Die Geschichte hinter dem Foto

Authentizität, Ikonisierung und Überschreibung eines Bildes aus dem Vietnamkrieg

Anmerkungen

Eine fotografische Ikone des 20. Jahrhunderts: Das Foto Nick Uts vom 8. Juni 1972

Eine fotografische Ikone des 20. Jahrhunderts: Das Foto Nick Uts vom 8. Juni 1972, wie es bereits am folgenden Tag auf der Titelseite der „New York Times“ erschien und 1973 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde.
(Foto: Associated Press/Nick Ut)

 

Bei vielen Menschen hat sich das Bild des nackten Mädchens Kim Phúc dauerhaft in ihr visuelles Gedächtnis eingebrannt. Gisèle Freund prophezeite 1979, das Foto werde „für immer im Gedächtnis jener bleiben, die es gesehen haben“.1 Für Phillip Knightley ist das Bild des auch als „napalm girl“ bezeichneten Mädchens „one of the most iconic war images of all time“.2 Ein vom Department für Journalismus der New Yorker Universität zusammengestelltes Expertenteam setzte das Foto auf Platz 41 der 100 besten journalistischen amerikanischen Arbeiten des 20. Jahrhunderts.3 Auch der Fotograf selbst empfand das Bild als herausragend: „That photo showed the world what the war in Viet Nam was about. People, regardless in their nationality or language, could understand and relate to the tragedy. [...] The picture for me and for many others could not have been more real. It was as authentic as the war itself.“4

Bilder spiegeln Geschichte nicht nur einfach wider. Vielmehr vermögen sie diese als Bildakt selbst zu prägen. Sie sind gleichermaßen Zeugnis und Urteil, und es wohnt ihnen ein bemerkenswerter Eigensinn inne.5 In besonderem Maße trifft dies für die Fotografie des Mädchens Kim Phúc zu, die als authentisches Dokument des Vietnamkriegs millionenfach reproduziert und damit zur Ikone wurde. Als solche führt sie im kollektiven Gedächtnis ein eigenes Leben und hat eine eigene Wirklichkeit generiert, die mit der ursprünglich abgebildeten nur mehr wenig gemein hat. Immer wieder ist das Bild für die unterschiedlichsten politischen, kommerziellen und religiösen Zwecke funktionalisiert und in neue Kontexte gestellt worden.

Die umfangreiche Literatur zu der Fotografie erlaubt es, an ihr exemplarisch das Verhältnis von Geschichte und Bildgeschichte zu studieren, den Prozess der Ikonisierung eines Bildes zu analysieren und damit den Prozess der Überzeichnung und Überschreibung der ursprünglichen Bilder zu ergründen, der jedem großen Krieg folgt. Die Untersuchung der Produktionszusammenhänge und der Rezeptionsgeschichte liefert zugleich Einblicke in die Bedeutung und Funktion der Medien im modernen Krieg, und sie macht beispielhaft deutlich, wie kulturelles Erinnern in der globalen Medienöffentlichkeit funktioniert.

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1. Der politische und mediale Produktionskontext des Fotos

Das Bild des Mädchens Kim Phúc zeigt einen kurzen Moment in der Geschichte des Vietnamkrieges. Es entstand in einer Phase, in der die „Vietnamisierung“ des Krieges und damit der Abzug der US-Truppen aus Vietnam bereits in vollem Gange war. Zum Jahresende 1971 war die Zahl der in Südvietnam stationierten amerikanischen Soldaten auf 157.000 zurückgegangen (gegenüber 334.000 im Jahr 1970). Während die US-Airforce weiterhin massive Angriffe auf Stellungen und Städte in Nordvietnam flog, hatte sie in Südvietnam vorwiegend defensive Aufgaben übernommen. Im März 1973 schließlich verließen alle US-Kampftruppen das Land.6

Anders als in der Frühphase des Krieges und während der Tet-Offensive des Jahres 1968 waren spektakuläre Bilder von den verbliebenen Kriegsschauplätzen für die noch in Vietnam tätigen Fotoreporter und Kameramänner kaum mehr zu bekommen. Umso mehr wurden seit der Osteroffensive des Vietcong von 1972 selbst kleinste Scharmützel zwischen Vietcong-Einheiten bzw. nordvietnamesischen Einheiten und Truppen der südvietnamesischen Armee genutzt, um den Bilderhunger der Agenturen zu bedienen. Nachdem im Saigoner Büro der Nachrichtenagentur Associated Press die Meldung eingetroffen war, dass sich im Dorf Trang Bang (25 Kilometer nordwestlich von Saigon) nordvietnamesische Soldaten verschanzt haben sollten und die wichtigste Verbindungsstraße zwischen Saigon und Hanoi kontrollierten, machte sich am frühen Morgen des 8. Juni 1972 der junge AP-Fotoreporter Nick Ut auf den Weg.7

Huynh Cong - genannt Nick - Ut stammte aus dem südlichen Mekong-Delta.8 Obwohl er gerade einmal 21 Jahre alt war, arbeitete er bereits seit sechs Jahren für AP. Zunächst hatte er im Labor der von Horst Faas geleiteten Agentur in Saigon mitgearbeitet, 1967 aber wie sein älterer, im Vietnamkrieg getöteter Bruder eine Stelle als Fotoreporter erhalten. Nach der Kapitulation des Südens und dem vollständigen Abzug der USA ging Ut 1975 nach Tokio, später dann in die USA, wo er weiterhin für AP arbeitete. 1993 eröffnete er das neue AP-Büro in Hanoi. Im Jahr 2000 besuchte er erstmals wieder das Dorf Trang Bang, wo die Verwandten von Kim Phúc bis heute leben.9

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Ut fotografierte mit einer deutschen Leica M2 aus dem Jahr 1965, wie sie von AP-Reportern damals üblicherweise benutzt wurde. In der Regel benutzte er einen Schwarzweißfilm von Kodak mit einer Lichtempfindlichkeit von 400 ASA. Ut lud seine Kamera, eine schusssichere Weste und seinen Stahlhelm in einen Kleinbus, der von einem vietnamesischen Fahrer gesteuert wurde. Er selbst trug eine militärähnliche Uniform mit der Aufschrift „Bao Chi“ (Presse), seinem Namen sowie dem Schriftzug der Presseagentur Associated Press.

Gegen 7.30 Uhr erreichte Ut mit seinem Fahrer auf der Nationalstraße Nr. 1 die Außenbezirke von Trang Bang, wo der Verkehr zum Erliegen gekommen war und sich ein Stau gebildet hatte.10 Etwa eine Meile weiter kontrollierten nordvietnamesische Truppen einen Abschnitt der Straße. Soldaten der 25. Division der südvietnamesischen Armee hatten daraufhin Trang Bang umstellt und begonnen, das Dorf nach gegnerischen Kräften zu durchkämmen, ohne indes fündig zu werden. Aus Angst vor Kampfhandlungen hatten etliche Dorfbewohner ihre Häuser verlassen. Sie kochten und schliefen außerhalb des Ortes und hofften, nach Beendigung der Kämpfe zurückkehren zu können. Ut fotografierte die Menschen auf den Feldern sowie die südvietnamesischen Soldaten und begab sich dann zurück zu der Fahrzeugkolonne.11

Unter den Wartenden, die sich „wie das Publikum auf einem großen Jahrmarkt“ verhalten haben sollen,12 befanden sich etliche Korrespondenten und Bildreporter wie David Burnett von „Time Magazine“, der südvietnamesische Freelance-Fotograf Hoang Van Danh, der AP-Reporter Peter Arnett, Fox Butterfield von der „New York Times“, der NBC-Kameramann Le Phuc Dinh, ITN-Reporter Christopher Wain sowie ein Fernsehteam der BBC. Auf einer UPI-Fotografie sind in der ersten Reihe zwölf Reporter zu erkennen, die den Einschlag weißer Phosphor- und Napalm-Bomben in Trang Bang fotografieren bzw. beobachten. In einigen hundert Metern Entfernung verfolgen weitere Korrespondenten das Geschehen, wie dem NBC-Film kurz zu entnehmen ist.

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Gegen Mittag bat der Kommandeur der südvietnamesischen Truppen um zusätzliche Unterstützung der südvietnamesischen Luftwaffe. Ein Soldat markierte daraufhin das Ziel des Luftschlags mit einer gelben Rauchgranate. Um etwa 13 Uhr erreichte das erste Flugzeug einer südvietnamesischen Luftwaffeneinheit den Luftraum über Trang Bang und warf eine Bombe ab. Weitere vier Napalmbomben-Kanister schlugen am Rande des Dorfes und auf der Straße ein, auf der sich neben südvietnamesischen Soldaten noch einige Dorfbewohner befanden. Zusätzlich wurde Trang Bang mit schwerem MG-Feuer belegt, ohne dass sich aus dem Dorf selbst Widerstand regte. Bei dem „friendly fire“ wurden auch etliche südvietnamesische Soldaten verletzt. Insgesamt waren zwei Propellermaschinen an dem von einem südvietnamesischen Offizier befehligten Luftschlag beteiligt, den NBC-Kameramann Le Phuc Dinh auf einem 16mm-Tonfilmstreifen festhielt.13 Schon früh berichteten Nachrichtenagenturen und Reporter wie Peter Arnett und Fox Butterfield, dass ausschließlich Vietnamesen in den Vorfall verwickelt gewesen seien. Die einzigen Fremden am Ort des Geschehens seien ausländische Reporter gewesen.

Das Bild eines unbekannten Fotografen zeigt die erste Reihe von 12 Reportern, die den Luftangriff auf Trang Bang am 8. Juni 1972 fotografieren

Das Bild eines unbekannten Fotografen zeigt die erste Reihe von 12 Reportern, die den Luftangriff auf Trang Bang am 8. Juni 1972 fotografieren. In den nächsten Sekunden gerät ihnen die Gruppe um Kim Phúc in den Blick der Objektive.
(Foto: Bettmann/CORBIS)

 

Nachdem die Flugzeuge abgedreht hatten und sich die Rauchschwaden aufzulösen begannen, kamen die ersten verängstigten Anwohner sowie einige ebenfalls von dem Angriff überraschte südvietnamesische Soldaten aus Richtung Trang Bang auf die vor dem Dorf wartenden Journalisten und Soldaten zu, unter ihnen das neunjährige Mädchen Kim Phúc, ihre Geschwister sowie ihre Großmutter mit dem sterbenden Enkelsohn im Arm. Eine Gruppe von Journalisten war den Fliehenden bereits entgegengegangen, ohne aber helfend einzugreifen - so auch Nick Ut, auf den die Kinder frontal zuliefen. Einige Reporter wechselten ihre Filme; andere erwarteten die Gruppe angesichts der enormen Hitze aus etwas größerer Entfernung. Dabei fokussierte sich der Blick der Kameras schnell auf die nackte Kim Phúc, während ihre Großmutter mit dem verbrannten Baby im Arm sowie die Soldaten im Hintergrund kaum Interesse auf sich zogen. In einem späteren Interview schilderte Nick Ut die Szene so: „When we [the reporters] moved closer to the village we saw the first people running. I thought ‚Oh my God’ when I suddenly saw a woman with her leg badly burned by napalm. Then came a woman carrying a baby, who died, then another woman carrying a small child with its skin coming off. When I took a picture of them I heared a child screaming and saw that young girl who pulled off all her burning clothes. She yelled to her brother on her left.“14 Die wartenden Fotografen wussten, so die chinesische Autorin Denise Chong, „dass sie das Bild des Tages vor sich hatten. Sie schossen ein Foto nach dem anderen, bis sie keinen Film mehr in den Kameras hatten. Sie stellten sich schon vor, wie sie das Bild aussuchen würden, das Leben und Tod voneinander trennte. Die Lebenden vermitteln die Schrecken des Krieges besser; die Gesichter der Toten sprechen nicht mehr.“15 Erst nachdem die Kameraleute und Fotografen ihre Bilder gemacht und ihre Filme verschossen hatten, kümmerte man sich um die Kinder. Deren Perspektive auf die Gruppe der vor dem Dorf wartenden und das Geschehen beobachtenden Reporter hatte diametral anders ausgesehen. Sie dürften die Journalisten in ihren Kampfanzügen und mit den langen Objektiven, die aus der Ferne wie Gewehrläufe aussahen, für Soldaten gehalten haben.16

2. Die Fotografie als historisches Referenzbild

Interessanterweise ist nicht die Filmsequenz des NBC-Kameramannes Le Phuc Dinh, sondern das stille Bild des Fotografen Nick Ut ins kollektive Bildgedächtnis eingegangen, womit sich die Vermutung Susan Sontags zu bestätigen scheint, dass es weniger die flüchtigen Bilder des Films und des Fernsehens sind, die sich einprägen und das Gewissen mobilisieren, sondern eher die stillen Aufnahmen der Fotografie.17 Das Bild der kleinen Kim Phúc lässt sich als „historisches Referenzbild“ kennzeichnen. Unter diesem Begriff werden diejenigen Bilder subsumiert, „die sich als Symbole für einen historischen Ereigniszusammenhang etabliert haben“. Es sind gleichsam Schlüsselbilder, „mit deren Wiedererkennen bestimmte Erinnerungsinhalte aktualisiert werden“.18 Für den Kunsthistoriker Martin Hellmold reiht sich die hier beschriebene Fotografie in die Gruppe jener Ereignisbilder des Krieges ein, die Menschen im Augenblick einer existenziellen Bedrohung zeigen und damit eine Schockwirkung bei den Betrachtern auslösen - wie Francisco de Goyas Gemälde der Exekution der Aufständischen gegen die französische Besetzung Spaniens von 1814, Robert Capas Inszenierung der Erschießung eines republikanischen Milizionärs 1936 in Spanien oder Eddie Adams’ Fotografie der Hinrichtung eines Vietcong auf offener Straße 1968 in Saigon. Solche Bilder scheinen den Krieg wie in einem „Schnappschuss“ auf seinen wesentlichen Kern zu verdichten - fernab jeder Entdramatisierung und Ästhetisierung. Aus kunsthistorischer Sicht verfügen die genannten Bilder über einige gemeinsame ästhetische Merkmale, die sie erst befähigten, zu Ikonen des modernen Krieges zu avancieren: die Suggestion von Authentizität, die zeitliche Verdichtung der Handlung, die Dominanz einer Gebärdefigur im Bildzentrum, die Evozierung einer synästhetischen Wahrnehmung sowie die Erzeugung eines imaginären Bildraumes im Off.19

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Was bedeutet dies für die Wirkungspotenziale von Uts Fotografie? Zunächst können formale Elemente wie das Anschneiden von Personen als Hinweise auf eine flüchtige, spontane Bildentstehung gedeutet werden. Sie vermitteln den Anschein einer sichtbaren Authentizität. In unserem Falle ist dies der Junge am linken und unteren Bildrand, der im nächsten Augenblick dem Sichtfeld der Kamera zu entschwinden droht; sein rechter Arm und beide Unterschenkel sind angeschnitten. In dem Bild scheint somit eine authentische Situation dokumentiert, die im Unterschied zu zahlreichen anderen Kriegsbildern nicht im Verdacht der Inszenierung steht.

Ihre Wirkung entfaltet die Aufnahme darüber hinaus vor allem durch ihre narrative und zeitlich verdichtende Struktur. Es wird nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern mehrere Phasen einer Handlung werden bildlich zu einem Augenblick zusammengeführt. Die Fotografie bringt gleichsam einen Zeitablauf zur Abbildung. Die flüchtenden Kinder erscheinen diagonal im Bildraum gestaffelt. Ihre Positionen zeigen drei Phasen des Vorbeilaufens, wodurch der Raum zeitlich gegliedert ist. Die Kinder kommen dem Betrachter im doppelten Sinne entgegen: Sie laufen auf den Betrachter zu und wirken durch ihre Fluchtbewegung von rechts hinten nach links vorne gleichzeitig der traditionellen Leserichtung entgegen, wodurch zusätzliche Aufmerksamkeit erzeugt wird. Durch die Abbildung eines furchtbaren Augenblicks, der sich im Weinen und Schreien der Kinder offenbart, wird der Handlungsablauf zeitlich verdichtet. Bei der Fotografie handelt es sich zugleich um ein narratives Bild. Der aufsteigende Rauch im Bildhintergrund zeigt dabei Ursache und Ausgangspunkt der Flucht. Der Standpunkt des Betrachters mag als Endpunkt der Fluchtbewegung gedeutet werden. Indem die Kinder fast frontal auf den Betrachter zulaufen, wird dieser zur Stellungnahme gezwungen. Die Funktion der Soldaten, die sich zwischen den Kindern und der Rauchwolke befinden, bleibt unklar. Dass auch sie Opfer sind, ist dem Betrachter nicht präsent. Sie fungieren vielmehr allgemein als konträre, den Krieg verkörpernde Zeichen, können fälschlich aber auch als Verantwortliche der abgebildeten Situation gedeutet werden.

Die emotionale Ansprache des Betrachters wird zudem durch die Konzentration wesentlicher Bildaussagen in einer so genannten Gebärdefigur erzielt. Darunter versteht die Kunstgeschichte eine einzelne Person oder eine Personengruppe, deren gesamte Gebärde - Körperhaltung, Gestik und Mimik - von einem Affekt geprägt ist und ein existenzielles Gefühl zum Ausdruck bringt. Dabei scheint sich der ganze Körper der Person dem Betrachter mitzuteilen. In unserem Beispiel wurde dieses Bildmuster - wie noch zu zeigen ist - erst nachträglich durch Beschneidung des rechten Bilddrittels hergestellt. Der gesamte Körper der kleinen Kim Phúc scheint sich dem Affekt unterzuordnen. Die Gebärden der Kinder können als spontane Körpersprache im Moment ihrer physischen und psychischen Überwältigung wahrgenommen werden. Sie teilen dem Betrachter mit, dass diese Körper nicht länger einer bewussten Steuerung unterliegen, sondern nur mehr als Objekt des Affekts reagieren. Durch die Fokussierung auf das (namentlich identifizierbare) Opfer, verstärkt durch die Nacktheit des Mädchens, appelliert das Bild an das Gefühl des Betrachters, an seine Fähigkeit zur Teilnahme und Empathie. Die Gebärdefigur liegt kompositorisch exakt im Bildmittelpunkt. Die Augen Kim Phúcs und die Köpfe der größeren Kinder befinden sich exakt auf der Horizontlinie, die den Bewegungsraum der Figuren vom rauchgeschwärzten Himmel im Hintergrund trennt. Vertikal gliedert sich das Bild in drei Streifen von gleicher Breite, die durch drei Figurengruppen ausgefüllt werden, wodurch jedem Kind im Vordergrund eine Assistenzfigur im Hintergrund zugeordnet erscheint.

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Das Bild evoziert schließlich eine synästhetische Wahrnehmung. Darunter wird das Hervorrufen eines bestimmten Sinneseindrucks durch die Reizung eines anderen Sinnesorgans verstanden. Hier erzeugt die visuelle Gebärdefigur die akustische Imagination von Schreien und Hilferufen. Zwar hört der Betrachter die Schreie der Kinder nicht, vermag sich diese aber konkret vorzustellen, wodurch er zusätzlich in das Bildereignis involviert wird. Mit dem Rauch im Hintergrund werden weitere Lärmgeräusche wie der Krach von Explosionen und loderndem Feuer beim Betrachter hervorgerufen. Zugleich schafft der Rauch einen imaginären Bildraum außerhalb des Bildes selbst; er suggeriert die Existenz eines Bombenflugzeuges bzw. allgemein einer größeren Gefahr.

Lassen sich zur Wirkung des Bildes auf Menschen in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen auch kaum differenzierte Aussagen treffen, so kann seine Hauptwirkung auf die Betrachtenden doch darin gesehen werden, dass diese regelrecht in das Geschehen involviert werden. Die Eindringlichkeit der Gebärdefigur, ihre appellative Ausrichtung zu den Betrachtenden hin, die kompositorische Struktur des Bildes, die Evokation einer synästhetischen Wahrnehmung, die Erzeugung eines imaginären Bildraumes außerhalb des Bildes - all dies sind Bildmittel, die die Betrachter gleichsam in das Bildgeschehen hineinziehen. Damit reiht sich Uts Foto in eine Tradition der modernen Kriegsfotografie ein, die versucht, die räumliche Kluft zwischen Front und Heimat zu überbrücken und das Publikum zuhause visuell und/oder virtuell an den Ereignissen am Kampfgeschehen teilhaben zu lassen.20 Politisch bleibt die Wirkung einer solchen Schein-Teilhabe indes ambivalent. Einerseits kann auf diese Weise zwar eine Entfremdung zwischen Militär und Gesellschaft vermieden werden, andererseits aber werden die produzierten Bilder dem privat-familiären Diskurs mit seinen gänzlich anderen moralischen Bewertungsmaßstäben unterworfen. Dies dürfte auch im Falle des Bildes der kleinen Kim Phúc geschehen sein, wobei die Betrachter der konkrete militärisch-politische Kontext der abgebildeten Situation kaum interessiert haben dürfte, sondern die Fotografie vermutlich ganz allgemein und von der Situation unabhängig als Synonym für den Schrecken des Krieges und der Gewalt gedeutet worden ist.

Ikonographisch ist der Blick der Betrachter auf das Foto der kleinen Kim Phúc nicht voraussetzungslos, sondern besitzt Vorbilder in der Malerei und der Fotografie, was die Bildwirkung zusätzlich verstärkt haben dürfte. Die Fotografie knüpft an Edvard Munchs bekanntes Gemälde „Der Schrei“ von 1893 an.21 Kaum ein anderes Bild der Kunstgeschichte hat das Phänomen der Angst als eines existenziellen menschlichen Zustandes so unmittelbar zum Ausdruck gebracht wie dieses Gemälde. Auch hier kommt ein völlig verängstigter, schreiender, Hilfe suchender Mensch mit weit geöffnetem Mund in fast identischer Laufrichtung direkt auf den Betrachter zu. Wie wir aus der Kunstgeschichte wissen, haben aktuelle Bilder eine größere Aufmerksamkeitschance, wenn sie an solche Vor-Bilder anzuknüpfen vermögen.

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Fotografiegeschichtlich zählt die Aufnahme Nick Uts, wie der Kunsthistoriker Peter Burke hervorgehoben hat, zu jenen Bildern des 20. Jahrhunderts, mit denen sich ein neuer Blick auf den Krieg „von unten“ verbindet.22 Unter den Bildern des Vietnamkrieges reiht sie sich ein in die Gruppe der (Täter-)Opfer-Aufnahmen von Fotografen wie Eddie Adams, Kyiochi Sawada und Ronald Haeberle, die den Vietnamkrieg insgesamt charakterisieren und ihm seine spezifische ästhetische Kennung gegeben haben.23

3. Publikations- und Rezeptionsgeschichte

Wenige Sekunden nach dem Foto von Nick Ut entstand diese Aufnahme

Wenige Sekunden nach dem Foto von Nick Ut entstand diese Aufnahme, auf der sich Kim Phúc bereits beruhigt hat. Die Kinder erscheinen hier regelrecht als Getriebene der Medien. Vermutlich handelt es sich um ein Standbild aus dem Filmstreifen des NBC-Kameramannes Le Phuc Dinh. Das Bild wird von der Agentur Corbis vertrieben, allerdings ohne präzisen Hinweis auf den Fotografen.
(Foto: Bettmann/CORBIS)

 

Ikonographische und kunsthistorische Betrachtungsweisen vermitteln zwar wichtige Hinweise zum Wirkungspotenzial des Bildes. Über die genauen Produktions- und Rezeptionszusammenhänge aber verraten sie nichts oder verbreiten hierüber selbst wiederum nur Fehlinformationen und Spekulationen.24 Anders als gemeinhin vermutet wird und das Bild selbst suggeriert, ist dessen Wirkung nicht Ausdruck eines spontanen und zufälligen Prozesses, sondern Resultat eines medial bewusst herbeigeführten „Framings“. Als Frames werden Interpretationsmuster verstanden, die helfen, „neue Ereignisse und Informationen sinnvoll einzuordnen und effizient zu bearbeiten“. Sie strukturieren die Beurteilung von Sachverhalten, „indem sie bestimmte Aspekte in den Vordergrund rücken und andere vernachlässigen. Dadurch werden bestimmte Entscheidungen und Bewertungen nahegelegt.“25 Am Beispiel der hier vorgestellten Fotografie lassen sich verschiedene Schritte dieses Framing-Prozesses rekonstruieren: die Auswahl des Bildes und ein damit verbundener gezielter Tabubruch in der bisherigen Ikonographie des Krieges, die Beschneidung des Bildes am rechten Rand sowie eine zusätzliche Bedeutungs-aufladung durch beständiges Zitieren des Motivs.

Aus der großen Zahl der Aufnahmen, die Nick Ut in Trang Bang gemacht hatte, wählte man noch am selben Tag am Leuchttisch im Saigoner AP-Büro das Foto Nr. 7a mit der weinenden und nackten Kim Phúc aus. Dabei handelte es sich um ein typisches Opferbild des Krieges. Nicht zur Veröffentlichung geeignet erschienen diejenigen Bilder, die nur wenige Sekunden später entstanden waren und ein bezeichnendes Licht auf die Rolle der Medien im modernen Krieg werfen. Sie zeigen Kim Phúc, die sich in der Zwischenzeit beruhigt hatte, sowie zwei Fotografen und zwei weitere Kameramänner (zum Teil in ziviler Kleidung, zum Teil in militärischer Uniform), von denen allerdings wie auf dem ausgewählten Bild niemand irgendwelche Anstalten machte, den Kindern zu Hilfe zu kommen. Diese erscheinen eher als Getriebene der Medien denn als Opfer des Kriegsschreckens im Bildhintergrund. Berücksichtigt man, dass eine ganze Reihe weiterer Fotografen und Kameramänner wie auch Nick Ut nicht zu sehen sind, weil diese die Situation nutzen wollten, um die Kinder frontal ins Bild zu bekommen, wird der Eindruck noch verstärkt, dass die Kinder zwischen die Fronten der Medien geraten sind. Auf der NBC-Filmsequenz ist kurz eine Gruppe von etwa zwölf Bildreportern zu sehen, die sich wie eine lebende Barriere noch im Rücken von Nick Ut formiert haben, um das Geschehen festzuhalten. Erst später eilten Soldaten und Journalisten den Kindern zu Hilfe und reichten dabei auch der kleinen Kim einen Umhang und Wasser. Anders als Nick Ut später immer wieder behauptete, bilden gerade diese Aufnahmen weniger „den Krieg an sich“ ab als vielmehr das Verhalten der Medienvertreter gegenüber den Opfern.

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Nur selten sind diese Fotos gezeigt worden. So wurde im „stern“-Buch „Bilder vom Krieg“ ein Ausschnitt aus der Aufnahme publiziert, in der die Kinder regelrecht als Opfer der Medien erscheinen. Die entsprechende Bildlegende lautet knapp: „Trang Bang 1972: Die Allgegenwart der Massenmedien im Vietnamkrieg“.26 Fälschlicherweise ordneten die Autoren die Aufnahme allerdings dem französischen Fotografen Henry Huet zu, der bereits im Dezember 1971 in Laos ums Leben gekommen war. Möglicherweise handelt es sich bei dieser Aufnahme um ein Standbild aus dem 16mm-Streifen von NBC.27 Tatsache ist, dass das Bild heute von der Bildagentur Corbis in drei Varianten unter dem Titel „Children Fleeing from Napalm“ bzw. „Children Flee From Their Homes“ vertrieben wird, dabei zweimal ohne Hinweis auf den Bildproduzenten und einmal mit der Angabe „Nick Ut“ als Fotograf.

Verbunden mit der Auswahl des später um die Welt gehenden Bildes war ein kalkulierter Tabubruch, wie Horst Faas im Rückblick berichtete: „Nick and Ishizaki prepared a selection of eight 5x7 inch prints for the next ‚radio photo cast‘ at 5 PM - but an editor at AP rejected the photo of Kim Phuc running down the road without clothing because it showed frontal nudity. Pictures of nudes of all ages and sexes, and especially frontal views were an absolute nono at the Associated Press in 1972. While the argument went on in the AP bureau, writer Peter Arnett and Horst Faas [...] came back from an assignment. Horst argued by telex with the New York headoffice that an exception must be made, with the compromise that no close-up of the girl Kim Phuc alone would be transmitted. The New Yorker photo editor, Hal Buell, agreed that the news value of the photograph overrode any reservations about nudity.“28 Da man Schatten auf dem Körper Kim Phúcs als Schamhaare hätte deuten können, wurde der Abzug laut Denise Chong auf Bitte von Faas leicht retuschiert und damit entschärft.29

Für die geplante Veröffentlichung ließ man das Foto Nr. 7a zusätzlich beschneiden. Das gesamte rechte Drittel des ursprünglichen Bildes, das am Straßenrand weitere Fotografen in militärischer Uniform zeigt, von denen einer gerade den Film seiner Kamera wechselt, aber keiner bereit ist, den verängstigten und weinenden Kindern zu helfen, fiel der Schere zum Opfer. Auch dieses nur selten publizierte unbeschnittene Bild30 hätte einen kritischen Hinweis auf das Verhalten der Medienvertreter geliefert und erschien für eine aktuelle Veröffentlichung demnach wenig geeignet. Mit der Fokussierung auf das nackte Mädchen und ihr schmerzverzerrtes Gesicht bedienten die Beteiligten gleichsam anthropologische Bedürfnisse des Publikums nach Bildern leidender und nackter Körper. Folgt man Susan Sontag, so ist „der Appetit auf Bilder, die Schmerzen leidende Leiber zeigen, fast so stark wie das Verlangen nach Bildern, auf denen nackte Leiber zu sehen sind“.31 Das ausgewählte Bild vereinte effektvoll beide Sujets. Nach der Auswahlentscheidung, der Festlegung des Bildausschnitts und dem Retuschieren des Abzuges wurde das Foto auf elektronischem Wege Zeile für Zeile zunächst nach Tokio und von dort weiter nach New York und London übermittelt, von wo aus das Bild an AP-Büros und Zeitungsredaktionen in aller Welt ging.

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Das ursprüngliche Foto Nr. 7a aus dem Kontaktstreifen

Das ursprüngliche Foto Nr. 7a aus dem Kontaktstreifen des Fotografen Nick Ut vom 8.6.1972

 

Erstmals publiziert wurde die beschnittene Momentaufnahme bereits am folgenden Tag, dem 9. Juni 1972, auf der Titelseite der „New York Times“ zu einem Bericht von Fox Butterfield. In seinem Artikel „South Vietnamese Drop Napalm on Own Troops“ heißt es einleitend: „Standing in the company command post here today, Sgt. Nguyen Van Hai watched ingredulously as a South Vietnamese plane mistakenly dropped flaming napal, right on his troops and a cluster of civilians. In an instant five women and children and half a dozen South Vietnamese soldiers were badly burned, their skin peeling off in huge pink and black chunks.“ Andere Zeitungen wie die Pazifik-Ausgabe von „Stars and Stripes“ (10. Juni 1972) platzierten Uts Foto neben einer Aufnahme der einschlagenden Napalmbombe und unter der Überschrift „A Misplaced Bomb... And a Breath of Hell“ zu einem Artikel von Peter Arnett. Obwohl das Bild in den begleitenden Texten in den richtigen historischen Kontext gerückt und das Mädchen Kim Phúc als Opfer eines „friendly fire“ dargestellt wurde, verblasste schon bald die Erinnerung an diese Zusammenhänge. Das Bild erwies sich als stärker und verdrängte mit zunehmendem zeitlichem Abstand die konkreten historischen Zusammenhänge.

Die große Resonanz, die das Foto vor allem in den USA fand, lag unter anderem darin begründet, dass es die konträren Lager gleichermaßen bediente: Die Befürworter eines weiteren Militärengagements in Vietnam konnten sich mit dem Bild identifizieren, da sie es als Beleg ihrer Kritik der „Vietnamisierung“ des Krieges deuten konnten - Südvietnam sei gar nicht in der Lage, den Krieg erfolgreich zu Ende zu führen. Die Kriegsgegner und Pazifisten wiederum bestätigte die Fotografie in ihrer generell ablehnenden Haltung gegenüber dem Krieg in Vietnam und dem Krieg im Allgemeinen.

Eine zusätzliche Bedeutungsaufladung erfuhr die Fotografie schon 1972 durch ihre Verwendung im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf gegen Richard Nixon sowie durch die Tatsache, dass „Life“ sie in der letzten Ausgabe vom 29. Dezember 1972 als eines der denkwürdigsten Bilder dieses ereignisreichen Jahres noch einmal abdruckte. Um den emotionalen Eindruck zu dämpfen, hatte die Redaktion neben das Foto der nackten Kim Phúc ein Porträt des nun wieder lächelnden Mädchens gestellt und über den Genesungsprozess des Kindes berichtet. Den vorläufigen Höhepunkt der Rezeptionsgeschichte bildete 1973 schließlich die Verleihung des Pulitzer-Preises an Nick Ut für sein beschnittenes Bild aus Trang Bang.32 Weitere Preise wie der World Press Photo Award, der George Polk Memorial Award sowie der Award der Associated Press Managing Editors folgten.

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Von den insgesamt acht Kodak-Rollen mit mehr als 240 Aufnahmen, die Ut am 8. Juni 1972 verschossen hatte, sind ganze 31 Negative erhalten geblieben. Der Rest ging vermutlich noch in Saigon verloren. 12 Negative werden heute in einem Safe von AP unter dem Titel „Kim Phuc incident“ archiviert, darunter jenes Bild, für das Ut den Pulitzer-Preis erhielt. Da es im oberen Bildteil einen größeren Kratzer aufwies, wurde es digital rekonstruiert. Abzüge für Presseveröffentlichungen werden nur mehr von diesem digital bearbeiteten Bild angefertigt. Weitere 19 Negative befinden sich im Privatarchiv des Fotografen.

4. Legendenbildung und Mythologisierung

Jedem großen Krieg des 20. Jahrhunderts folgte ein Kampf um die visuelle Erinnerung, in dem die zeitgenössischen Bilder umgedeutet, mit neuen Narrativen überschrieben und zum Teil in völlig neue Zusammenhänge gestellt wurden.33 Angesichts des Vietnamtraumas kam diesem Deutungskampf in den USA - ähnlich wie in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg - eine besondere Bedeutung zu. Aber auch in Europa wurden die Bilder aus Vietnam beständig neu verwendet und interpretiert. Eine weitere Verengung des Bildausschnitts auf die nackte Kim Phúc sowie eine Herauslösung des Bildes aus seinem Entstehungszusammenhang öffneten Fehldeutungen Tür und Tor. Sie begründeten die weitere Karriere des Bildes als überzeitlicher fotografischer Ikone für Krieg und Gewalt bzw. als eines weltweiten Symbols der Anti-Kriegs-Bewegung.

Nach 1972 wurde das Bild oftmals ganz ohne erläuternden Text publiziert. Vor allem auf den Coverseiten von Büchern erschien es nun als reduziertes Symbol des schmutzigen Vietnamkrieges. Zwei Beispiele - beide aus dem Jahr 1999 - mögen dies belegen. Denise Chongs sehr erfolgreiches Buch „The Girl in the Picture: The Story of Kim Phuc, the Photograph, and the Vietnam War“ fokussierte in einem Teil seiner Auflage ganz auf das Bild des nackten Mädchens und blendete alle anderen Personen durch Beschnitt aus. Kim Phúc schien sich hier regelrecht vor den Soldaten im Bildhintergrund auf der Flucht zu befinden. In Kombination mit dem Untertitel des Buches lautete das neue Narrativ: Im schmutzigen Vietnamkrieg haben Soldaten selbst vor wehrlosen Kindern nicht Halt gemacht. Eine ähnliche Aussage legte das Cover des 1999 in der Reihe „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ des Frankfurter Zambon-Verlages erschienenen Bandes „Abels Gesichter. Vietnam - Bilder eines Krieges“ nahe. Aus Gründen des Layouts sowie in dramatisierender Absicht wurde die über das gesamte Cover laufende, gelb-grünlich eingefärbte Fotografie zunächst gespiegelt. Die das Mädchen begleitenden Kinder wurden angeschnitten, und die nackte Kim Phúc wurde durch einen weißen Rahmen zusätzlich herausgestellt. Kein Wunder war es dann, dass Susan Sontag in ihrem viel beachteten Essay „Das Leiden anderer betrachten“ die Aufnahme Nick Uts zum authentischen Bild schlechthin und zum „Inbegriff der Schrecken des Vietnamkrieges“ erklärte.34

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Titelblatt des 'stern'-Buches 'Bilder vom Krieg', 1983

Titelblatt des „stern“-Buches „Bilder vom Krieg“, 1983

 

Noch einen Schritt weiter waren bereits 1983 die Herausgeber des schon erwähnten „stern“-Buches „Bilder vom Krieg“ gegangen, die das Bild so beschnitten, dass nur mehr Kim Phúc mit ihren beiden Brüdern auf der Flucht vor dem Schatten eines Soldaten im Hintergrund zu sehen war.35 Der Buchtitel verwandelte das Bild zu einem allgemeinen visuellen Symbol des modernen Krieges. Vollständig entkonkretisiert erschien das Foto auch 1998 auf dem Cover des „Spiegel“ - zum Auftakt der Serie „Das 20. Jahrhundert“.36 Das weinende und nackte Mädchen befand sich im kompositorischen Zentrum des Covers unter dem Atompilz und dem Eingangstor von Auschwitz, eingekeilt zwischen zentralen Persönlichkeiten des 20. Jahrhundert wie Hitler, Lenin, Bill Gates und Adenauer.

'Spiegel'-Titel, 2.11.1998

„Spiegel“-Titel, 2.11.1998

 

Ähnlich wie Eddie Adams’ Fotografie der Exekution eines Vietcong auf offener Straße 1968 in Saigon wurde auch Uts Aufnahme zum Gegenstand künstlerischer Produktion - zum Beispiel in der Arbeit des französischen Künstlers Jean-Luc Verna, der in seinem Bild „Nick Ut, Kim Phuc Phan Thi, Sud-Vietnam, 8 juin 1972“ aus dem Jahr 2001 in provozierender Absicht vollständig auf die zur Abstraktion geronnene Gebärdefigur des nackten Mädchens fokussierte und einen tänzelnden nackten Mann in der Position Kim Phúcs ablichtete.37

Verbunden mit der Entkontextualisierung und symbolischen Verallgemeinerung des Bildes waren eine Reihe von falschen historischen Zuordnungen und Fehldeutungen. Frühzeitig entstand die zählebige, vermutlich von der internationalen Anti-Kriegs-Bewegung aufgebrachte Legende, der Angriff auf Trang Bang sei von amerikanischen Kommandeuren angeordnet und von US-Piloten geflogen worden. Massenwirksam kolportiert wurde sie in Deutschland vor allem von ZDF-Chefhistoriker Guido Knopp (siehe hierzu unten, Teil 6). Selbst die „Frankfurter Rundschau“ behauptete noch 2003 in einem Artikel über den Einsatz von Napalm im Irak: „Damals ging das Bild des vietnamesischen Mädchens Kim Phúc um die Welt, das am 8. Juni 1972 Opfer eines Napalm-Angriffs der USA wurde.“38

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Darüber hinaus wurde und wird immer wieder die Auffassung verbreitet, Uts Bild habe geholfen, den Einsatz der USA in Vietnam zu beenden. Mit seiner Aufnahme habe Ut nicht nur die öffentliche Perspektive auf den Vietnamkrieg verändert, sondern „mehr dazu beigetragen, den schrecklichen Krieg in Vietnam zu beenden, als viele politische Bemühungen und Konferenzen“.39 Im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Buches von Denise Chong behauptete der ehemalige „stern“-Kriegsberichterstatter Perry Kretz 2001, das Foto seines AP-Kollegen Nick Ut habe in „seiner schonungslosen Unmittelbarkeit den Verlauf des Vietnamkrieges [ver]ändert“, denn den Amerikanern und der gesamten Weltöffentlichkeit sei durch dieses Bild klar geworden, „was das ‚militärische Engagement‘ der USA in Vietnam anrichtete - darüber hinaus, was jeder Krieg unter der zivilen Bevölkerung anrichtet“.40 Unter dem Motto „War Photos That Changed History“ wurde das Foto 2004 schließlich in eine Galerie geschichtsmächtiger Aufnahmen eingereiht - zusammen mit Matthew Bradys frühem Bild der Gefallenen des Amerikanischen Bürgerkrieges, Eddie Adams’ Foto von der Tötung eines Vietcong 1968 in Saigon, den Aufnahmen Ronald Haeberles vom US-Massaker 1968 in My Lai, dem Bild eines geschändeten amerikanischen Soldaten 1983 in den Straßen von Mogadischu sowie dem Digitalfoto der Gefreiten Lynndie England 2004 im Gefängnis von Abu Ghraib.41 In solchen Behauptungen und Vergleichen wurde dem Medium Fotografie die Kraft zugesprochen, gleichsam aus sich selbst heraus politische Veränderungen zu bewirken. Weitestgehend ungehört blieben demgegenüber die Anmerkungen des Vietnam-Veteranen Ronald N. Timberlake, der im Internet immer wieder auf die historischen Fakten verwies. Er trat der weit verbreiteten Sicht entgegen, Uts Bild habe dazu beigetragen, den Krieg zu beenden. Vielmehr habe es zu dieser Zeit gar keine US-Bodentruppen mehr in der umkämpften Region gegeben.42

5. „Hijacking the history“: Neue Narrative und Mythen

Nachdem Kim Phúc mit ihrer jungen Familie 1992 in Kanada Asyl beantragt und erhalten hatte, wurde sie rasch zum Medienereignis - so bekannt waren ihr Bild und ihre Geschichte. Erneut ging eine Fotografie um die Welt, die die Erinnerung an das nackte schreiende Mädchen von 1972 reaktivierte. Für seine Nahaufnahme der erwachsenen, ihren kleinen Sohn auf dem Arm haltenden Kim Phúc mit der vernarbten Brandwunde auf der linken Schulter erhielt der Fotograf Joe McNally 1996 den World Press Photo Award in der Kategorie „Image of Survival“.43 Nun begann eine Geschichte mit völlig neuen Narrativen, die nur zu sehr den Bedürfnissen eines Teils der nach wie vor unter dem Vietnamtrauma leidenden amerikanischen Gesellschaft entsprach.

Am 11. November 1996, dem Veterans Day, kam es am Vietnam Memorial in Washington zu einem durch ein kanadisches Fernsehteam arrangierten Treffen von Kim Phúc und dem Vietnam-Veteranen John Plummer, der von sich behauptete, der Verantwortliche des Bombenangriffs auf Trang Bang gewesen zu sein. Die Szene hätte melodramatischer nicht sein können. Mit den Worten „Ich verzeihe, ich verzeihe“ begegnete Kim Phúc dem ehemaligen US-Captain, der seit 1990 Pfarrer einer kleinen Methodistengemeinde in den USA war.44 So war ein neuer Mythos geboren und die Geschichte zur abschließenden religiösen Deutung freigegeben. Als erster griff Jan Scruggs, Memorial Fund Founder und Methodisten-Funktionär, die Geste des Verzeihens publizistisch auf.45 In Dutzenden von Artikeln und Fernsehinterviews bezichtigte sich Plummer wiederholt seiner Verantwortlichkeit für das Bombardement vom 8. Juni 1972 - eine Geschichte, an die er schließlich wohl selbst glaubte. Plummer bekannte sich dazu, so massiv unter dem Vietnamtrauma gelitten zu haben, dass er alkoholkrank geworden sei und zwei Ehen aufgrund seiner psychischen Verfasstheit gescheitert seien. Auch bildlich wurde die Geste der Verzeihung in einer Fotografie der beiden sich umarmenden Akteure umgesetzt. „A photograph which encapsulated horror resulted in forgiveness, but the photograph of Kim and John together shows them wreathed in the smiles of that forgiveness. It is both inspirational and a triumph.“46

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Kim Phúc 2003 als UNESCO-Friedensbotschafterin

Kim Phúc 2003 als UNESCO-Friedensbotschafterin auf einer Veranstaltung aus Anlass des internationalen Friedenstages in Luxemburg. Die Fotografie von 1972 (vor dem Lesepult) bestätigt gleichsam die Authentizität und Bedeutung der Referentin.
(Foto: KIM-Foundation)

 

Im Glanze der Versöhnungs- und Vergebungsgeste „sonnten“ sich auch Dritte. 1997 entstand in Kanada die Fernsehdokumentation „Kim’s Story: The Road From Vietnam“, in der Plummer einmal mehr erzählte, wie er das Bild der nach Kanada geflohenen Kim Phúc im Fernsehen gesehen und das innere Bedürfnis verspürt habe, sich bei seinem „Opfer“ von damals zu entschuldigen. Höhepunkt auch dieses Filmes war die Versöhnungsgeste.47 Für ihren Film, der von zahlreichen US-Sendern und in weiteren 30 Ländern ausgestrahlt wurde, erhielt die Autorin Shelley Saywell die „Gandhi Silver Medal“ der UNESCO „for promoting the culture of peace“ und wurde noch mit zahlreichen weiteren Preisen überhäuft. Kolportiert wurde die Vergebungs- und Versöhnungsszene darüber hinaus in dem ansonsten gut recherchierten, erstmals 1999 in den USA erschienenen Buch von Denise Chong.48

Als Reaktion auf ihre große öffentliche Geste der Vergebung ernannte die UNESCO Kim Phúc am 10. November 1997 zur ehrenamtlichen Botschafterin für eine Kultur des Friedens. Ihre Aufgabe sei es, die Überzeugung zu verbreiten, „dass Versöhnung, gegenseitiges Verständnis, Dialog und Verhandlung nötig sind, um Konfrontation und Gewalt zu ersetzen“.49 In der Laudatio hieß es: „Kim Phúc is a living symbol throughout the world of the atrocity of war. These horrors must be transformed into a symbol of reconciliation worldwide.“50 Als Botschafterin des Friedens und der Versöhnung war Kim Phúc nun gern gesehene Rednerin in allen Teilen der Welt. Ein selbstreferenzielles System war entstanden, in dem sich Medien und das bekannte Opfer von damals gegenseitig benötigten. Dass die Geschichte der Vergebung letztlich auf einer Fiktion basierte und in der amerikanischen Öffentlichkeit zunehmend Zweifel an Plummers Bekenntnis auftauchten,51 passte allerdings nicht in das moderne Medien-Märchen, wie es fortan besonders die UNESCO und die KIM-Foundation transportierten.

Unter dem Titel „Hijacking the history of the Vietnam veteran“ sah sich Vietnam-Veteran Timberlake nach dem Erscheinen des Buches von Denise Chong 1999 erneut zu einer Klarstellung veranlasst. Er unterstellte den Kolporteuren der Legende nun gar kommerzielle Interessen: „If a picture speaks a thousands words, most of the words now associated with this photo are false or misleading. It is a counterfeit commercial parable to generate maximum donations. It relies not on what actually occured in 1972, but on dramatic fabrications that appear to have been invented specially to enhance the impact of the Canadian produced documentary, and increase revenues for certain foundations.“52

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Nachdem auch Plummers ehemalige Vorgesetzte bestätigt hatten, dass dieser in keiner Weise an den Ereignissen von 1972 beteiligt gewesen war und sich darüber hinaus der südvietnamesische Pilot gemeldet hatte, sah sich Plummer gezwungen, seine Aussagen zu relativieren. Er habe die Attacke nicht angeordnet, sondern lediglich koordiniert. Gleichzeitig waren allerdings auch Archivdokumente aufgetaucht, die belegten, dass es in der Region um Trang Bang 1972 gar keine US-Berater mehr gegeben hatte. Plummers „Korrektur“ erschien auf einer Methodisten-Website, die dennoch grundsätzlich an Plummers Story festhielt, ließ sich mit ihr doch trefflich der christliche Mythos der Vergebung und Versöhnung transportieren. Und auch Plummer kam von seiner Geschichte nicht los. In der 1998 ausgestrahlten Videoproduktion „The Wall That Heals“ behauptete er einmal mehr im Brustton der Überzeugung: „In 1972, I ordered an air strike.“

6. „Glaubenskrieger“:
Guido Knopp, die „BILD“-Zeitung und die Kirche

An den Zeitgeschichtsproduzenten des ZDF schien die amerikanische Kontroverse spurlos vorübergegangen zu sein. Vielleicht hatte man die eigene Sendung schon abgedreht oder die Rechte an der kanadischen Fernsehproduktion für teures Geld mit den Interviews der beiden Beteiligten erworben und sich damit in Zugzwang gesetzt. Jedenfalls tischte Guido Knopp im Rahmen seiner TV-Serie „100 Jahre“ die Story des John Plummer erneut auf.53 Abgesehen davon, dass Knopps Beitrag von historischen Fehlern wimmelte und Personen falsch zuordnete, las sich die Story der Kim Phúc im ZDF-Originalton nun so: „Die Bauern in dem kleinen Dorf Trang Bang ahnen noch nichts von der drohenden Katastrophe. Der Krieg scheint hier weit weg. Doch zwei amerikanische Kampfflugzeuge sind bereits gestartet zu einer tödlichen Mission.“ Der Film verwendet vor allem das Material des NBC-Kameramannes Le Phuc Dinh, das immer wieder durch knappe Statements John Plummers und Kim Phúcs unterbrochen wird. Beide Protagonisten werden von Knopp als gleichberechtigte Opfer vorgeführt: Kim als Opfer des amerikanischen Angriffs von 1972 und der vietnamesischen Propaganda nach 1975; Plummer als psychisches Opfer, der unter dem Trauma des Krieges gelitten habe und in den Alkohol geflüchtet sei. Dramatischer Höhepunkt des Filmes ist die Versöhnungsgeste, die mit den Worten gekrönt wird: „John Plummer aber ist vergeben worden, als er sich mit seinem Opfer traf. [...] Am Ende fanden sie den Frieden.“

In dem zeitgleich zur ZDF-Sendereihe erschienenen Buch „100 Jahre - Die Bilder des Jahrhunderts“ legte das Knopp-Team noch einmal nach. Der dramatisierten Version zufolge hatte Plummer nun selbst das Flugzeug geflogen, das den Napalm-Angriff auf Trang Bang geführt hatte. Das hatte sogar Plummer nie behauptet. Einleitend heißt es zur Geschichte des Bildes: „US-Pilot John Plummer zog seine ‚Skyraider‘ wieder hoch. Hinter ihm lag das südvietnamesische Dorf Trang Bang, das er mit seiner Fliegerstaffel gerade in ein Flammenmeer verwandelt hatte.“54 Die gesamte Szene wurde nun auch hier mit einem religiösen Narrativ überschrieben. Danach deutete die in der Zwischenzeit zum Christentum konvertierte Kim Phúc die Ereignisse von 1972 als gottgewollt und sinnhaft: „Gott hat mich an diesem Tag gebraucht. Mein ganzer Körper war verletzt, nur meine Füße nicht. So konnte ich weiterlaufen und das Bild ermöglichen. Es hat viele Menschen gerettet.“55 Die weltweite Veröffentlichung des Fotos habe schließlich dazu beigetragen, dass die USA und Nordvietnam einen Waffenstillstand vereinbart hätten. Wiederum markiert die Versöhnungsszene den krönenden Schluss: „Der Mann, der ihre Gesundheit auf dem Gewissen hat, ist heute ihr Freund. Der Pilot John Plummer floh vor dem Trauma seiner Schuld erst in den Alkohol, dann ließ er sich zum Pastor ordinieren. Auch Kim Phúc war mittlerweile zum Christentum konvertiert. 1996 begegneten sich Täter und Opfer als ‚Glaubensgeschwister‘ vor der Vietnam-Gedenkstätte in Washington. Ihre Umarmung hatte symbolischen Charakter. Im Frühjahr 1997 eröffneten Vietnam und die USA Botschaften in Hanoi und Washington.“56

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Auf der Basis der ZDF-Sendung erfuhr die Story durch die „BILD“-Zeitung eine weitere Popularisierung. Konzentriert bündelte das Massenblatt in einem Artikel vom 30. November 1999 dabei noch einmal alle Fehler und schiefen Deutungsmuster: „US-Pilot John Plummer verwandelte mit seiner Staffel das Dorf Trang Bang in Nordvietnam am 8. Juni 1972 in ein Flammenmeer. Sie warfen Napalm-Brandbomben ab, die eine Temperatur von mehr als 2.000 Grad entwickelten und praktisch nicht löschbar waren. Auf der Straße rannten Menschen um ihr Leben, darunter die neunjährige Kim Phuc. Sie riß ihre Kleidung vom Körper: ‚Ich dachte, mein Körper verbrennt von innen nach außen, und ich sah nichts mehr, nur Feuer überall.‘ Kim schrie vor Schmerzen. In diesem Moment drückte Fotoreporter Nick Ut auf den Auslöser. Das Foto schockte die Welt. Historiker sind heute der Meinung, daß es dazu beitrug, die Kampfeinsätze der Amerikaner zu stoppen. Südvietnam kapitulierte am 30. April 1975. [...] Pilot Plummer konnte das Vietnam-Trauma nicht überwinden. Er hatte quälende Alpträume, floh in den Alkohol. 1990 wurde er Pfarrer. 1996 begegnete er Kim, die ebenfalls zum Christentum übergetreten war. Sie umarmten einander. ‚Ich habe ihm vergeben‘, sagte sie.“

Unter der Überschrift „Gottes Liebe besiegt allen Hass“ musste die Versöhnungsszene schließlich in einem Evangelistenmagazin zur Bestätigung religiöser Grundannahmen herhalten. Der „böse Geist“ des Bildes von 1972 wurde mit dem neuen Bild der Vergebung „ausgetrieben“, so das Blatt: „Der bewegendste Augenblick seines Lebens ist nun gekommen: John Plummer gesteht der jungen Frau, dass er der Offizier sei, der den Befehl zum Bombenabwurf gegeben habe. Er blickt Kim in die Augen und bittet sie um Verzeihung. Noch einmal durchleidet Kim in der Erinnerung die Schrecksekunden, in denen ihr das Napalm die Haut in Fetzen vom Leib löst. Sie sieht vor ihrem inneren Auge noch einmal die Glutwolke aus Feuer, Rauch und Entsetzen. Sie spürt den Schmerz der Verbrennungen und steht Todesängste aus. Sie fürchtet sich auch vor jeder neuen Operation. Aber Kim steht unter der Macht Christi. Sie zeigt Größe, reicht dem Bomberpiloten zur Versöhnung die Hand. Mit überzeugenden Worten macht sie ihm deutlich, dass sie ihm diese Schuld nicht länger anrechnen will. Ja, sie schließt diesen ehemaligen Offizier in ihre Arme. Ihre Liebe überwindet alle Regungen des Zorns und der Verbitterung. Sie spricht das lösende Wort: ‚Um Christi willen verzeihe ich dir‘. Tief atmet der Hüne von Mann durch. Er weiß, was er der jungen Frau angetan hat, und begreift ganz neu Gottes großes Erbarmen.“57

Es bleibt zu vermuten, dass religiöse Deutungen wie diese nicht die letzten gewesen sind, sondern dass das Bild des Mädchens Kim Phúc mit zunehmender Zeitdistanz für weitere Interessen funktionalisiert werden wird. Und angesichts des immer noch schwachen Stands der zeithistorischen Bildquellenforschung in Deutschland dürften auch die hier skizzierten falschen und schiefen Deutungsmuster des Fotos kaum an Wirkungsmacht verlieren.

Anmerkungen: 

1 Gisèle Freund, Photographie und Gesellschaft, Reinbek 1979, S. 239.

2 Phillip Knightley, The Eye of War. Words and Photographs of the Front Line, London 2003, S. 202.

3 Siehe die Liste der 100 Arbeiten unter http://infoplease.com/ipea/A0777379.html

4 Interview mit Nick Ut aus dem Jahr 2003: [...]. Diese Seite ist 2005 nicht mehr erreichbar.

5 Siehe hierzu Horst Bredekamp, Bildakte als Zeugnis und Urteil, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 - Arena der Erinnerungen, Bd. 1, Mainz 2004, S. 29-66.

6 Ausführlich Marc Frey, Geschichte des Vietnamkriegs. Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums, München 1998, S. 194ff. Siehe auch ders., Das Scheitern des „begrenzten Krieges“: Vietnamkrieg und Indochinakonflikt, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 1 (2005), S. 17-34.

7 Siehe Horst Faas/Marianne Fulton, The Bigger Picture. Nick Ut recalls the Events of June 8, 1972, online unter URL: https://web.archive.org/web/20210726185349/http://digitaljournalist.org/issue0008/ng2.htm

8 Dies., Nick Ut - Still a Photographer with the Associated Press, online unter URL: https://web.archive.org/web/20210726185349/http://digitaljournalist.org/issue0008/ng6.htm; SuJ'n Chon, Huynh Cong Ut. He changed the public’s perspective on the Vietnam War with one shot... from a camera (Oktober 2003), online unter URL: [...] (Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar).

9 Richard Pyle, Epilogue: Trang Bang Revisited, April 2000, online unter URL: https://web.archive.org/web/20210726185349/http://digitaljournalist.org/issue0008/ng7.htm

10 Ausführlich hierzu Denise Chong, Das Mädchen hinter dem Foto. Die Geschichte der Kim Phuc, Hamburg 2001, Tb.-Ausg. Bergisch Gladbach 2003, S. 20ff.

11 Siehe die AP-Fotografien vom Geschehen: https://web.archive.org/web/20210726185349/http://digitaljournalist.org/issue0008/ng2.htm

12 So Chong, Das Mädchen hinter dem Foto (Anm. 10), S. 79.

13 Ausschnitte dieses Films sowie Auszüge aus Interviews mit Kim Phúc, Nick Ut und Christopher Wain sind auf der Website der KIM-Foundation zu finden (http://www.kimfoundation.com).

14 Zit. nach Faas/Fulton, The Bigger Picture (Anm. 7).

15 Chong, Das Mädchen hinter dem Foto (Anm. 10), S. 87.

16 Ebd., S. 86.

17 Susan Sontag, In Platos Höhle, in: dies., Über Fotografie, Frankfurt a.M. 1980, S. 22f.

18 Martin Hellmold, Warum gerade diese Bilder? Überlegungen zur Ästhetik und Funktion der historischen Referenzbilder moderner Kriege, in: Thomas F. Schneider (Hg.), Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des „modernen“ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film, Bd. 1, Osnabrück 1999, S. 34-50, hier S. 36.

19 Dies und das Folgende orientiert sich an Hellmolds mustergültiger Interpretation.

20 Ausführlich Gerhard Paul, Bilder des Krieges - Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004.

21 Interessanterweise hat ausgerechnet die BILD-Zeitung vom 30.11.1999 auf diesen Zusammenhang hingewiesen und die Fotografie Nick Uts im Stile Munchs von einem Grafiker neu gestalten lassen: [...] (Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar).

22 Peter Burke, Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2003, S. 171.

23 Siehe Paul, Bilder des Krieges (Anm. 20), S. 324ff., S. 352ff.

24 So wird auch Hellmold, Warum diese Bilder? (Anm. 18), S. 46, selbst Opfer der Behauptung, bei dem Angriff auf das Dorf Trang Bang habe es sich um einen amerikanischen Napalmangriff gehandelt.

25 Bertram Scheufele, Visuelles Medien-Framing und Framing-Effekte. Zur Analyse visueller Kommunikation aus der Framing-Perspektive, in: Thomas Knieper/Marion G. Müller (Hg.), Kommunikation visuell. Das Bild als Forschungsgegenstand - Grundlagen und Perspektiven, Köln 2001, S. 144-158, hier S. 144.

26 Rainer Fabian/Hans Christian Adam, Bilder vom Krieg. 130 Jahre Kriegsfotografie - eine Anklage, Hamburg 1983, S. 41.

27 So Armin Hemberger, „Wie in einem Feuerofen“. Information, Irreführung und Manipulation durch Bilder im Vietnamkrieg 1972, in: Praxis Geschichte 14 (2004) H. 4, S. 10-13.

28 Horst Faas/Marianne Fulton, How the Picture Reached the World, online unter URL: https://web.archive.org/web/20210726185349/http://digitaljournalist.org/issue0008/ng4.htm

29 Chong, Das Mädchen hinter dem Foto (Anm. 10), S. 98.

30 Es findet sich bei Knightley, The Eye of War (Anm. 2), S. 202, und auf dem Cover des Buches von Marie-Monique Robin, Die Fotos des Jahrhunderts. Das Buch zur arte-Serie, Köln 1999.

31 Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, München 2003, S. 50.

32 Siehe Zeitbilder. 45 Jahre Pulitzer-Preis-Fotografie, Köln 2000, S. 102f.

33 Siehe Susan L. Carruthers, The Media at War: Communication and Conflict in the Twentieth Century, Houndmills 2000, S. 244; Paul, Bilder des Krieges (Anm. 20).

34 Sontag, Das Leiden anderer betrachten (Anm. 31), S. 68.

35 Fabian/Adam, Bilder vom Krieg (Anm. 26).

36 Spiegel, 2.11.1998.

37 Siehe die Abbildung unter [...] (Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar). Mit der zu einem abstrakten Symbol geronnenen Gebärdefigur wirbt seit 1998 auch die KIM-Foundation für ihre Arbeit; siehe die Animation unter http://www.kimfoundation.com.

38 Daniel Herrmann, USA warfen in Irak Napalm, in: Frankfurter Rundschau, 8.8.2003; ähnlich Flensburger Tageblatt, 29.4.2005.

39 Lotte Bormuth, Gottes Liebe besiegt allen Hass, online unter URL: [...] (Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar).

40 Perry Kretz, in: Chong, Das Mädchen hinter dem Foto (Anm. 10), S. 5.

41 Michael Browning, War photos that changed history, in: Palm Beach Post, 12.5.2004.

42 Ronald N. Timberlake, The Myth of the Girl in the Photo (November 1997), online unter URL: http://hometown.aol.com/ecperry/myth1.html

43 Siehe https://web.archive.org/web/20171111152027/http://pdngallery.com/legends/legends5/editorial/6.html

44 Vgl. die Beschreibung der Szene bei Chong, Das Mädchen hinter dem Foto (Anm. 10), S. 436f.

45 Jan Scruggs, Vietnam and Veterans Day: A child of war forgives, in: Opinion USA - USA Today, 11.11.1996.

46 This is Plymouth, 14.6.2004.

47 Siehe https://web.archive.org/web/20190911072827/http://www.peace.ca:80/kimstory.htm

48 Chong, Das Mädchen hinter dem Foto (Anm. 10), S. 105ff.

49 Zit. nach ebd., S. 441f.

50 Zit. nach der Website der KIM-Foundation: http://www.kimfoundation.com

51 Timberlake, The Myth of the Girl in the Photo (Anm. 42); Reed Irvine/Joe Goulden, Energetic Vietnam Veteran Exposes a Big War Lie (15.1.1998), online unter URL: [...] (Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar); Veteran’s admission to napalm victim a lie, in: Baltimore Sun, 14.12.1997; Horst Faas/Marianne Fulton, After The War Ended. Who Dropped the Bombs?, online unter URL: https://web.archive.org/web/20210726185349/http://digitaljournalist.org/issue0008/ng5.htm

52 Ronald N. Timberlake, The Fraud Behind The Girl in The Photo. Hijacking the history of the Vietnam veteran (Januar 1999), online unter URL: http://www.ndqsa.com/myth.html

53 100 Jahre - Kriegsschicksale des Vietnamkrieges am Beispiel von Kim Phúc und John Plummer, ZDF 1999; ähnlich auch die von Knopp moderierte Sendung „Apokalypse Vietnam“ in der Reihe „ZDF History“ vom 25.7.2004.

54 Guido Knopp, 100 Jahre - Die Bilder des Jahrhunderts. Das Buch zur Serie, München 1999, S. 310. Anders als die bibliographische Angabe suggeriert, handelt es sich bei dem Band um einen von Knopp herausgegebenen Sammelband. Der Text zum Bild des Mädchens Kim Phúc stammt von Markus Spieker.

55 Zit. nach ebd., S. 311.

56 Ebd.

57 Bormuth, Gottes Liebe besiegt allen Hass (Anm. 39).

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