11/1439 (2.12.1987).

17 Vgl. Josef Foschepoth, Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik, Göttingen 2012, S. 12-18.

18 Vgl. Stephan Lehnstaedt/Bastian Stemmer, Akteneinsicht. Das Informationsfreiheitsgesetz und die Historiker, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 60 (2012), S. 493-512.

19 Thomas James Connors, The Bush Administration and „Information Lockdown“, in: Margaret Procter/Michael Cook/Caroline Williams (Hg.), Political Pressure and the Archival Record, Chicago 2005, S. 195-208.

20 Vgl. Peter Hammerschmidt, Die Geheimakte Klaus Barbie, in: taz, 31.1.2012; Jan Stehle, Das Amt und der Aktenzugang. Meine Bemühungen um Aktenfreigabe beim Auswärtigen Amt im Kontext des Berichts der Historikerkommission sowie der Archivierungspraxis des Auswärtigen Amtes, in: Work in progress. Work on progress. Doktorand_innen-Jahrbuch der Rosa-Luxemburg-Stiftung 1 (2011), S. 119-133; Gaby Weber, Amtsgeheimnis oder Informationsfreiheit, NDR, 6.1.2011.

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