Deformierte Staatsangehörigkeiten

Geschichte und Gedächtnis der Juden und Muslime algerischer Herkunft in Frankreich

Anmerkungen

Wenn es stimmt, dass die Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz - als Herzstück der Französischen Revolution von 1789 - die besondere emotionale Bindung der Franzosen an ihr Land begründet, so kann man im Umkehrschluss folgende Hypothese wagen: Die Nicht- oder Entidentifikation mit Frankreich könnte darauf zurückzuführen sein, dass bestimmte Franzosen eine ihren Rechtsstatus betreffende Ungleichbehandlung zu erdulden hatten. Diese Hypothese lässt sich anhand eines interessanten Beispiels verifizieren: dem Bereich der nationalité, der französischen Staatsangehörigkeit. Seitdem die republikanische Regierungsform in Frankreich 1875 endgültig verankert wurde, haben vier Gruppen von Franzosen auf dem Gebiet des Staatsangehörigkeitsrechts gesetzliche Diskriminierungen hinnehmen müssen: Frauen, algerische Muslime, „Naturalisierte“ (d.h. eingebürgerte Ausländer) und Juden. Die französische Republik erkannte sie als Franzosen an, und trotzdem hatten sie nicht immer die gleichen Rechte wie die übrigen Franzosen.2

Heute sind diese Diskriminierungen verschwunden. Zwar hat bei manchen der vier in der Vergangenheit diskriminierten Gruppen und ihren Nachkommen auch die kollektive Erinnerung an die erlittene Ungleichbehandlung nachgelassen. In anderen Fällen jedoch dauert sie fort, und einige der Betroffenen tragen - trotz der Wiederherstellung ihrer Rechte sowie bisweilen auch der Anerkennung und/oder Reparation des ihnen zugefügten Schadens - die Spuren, die Erinnerung, das Leiden und die Erfahrung der früheren Diskriminierungen weiterhin in sich. Wir werden im Folgenden versuchen zu verstehen, warum das so ist.

1. Vier Diskriminierungen

Im Jahr 1803 wurde der erste Teil des Code Civil erlassen, der die später als ius sanguinis bezeichnete - väterliche - Herkunft zur ausschließlichen Grundlage der Übertragung der französischen Staatsangehörigkeit bei der Geburt machte.3 Parallel dazu nahmen seit 1803 diejenigen französischen Frauen, die einen Ausländer heirateten, die Staatsbürgerschaft ihres Mannes an, verloren also ihre französische Staatsbürgerschaft und erhielten mit sofortiger Wirkung die Rechtsstellung einer Ausländerin in Frankreich. Während des 19. Jahrhunderts waren jedes Jahr nur einige hundert Frauen von dieser Regelung betroffen. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Zahl der männlichen Einwanderer zunahm, und besonders nach dem Ersten Weltkrieg, als die Immigration zu einem Massenphänomen anwuchs, wurden fast 200.000 als Französinnen geborene Frauen durch ihre Heirat mit einem Ausländer selbst zu Ausländerinnen.4 Von der bei der Volkszählung im Jahr 1926 erfassten einen Million Ausländerinnen waren wahrscheinlich fast 150.000 Frauen geborene Französinnen.5 Sie stellten damit 6,5 Prozent der ausländischen Bevölkerung und 15 Prozent der ausländischen Frauen.6 Nach der Eheschließung mussten sich diese Frauen sofort registrieren lassen und sich den Ausweis für Ausländer besorgen.7 Falls die Frau Beamtin war, verlor sie ihren Arbeitsplatz, und da sie nun den Gesetzen des Herkunftslands ihres Ehemanns unterworfen war, verlor sie gegebenenfalls auch das Recht auf Scheidung (diese war zum Beispiel nach italienischem Recht verboten). Bisweilen kam es sogar vor, dass eine Frau Frankreich verlassen musste, um ihren Gatten zu begleiten, dem sie Gehorsam schuldete. Mehrere Frauen, die nach dem Ersten Weltkrieg mit ihren als Arbeitsmigranten nach Frankreich gekommenen chinesischen Gatten in deren Heimat zurückkehrten, mussten dort feststellen, dass diese bereits rechtskräftig mit einer Chinesin verheiratet waren. All diese unerträglichen Zustände mobilisierten sowohl die Propagandisten des Bevölkerungswachstums als auch Frauenrechtlerinnen und führten 1927 zu einer Gesetzesänderung: Nun erhielten die französischen Frauen die Möglichkeit, bei Eheschließung mit einem Ausländer in Zukunft ihre Staatsangehörigkeit zu behalten oder sie wiederzuerlangen, falls sie sie bereits verloren hatten.

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Die Rückkehr zum ius soli im Jahr 1889 stellte die zweite Etappe beim Aufbau des modernen französischen Staatsangehörigkeitsrechts dar. Ein Gesetz vom Juni 1889 verfügte, dass ein in Frankreich geborenes Kind eines ebenfalls in Frankreich geborenen Elternteils von Geburt an französisch sei. Waren die Eltern im Ausland geboren, sollte das Kind bei Erreichen der Volljährigkeit die französische Staatsangehörigkeit erhalten, falls es nicht innerhalb des darauf folgenden Jahres seinen Verzicht erklärte. Dieses Gesetz galt auch für Algerien. Waren die algerischen Juden bereits durch das Décret Crémieux vom Oktober 1870 mit der vollen Staatsbürgerschaft ausgestattet worden, so wurden nun auch die Kinder ausländischer Siedler zu französischen Staatsangehörigen. Die algerischen Muslime wurden in diesen Integrationsprozess allerdings nicht einbezogen: Formal waren sie Franzosen, doch handelte es sich um eine deformierte Staatsangehörigkeit. Um zu französischen Vollbürgern zu werden, mussten sie sich einem 1865 per Senatsbeschluss für Juden und Ausländer eingerichteten Naturalisierungsverfahren unterwerfen. Zwischen 1865 und 1962 wurden nur knapp 7.000 muslimische Algerier auf der Grundlage dieses Senatsbeschluss oder eines anderen, 1919 etablierten Verfahrens zu französischen Vollbürgern.

Die Tatsache, dass sehr wenige algerische Muslime die volle französische Staatsbürgerschaft erlangten, wird meist damit erklärt, dass sie in ihrer übergroßen Mehrheit ihren vom Koran bestimmten Personenstand behalten wollten. Doch abgesehen davon, dass die Kolonialadministration viele Muslime davon abbrachte, einen Antrag auf Naturalisierung zu stellen, genügte es nicht, auf den Status als Muslim und so auf die mit dem Code Civil unvereinbaren Sitten und Gebräuche zu verzichten, um die vollen Bürgerrechte zu erhalten. Das belegt eine Studie André Bonnichons, der die zum Katholizismus konvertierten Muslime untersucht hat,8 von denen es in den 1920er-Jahren mehrere Hundert oder einige Tausend gab.9 Zwar wurden die meisten von ihnen naturalisiert, jedoch nicht alle - was bisweilen mit ihrem Alter zu tun hatte, denn den unter 21-Jährigen stand das Naturalisierungsverfahren noch nicht offen. In diesem Fall galt der nichtnaturalisierte Konvertit weiterhin als muslimischer Indigener und blieb der indigenen Strafgerichtsbarkeit unterworfen (sowie - wo diese bestand - der Gerichtsbarkeit des Kadis). Zur Rechtfertigung dieser Regelung befand das Berufungsgericht in Algier 1903, der Begriff „Muslim“ habe „keine rein konfessionelle Bedeutung, sondern bezeichnet im Gegenteil die Gesamtheit der Personen muslimischer Herkunft, die, weil ihnen der Zugang zum Bürgerrecht verweigert wurde, notwendig ihren muslimischen Personenstand behalten haben, so dass kein Anlass besteht, zu unterscheiden, ob sie der islamischen Religion zugehören oder nicht“.10

Diese Zuschreibung auf der Grundlage ethnischer oder religiöser Herkunft, die den Indigenen-Status des muslimischen Konvertiten solange aufrechterhielt, bis dieser naturalisiert worden war, zeigt deutlich den nicht einfach zivilrechtlichen oder religiösen, sondern vielmehr ethno-politischen Charakter des Indigenen-Statuts. Die Muslime, denen der Zugang zur vollen Staatsbürgerschaft verwehrt wurde, waren dem Gesetz des Indigénat unterworfen, das ihre Freizügigkeit und Versammlungsfreiheit beschnitt und Sanktionen bereithielt, wenn sie den Behörden etwaige Beschwerden allzu lebhaft vortrugen. Zwar wurden diese Diskriminierungen nach dem Zweiten Weltkrieg gemildert oder beendet, doch für die Mehrheit der Muslime galten weiterhin mit ihrem Personenstand verbundene Einschränkungen des Wahlrechts. Erst mit der algerischen Unabhängigkeit 1962 erhielten sie eine vollwertige Staatsbürgerschaft: diejenige Algeriens oder diejenige Frankreichs (letzteres betraf eine Minderheit von in Frankreich lebenden Algeriern).

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Im Jahr 1927 schließlich markierte die Öffnung des Naturalisierungsverfahrens die dritte und letzte Etappe beim Aufbau des französischen Staatsangehörigkeitsrechtes. Von nun an musste der Antragsteller seinen Wohnsitz nicht mehr seit zehn, sondern erst seit drei Jahren in Frankreich haben, um eingebürgert zu werden. Als Gegengewicht zu dieser Öffnung hatten die Naturalisierten von 1927 bis 1984 jedoch Wahlrechts- und Berufsbeschränkungen hinzunehmen. Bereits seit 1889 konnten Naturalisierte in den ersten zehn Jahren nach ihrer Einbürgerung kein parlamentarisches Mandat erlangen; diese Beschränkung ihres passiven Wahlrechts wurde durch das Gesetz von 1927 jetzt auf alle Wahlmandate ausgedehnt, so dass ihnen nicht nur politische, sondern auch berufsbezogene Ämter wie etwa die Mitgliedschaft im Betriebsrat verschlossen blieben.11

Ein Gesetz vom Juli 1934 verbot zusätzlich für die Dauer von zehn Jahren den Zugang zum Staatsdienst, die Aufnahme in die Anwaltskammer oder die Anstellung als Ministerialbeamter.12 Ein Dekret vom November 1938 entzog den Naturalisierten neben diesen Rechtsbeschränkungen außerdem fünf Jahre lang das aktive Wahlrecht. Eine Verordnung von 1945 bestätigte diese Beschränkungen des aktiven und passiven Wahlrechts, verkürzte das Zugangsverbot für öffentliche Ämter und Anwaltskammer jedoch von zehn auf fünf Jahre. Ein Gesetz vom April 1952 verbot für einen Zeitraum von fünf Jahren nach der Einbürgerung sogar die Ausübung von Funktionen auf kommunaler Ebene. Erst im Juli 1978 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das die fünfjährigen Wahlrechts- und Berufsbeschränkungen aufhob. Das uneingeschränkte passive Wahlrecht für Naturalisierte wurde dagegen erst durch Gesetze vom Dezember 1983 eingeführt.

Was die Frauen, Algerier und Naturalisierten betrifft, so begleiten diese Diskriminierungen als quasi-strukturelles Element der Regression jede einzelne Etappe in der Geschichte des französischen Staatsbürgerschaftsrechts. Für die Juden dagegen war das Vichy-Regime der Grund für den Bruch der Rechtsgleichheit. Vom Juli 1940 an bildete die Staatsangehörigkeitspolitik eine Priorität des neuen Regimes. Selbst wenn die neuen „Gesetze“, die eine Revision der ab 1927 erfolgten Naturalisierungen sowie die Aberkennung der Staatsbürgerschaft ins Ausland verzogener Franzosen erlaubten, nicht explizit auf die Juden gemünzt waren, zielten sie doch letztlich gerade auf die jüdischen Franzosen. Überdies hob ein Gesetz vom Oktober 1940 das Décret Crémieux auf, das 1870 alle algerischen Juden naturalisiert hatte, und verwandelte 110.000 algerische Juden von Staatsbürgern in Untertanen.

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Um die französischen Juden ausfindig zu machen, nahm sich die zur Umsetzung des „Gesetzes“ vom 22. Juli 1940 gebildete Ausbürgerungskommission die Akten aller seit 1927 naturalisierten Franzosen noch einmal vor; zwischen 1940 und 1944 bearbeitete sie 666.594 einschlägige Akten. Wurde dabei jemand aufgrund seines Familiennamens oder seiner Geburtsurkunde als Jude identifiziert, verfügte die Kommission entsprechende Nachforschungen bei der Präfektur. Parallel zu diesem auf die Juden abzielenden Verfahren bat der Innenminister seit August 1940 die Präfekten, ihm diejenigen Naturalisierten zu melden, die straffällig geworden waren bzw. Meinungen kundgetan oder Aktivitäten entfaltet hatten, die dem „nationalen Interesse“ entgegenstanden. Die beiden Verfahren folgten unterschiedlichen Logiken: Die übergroße Mehrheit der Juden - 78 Prozent der von der Kommission bearbeiteten Dossiers - wurde ausgebürgert. Ausnahmen wurden nur gemacht, wenn die Juden von „nationalem Interesse“ waren, sich in Kriegsgefangenschaft befanden oder verstorben waren. Die Nichtjuden dagegen wurden nur ausnahmsweise ausgebürgert - wenn sie ihrer Worte oder Taten wegen als schädliche Elemente in der Nation wahrgenommen wurden.

In einem feierlichen Akt erklärte das „Freie Frankreich“ das Gesetz vom 23. Juli 1940, auf dessen Grundlage den Generälen de Gaulle und Giraud die französische Staatsangehörigkeit aberkannt worden war, im April 1943 für ungültig. Doch erst sechs Monate später setzte der „Comité Français de Libération nationale“ (CFLN) die algerischen Juden wieder in ihr volles Bürgerrecht ein.13 Nach der Landung der Alliierten im November 1942 und der Übernahme der Regierungsgewalt in Nordafrika war die von Vichy eingeführte antisemitische Gesetzgebung - die in Algerien noch härter gefasst war als in Frankreich - zunächst von Admiral Darlan, dann von General Giraud auf-rechterhalten worden.14 Als Giraud die nach dem 22. Juli 1940 erlassenen Gesetze und Dekrete in einer Verordnung vom Märzt 1943 für null und nichtig erklärte, hob er im Rahmen einer Sonderverordnung erneut das Décret Crémieux auf.15 Diese Entscheidung führte zu heftigen Reaktionen in der amerikanischen Presse, und das gaullistische Nationalkomitee missbilligte den Schritt in einer offiziellen Stellungnahme.16 In der Zwischenzeit waren auch die algerischen Juden aktiv geworden, so dass der CFLN im Oktober 1943 schließlich bestimmte, „dass das Décret Crémieux jetzt geltendes Recht ist“.

Erst viel später, durch eine Verordnung vom Mai 1944, wurde das „Gesetz“ vom 22. Juli 1940 aufgehoben, das die Revision der Naturalisierungen ermöglicht hatte. Und dass General Giraud in seiner Verordnung vom März 1943 die nach dem 22. Juli 1940 ergangenen Rechtshandlungen annulliert hatte, lässt vermuten, dass es ihm nicht darum zu tun war, die per Gesetz vom 22. Juli erfolgten Ausbürgerungen für ungültig zu erklären. Noch überraschender ist, was der kurz zuvor zum Justizkommissar beim CFLN ernannte François de Menthon, ein Widerstandskämpfer der ersten Stunde, im September 1943 an René Cassin geschrieben hatte, den Präsidenten des Rechtsausschusses des „Freien Frankreich“. Mit Bezug auf das Gesetz vom 22. Juli 1940, das es Vichy ermöglicht hatte, alle seit 1927 erfolgten Naturalisierungen zu revidieren, hieß es in seinem Brief: „Ich erwäge, diese Neuregelung beizubehalten.“ Menthon erklärte weiter, dass „die zu zahlreich erfolgten Naturalisierungen zweifelhafter israelitischer Elemente in der direkten Vorkriegszeit einem Antisemitismus zum Vorwand wurden, der am Tag der Rückkehr zum Problem werden kann. Es würde nicht dazu beitragen, sich im Voraus gegen diesen zu wappnen, wollte man von vornherein alle Aberkennungen der Staatsbürgerschaft annullieren.“17 Erst nach heftigen Interventionen des Rechtsausschusses des „Freien Frankreich“ hob der CFLN das Vichy-Gesetz über die Ausbürgerungen schließlich auf und machte die Ausgebürgerten wieder zu französischen Staatsbürgern.

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Die skizzierten vier Diskriminierungen haben bei den davon betroffenen Franzosen und ihren Nachkommen ganz unterschiedliche Spuren hinterlassen. So gibt es bei den Frauen und Naturalisierten keine kollektive Erinnerung an die erlittene Diskriminierung. Zwar wird die Zurücksetzung der Frauen, die durch Heirat mit einem Ausländer ihre Nationalität verloren, in verschiedenen amerikanischen Studien behandelt.18 In Frankreich dagegen bleibt sie selbst in sehr bekannten Büchern zur Geschichte der Frauen unerwähnt, obwohl das individuelle Trauma schwerwiegend gewesen sein muss - denn durch ihre Heirat mit einem Ausländer wechselte die Frau oft ohne ihr Wissen die Staatsangehörigkeit. Die Unterrichtung über diese zwangsläufige Folge ihrer Ehe war in keiner Weise Teil der bei der Eheschließung vorgeschriebenen Formalitäten. War die Ehe erst einmal erklärt, verlor die Frau nicht nur ihre Staatsangehörigkeit, sondern gegebenenfalls auch ihre Arbeit als Beamtin, das Recht auf Scheidung etc. Dieses individuelle Trauma, das die etwa 200.000 in den 1920er-Jahren betroffenen Frauen wohl tief verletzt hat, ist aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Diese Frauen waren von den anderen isoliert und deshalb nur schwer zu mobilisieren. Zudem führte das oben erwähnte Gesetz von 1927 deutliche Verbesserungen herbei.

Für einige eingebürgerte Ausländer brachte die Rechtslage in der Zeit von 1927 bis 1984 partielle Berufsverbote mit sich und konnte so schwerwiegende Folgen haben. Doch der Naturalisierten-Status war dem Ausländer-Status allemal vorzuziehen, und die mit ihm verbundenen Einschränkungen waren vorübergehend - nach fünf oder zehn Jahren wurden sie automatisch aufgehoben, und der Einzelne genoss endlich Rechtsgleichheit. Bei den Juden, den muslimischen Algeriern und ihren jeweiligen Nachkommen haben die unter Vichy einerseits, während der gesamten Kolonialgeschichte andererseits erlittene Stigmatisierung und Traumatisierung die Wiederherstellung oder späte Zumessung gleicher Rechte dagegen überdauert. Gleichzeitig begegnen die übrigen Franzosen den fortdauernden Auswirkungen des Traumas heute bisweilen mit Unverständnis. Auf die Situation der Juden und der algerischen Muslime ist deshalb in den folgenden beiden Abschnitten genauer einzugehen.

2. Das jüdische Beispiel: eine „traumatische Neurose“?

Was die Juden betrifft, war die Staatsangehörigkeitspolitik Bestandteil des zwischen 1940 und 1944 aufgebauten Verfolgungsapparates. Sie betraf die große Mehrheit der 440.000 französischen Juden ganz direkt: alle 140.000 Ausländer, die 110.000 algerischen Juden und die 55.000 Juden, die seit 1927 in verschiedenen Verfahren „naturalisiert“ worden waren. Die Staatsangehörigkeitspolitik muss im Zusammenhang der - vor allem antisemitischen - Rassenpolitik des Vichy-Regimes betrachtet werden, wie François Rochat, Generalsekretär im Außenministerium, 1941 in einem Brief an den Justizminister bekräftigte: „Seit dem Waffenstillstand verfolgt unsere Regierung eine Rassenpolitik. Einerseits widmet eine Ihrem Justizministerium unterstehende Kommission sich der Revision der zu leichtfertig gewährten Naturalisierungen; andererseits entfernen kürzlich ergangene Rechtsvorschriften die Israeliten sehr weitreichend aus der französischen Wirtschaft.“19

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Die Staatsangehörigkeitspolitik steht heute im Fokus einer doppelten historiographischen Debatte: Welchen Platz hatte die Rassenpolitik in der allgemeinen Regierungspolitik, und welchen Grad von Autonomie besaß die Politik Vichys angesichts der Forderungen der Nazis? Ich neige dazu, die Rassenpolitik für ein zentrales Politikfeld des Vichy-Regimes zu halten. Sie entwickelte sich seit Juli 1940 nicht nur in Frankreich selbst, sondern auch in den Kolonien, wo der Druck der Nazis gering war.20 Betrachtet man den Ausarbeitungsprozess der Gesetzestexte und ihre Anwendung, so kann man zwischen den antisemitischen Gesetzen auf der einen und den xenophoben Gesetzen auf der anderen Seite nicht unterscheiden, da beide sich überschnitten. Beide waren Teile eines allgemeinen Projektes der „nationalen Erneuerung“.

Die Ausbürgerungspolitik erlaubt es zudem, sich ein Bild von der „Autonomie“ Vichys gegenüber den Forderungen der Nazis zu machen. Das Gesetz vom 22. Juli 1940 folgte einem NS-Gesetz vom 14. Juli 1933,21 dessen Übernahme mehrere Vertreter der französischen extremen Rechten, aber auch einige Spezialisten im Bereich der Einwanderungspolitik bereits Ende der 1930er-Jahre gefordert hatten. Bei der Umsetzung des Gesetzes entzog die Kommission nicht allen, sondern 80 Prozent der von ihr überprüften Juden die Staatsangehörigkeit; einigen Juden wurden sie sogar zurückgegeben.22 Doch als Philippe Pétain und Pierre Laval sich auf Druck des Vatikans im Juli 1943 weigerten, die Ausbürgerung aller Juden zu unterstützen - was die Nazis daraufhin als unzulässige Unterscheidung zwischen ausländischen und französischen Juden anprangerten, die letztere vor der Deportation bewahren solle -, gingen die Ausbürgerungen trotzdem weiter. Sie wurden nach September 1943 sogar noch zahlreicher, und die Ausbürgerungskommission führte ihre Arbeit diensteifrig und unerbittlich bis Juli 1944 fort. Zum Zeitpunkt der Befreiung Frankreichs wartete die Kommission auf die Ergebnisse der in Auftrag gegebenen Nachforschungen zu 14.601 mutmaßlichen Juden, über deren Schicksal sie noch nicht befunden hatte.23 Des Weiteren hatte sie sich vorgenommen, die Einbürgerung der in Frankreich geborenen Kinder ausländischer Juden rückgängig zu machen.

Wenn die zentrale Stellung der (antisemitischen) Rassenpolitik und ihre weit über den August 1943 hinaus prägende Bedeutung für die Staatsangehörigkeitspolitik anerkannt würden, könnte dies vielleicht auch etwas an der von Henry Rousso und Eric Conan beschriebenen „Vichy-Obsession“ der Gegenwart ändern.24 Um zu erklären, welche Beziehung die Franzosen im Allgemeinen und die französischen Juden im Besonderen zu Vichy haben, hat Rousso Konzepte aus der Psychoanalyse entlehnt.25 Im Zentrum seiner Beschreibung steht die traumatische Neurose, deren entscheidendes Moment Freud im Schreck sieht - als dem „Zustand, in den man gerät, wenn man in Gefahr kommt, ohne auf sie vorbereitet zu sein“.26 Für die Zeitspanne von der Befreiung Frankreichs bis zur Gegenwart unterscheidet Rousso zunächst eine Zeit der Trauerarbeit, auf die eine Phase der Verdrängung gefolgt sei, die ihrerseits die Rückkehr des Verdrängten provoziert habe. Die aktuelle Phase charakterisiert er als „zwanghaft fixiert“.

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1994 haben Rousso und Conan den „Triumph des Anachronismus“ kritisiert.27 Zwar wisse man immer mehr über Vichy, immer größere Archivbestände würden zugänglich, Hunderte von Aktenkartons harrten noch ihrer wissenschaftlichen Auswertung - und doch behaupte man, sie seien unzugänglich oder würden versteckt. Den Forderungen nach immer mehr Gedenken werde zwar entsprochen, doch fehle diesem Gedenken oft die historische Kohärenz; die Verfolgung durch Vichy werde mit derjenigen durch die Nazis verwechselt und die Rolle der Résistance vernachlässigt. Schließlich komme es zu einer Konfusion der Repräsentationen, in deren Zentrum ein judéocentrisme stehe, der in Vichy nur noch die Verfolgung der Juden sehe. Rousso und Conan dagegen fordern, die Vergangenheit als solche zu verstehen und zu akzeptieren: „Nicht resignieren, sondern diese Vergangenheit annehmen, und vielleicht mehr noch die Art und Weise, wie die Generation, die sie erlitten hat, in der Nachkriegszeit mit ihr umgegangen ist“.28

Die Geschichte anderer verfolgter nationaler Minderheiten, wie etwa die der Armenier, bleibt umstritten. Für die afroamerikanische community hat es keine Wiedergutmachung gegeben.29 Manchmal trägt gerade die fehlende Anerkennung der Verfolgung durch die nationale Gemeinschaft dazu bei, dass das Gruppengedächtnis in einem Gefühl der Verbitterung wachgehalten wird.30 Nichts davon trifft auf die unter Vichy verfolgten französischen Juden zu: Die Geschichte ihrer Verfolgung ist geschrieben worden und wird weiterhin erforscht; die Verfolgung selbst wird von der nationalen Gemeinschaft in Akten der Reue und des Gedenkens anerkannt;31 schließlich setzt sich auf der Grundlage historischer Rekonstruktion eine wiedergutmachende Gerechtigkeit durch,32 wie sich erst kürzlich wieder in der Arbeit der „Mission Mattéoli“33 und der Schaffung der „Fondation pour la mémoire de la Shoah“ gezeigt hat. Die Juden, die während des Krieges oder danach in die USA oder nach Israel geflohen waren und ihre französische Staatsangehörigkeit verloren hatten, haben diese nach der Aufhebung der Vichy-Gesetze wiedererlangen können.34 In die Zukunft schließlich weist die neuere französische Gesetzgebung gegen den Rassismus, die direkt vom Kampf gegen den Antisemitismus und der Erinnerung an die NS-Verfolgung inspiriert ist.35 Doch historisches Wissen, Anerkennung der Geschichte, Restitution und Reparation scheinen weder Vergessen noch Vergeben bewirkt zu haben.

Die Produktion von Zeitzeugnissen und individuellen Geschichten sollte andererseits noch nicht als zwanghafte Fixierung bezeichnet werden. Wenn viele französische oder algerische Juden in gelehrter36 und/oder narrativer Form auf die von ihnen erlittenen Traumata zurückkommen, so gilt es festzuhalten, dass Erzählen und Schreiben zum Wissen und zur Anerkennung beitragen und erlauben, Abstand zu schaffen. Diese Zeugnisse können diejenigen, die direkt unter der Verfolgung zu leiden hatten, genauso angehen wie ihre Kinder, denn das Besondere der Traumatisierung liegt darin, dass sie oft über Generationen hinweg weitergegeben wird.37 Alain Finkielkraut scheint dies vergessen zu haben, als er sich selbst zum Ausgangspunkt ironischer Bemerkungen über das Leiden der „zweiten Generation“ nahm: „Ich erbte ein Leid, das ich nicht erfuhr. Vom Verfolgten übernahm ich die Rolle, ohne seine Unterdrückung zu erleiden. [...] Andere hatten gelitten, und ich schlug moralisches Kapital daraus, weil ich ihr Nachkomme war. [...] Durch meine Abstammung gelangte ich in den Besitz der Rechte am Völkermord, wurde zu seinem Zeugen, ja fast zu seinem Blutzeugen.“38 Dennoch kann die imaginäre Gewalt, unter der die Folgegenerationen leiden, denen das Trauma „übertragen“ wird, noch viel beängstigender sein als das Erleben derjenigen, die wirklich angegriffen wurden.39

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Die wachsende Menge der von den Verfolgten selbst stammenden Zeugnisse kann als Zeichen eines Prozesses der Lossagung gedeutet werden, kann jedoch genauso den Willen zum Ausdruck bringen, sich zu erinnern und diese Erinnerung weiterzugeben. Folgt man Michael Pollak, dann ist der Nutzen des autobiographischen Schreibens für die Überwindung des Traumas ein Motiv, das in „fast allen Erzählungen“ auftaucht und „nach 1956 immer expliziter gemacht wird, [...] bis es zum Hauptgrund, wenn nicht alleinigen Grund der Veröffentlichung wird“.40 Auch Janine Altounian zeigt am Beispiel des armenischen Genozids die lebenswichtige Notwendigkeit der écriture du traumatisme für die Nachkommen der Überlebenden des Völkermords. Dieses Schreiben im Zeichen des Traumas erlaubt, sich in eine Genealogie einzuschreiben, die Lücke der Sprachlosigkeit in den familiären Beziehungen zu füllen, zwischen dem das Trauma auslösenden Objekt und den von ihm verfolgten Generationen zu vermitteln und schließlich eine trianguläre Beziehung zwischen dem Selbst, den Vorfahren und der Welt zu stiften: Wenn die Bande zwischen den Generationen durch die Gewalt zerrissen wurden, dann müssen dieser Bruch, dieses Getrenntsein aufgeschrieben werden, um das, was nicht gesagt werden konnte, zusammenzutragen und der Welt zu übergeben.41

Was dagegen tatsächlich Ausdruck einer Zwangsneurose sein kann, ist der vielfach bekräftigte Glaube, die Öffentlichkeit oder die Politik wolle - mit Unterstützung der Historiker - bestimmte Sachverhalte über Vichy und die Rolle der Verwaltung bei der Judenverfolgung immer noch verheimlichen. Dieser Irrglauben erklärt schließlich auch das von Conan und Rousso betonte Paradox: „Je mehr man weiß, desto mehr spricht man von Tabus.“42 Darauf bedacht, jeden methodologischen Einwand zu vermeiden, schreibt Rousso, dass seine „Anleihen bei der Psychoanalyse“ „metaphorischen, nicht aber erklärenden Wert“ besitzen.43 Ohne mich hier über die Erweiterung der für die Deutung individueller Phänomene zugeschnittenen Methode der Psychoanalyse auf kollektive Phänomene auszulassen,44 möchte ich nur festhalten, dass die metaphorische Verwendung psychoanalytischer Begriffe durch ihren heuristischen Wert gerechtfertigt erscheint.45 Dennoch lässt sich fragen: Wenn die Obsession die richtige Diagnose ist, hat man dann aus diesem Befund die angemessenen interpretativen Schlussfolgerungen gezogen?

Was Freud zum Zusammenhang von Gefühlszuständen und den mit ihnen assoziierten, untereinander austauschbaren Ersatz-Ideen zu sagen hat,46 läuft darauf hinaus, dass das Objekt der Obsession nicht mit dem wirklichen, den Schmerz eigentlich verursachenden Objekt identisch ist, welches das Individuum zu vergessen sich müht. Wenn die französischen Juden also individuell oder kollektiv unter einer Neurose leiden, die zu ihrer Vichy-Obsession führt, so müsste man schließen, das Vichy gar nicht der wirkliche Grund des Problems ist. Im Fall individueller Zwangsneurosen ist Heilung nur möglich, wenn hinter der Ersatz-Idee die traumatisierende Idee oder Erfahrung wiederentdeckt wird. Überträgt man das auf die kollektive Situation, die uns hier beschäftigt, würde es bedeuten, dass der Aufruf, Vichy zu vergessen und „diese Vergangenheit zu akzeptieren“, zu nichts führte, weil das die Neurose hervorrufende Problem ein anderes ist, das es erst zu entdecken gälte.

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Was also könnte diese Ursache sein, was der schmerzliche Moment im Leben der französischen Juden, den zu vergessen sie sich bemühen? Meine Hypothese ist, dass dieser traumatisierende Moment, dass der eigentliche Grund für die Vichy-Obsession in dem Schock zu finden ist, den die Worte von General de Gaulle am 27. November 1967 bei den französischen Juden ausgelöst haben. Wenige Monate nach dem Sechs-Tage-Krieg, in dem Israel und seine arabischen Nachbarn sich im Juni 1967 bekämpft hatten, erklärte de Gaulle bei einer Pressekonferenz im Elysée-Palast: „Einige fürchteten gar, dass die Juden, die bislang verstreut gelebt hatten, und die geblieben waren, was sie zu allen Zeiten schon gewesen waren, nämlich ein elitäres, selbstbewusstes und herrisches Volk, jetzt, da sie an der Stätte ihrer alten Größe versammelt waren, die bewegenden Wünsche, die sie seit 19 Jahrhunderten hegten, in glühenden und eroberungslustigen Ehrgeiz verwandeln könnten.“47

Diese Erklärung rief bei allen französischen Juden heftige Emotionen hervor. Im Unterschied zum Suez-Krieg von 1956 löste der Sechstagekrieg eine Welle der Solidarität bei allen Juden in Frankreich, ja bei den Juden auf der ganzen Welt aus. Annette Wieviorka erinnert daran, dass die Angst, die die israelische Bevölkerung in der Zeit vor dem israelischen Sieg erfasst hatte, vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung des Völkermords von allen Juden in Frankreich und mit fast derselben Intensität durchlitten wurde: „Alle französischen Juden, ganz unabhängig von ihrer jeweiligen Einbindung in die Institutionen des Gemeinwesens, empfanden dasselbe.“48

Die Seeblockade des Golfs von Akaba, die Konzentration ägyptischer, syrischer und jordanischer Truppen an den Grenzen des israelischen Staates weckte die Angst vor der Vernichtung, die an eine andere Vernichtung erinnerte. Raymond Aron, sonst kaum zu intimen Geständnissen neigend, schrieb am 4. Juni, am Vorabend des Krieges: „In uns steigt ein übermächtiges Gefühl der Solidarität auf, und es ist egal, woher es kommt. Wenn die Großmächte dem kaltherzigen Kalkül ihrer Interessen folgend zulassen, dass der kleine israelische Staat zerstört wird, der doch nicht mein Staat ist, so würde dieses im Weltmaßstab betrachtet eher bescheidene Verbrechen mir die Kraft zum Leben rauben...“49

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Wenige Monate später versetzten die Erklärungen de Gaulles den französischen Juden in ihrer Gesamtheit einen gewaltigen Schock. Aron schrieb wenige Tage später: „Der General de Gaulle konnte sich über die heftigen Reaktionen, die er hervorgerufen oder vielmehr herausgefordert hat, nicht im Unklaren sein. Kein Staatsmann hatte je von den Juden in diesem Stil gesprochen, keiner hatte sie mit zwei Adjektiven als ‚Volk‘ charakterisiert. Diesen Stil und diese Adjektive kennen wir alle, sie gehören zu Drumont, zu Maurras.“50 Und Pierre Vidal-Naquet erinnert sich: „Mein erster Reflex war - und ich war übrigens nicht der Einzige -, mich an die Protokolle der Weisen von Zion zu erinnern, denn vor allem das Wort ‚herrisch‘ [...] evozierte einen klassischen Topos des Antisemitismus, nämlich die Idee einer jüdischen Verschwörung.“51

Der Sechstagekrieg markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der französischen Juden, aber auch der Juden in den USA, Großbritannien, Deutschland und anderswo. Die Verfolgung unter Vichy hatte eine jüdische communauté erst entstehen lassen, indem sie die französischen und algerischen Juden mit ihren unterschiedlichen Geschichten in einem gemeinsamen Schicksal zusammenführte; der Sechstagekrieg von 1967 vereinte diese communauté aufs Neue, und von da an entwickelte sie sich weiter. Seit dieser Zeit wurden die wissenschaftlichen Arbeiten, aber auch die Filme über die Shoah in den USA immer zahlreicher. Zwar publizierten amerikanische Forscher über die Preisgabe der europäischen Juden durch die Vereinigten Staaten in den 1930er-Jahren, doch findet man in ihren Arbeiten keine zwanghaften Anschuldigungen der USA oder Großbritanniens, wie es sie in Frankreich gibt. Denn die amerikanischen Juden fühlten sich in ihrer Solidarität mit Israel von ihrem Staat unterstützt. Bei den französischen Juden dagegen erzeugte das Gefühl der Preisgabe, des Verlassenseins und des Nichtverstehens eine Verdoppelung des Traumas, das in der nicht verbalisierbaren Verbindung mit ihrer Verfolgung unter Vichy neu belebt wurde. Vichy war der Feind, der historische Feind, der Feind, den man gut kannte, weil der Antisemitismus seit der Dreyfus-Affäre eine mächtige politische Ideologie gewesen war; Vichy war der vorübergehend siegreiche Feind, den der Sieg der Nazis mit sich gebracht hatte. De Gaulle dagegen war der schützende Vater, der Retter der Nation, ein bewunderungswürdiger Mensch, ein unantastbarer Held. Bei diesem Vater suchten die französischen Juden Schutz vor dem Angriff ihres Erzfeindes, doch dann verstand der Vater plötzlich ihre Ängste nicht, gab ihnen Unrecht, ließ sie im Stich, sprach selbst wie der Feind und verletzte sie damit schwerer als dieser mit seiner physischen Attacke.52

De Gaulle anzugreifen musste zudem das Risiko bedeuten, dem bereits unmittelbar im Anschluss an den Sechstagekrieg vorgebrachten Vorwurf der doppelten Loyalität neue Nahrung zu geben. Dieser Vorwurf war nur schwer abzuwehren - so groß schien die Solidarität mit dem israelischen Staat zu sein, ohne dass die französischen Juden aber deshalb ihre Loyalität mit und ihre Zugehörigkeit zu Frankreich in Frage gestellt hätten. Selbst wenn sie es so empfanden, konnten die Juden daher nicht sagen: „De Gaulle hat uns verraten“, denn de Gaulle war unantastbar. Nimmt man sich jetzt noch einmal die „zwanghafte“, im Zusammenhang mit Vichy vorgebrachte Kritik vor - „ein Tabuthema, man versteckt etwas vor uns, die Archive sind uns verboten“ -, so muss man feststellen, dass sie für Vichy unberechtigt ist, während sie auf den historischen Gegenstand „de Gaulle“ sehr wohl zutrifft: Er bleibt eine Heldenfigur, die tabu ist. Was ihn angeht, sind die Archive tatsächlich schwer zugänglich, und es gibt nur wenige historische Arbeiten, die sich kritisch mit seiner Person auseinandersetzen.53 Meine Hypothese ist daher, dass manche, die sich gegen Vichy wenden, das man angreifen kann, ohne mit Widerstand rechnen zu müssen, in Wahrheit de Gaulle angreifen wollten und wollen, es aus den genannten Gründen jedoch immer noch nicht können.

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3. Die algerischen Muslime: eine vergessene Geschichte

Abdelmalek Sayad hat darauf hingewiesen, dass die algerischen Muslime „einen ganz außergewöhnlichen Bezug zur französischen Staatsangehörigkeit haben. Die algerische Unabhängigkeit hatte den logischen und sofortigen Effekt einer politischen Statusänderung der ‚Immigranten‘ [...]: Von einem Tag auf den anderen wurden dieselben Immigranten, die in der Vergangenheit durch eine Reihe von Kollektivmaßnahmen zu Franzosen gemacht worden waren, in ihrer übergroßen Mehrheit jetzt in Folge einer anderen Kollektivmaßnahme zu algerischen Immigranten, d.h. zu Immigranten wie alle anderen.“54 Ihre Kinder aber wurden später automatisch zu Franzosen, weil das doppelte ius soli einem in Frankreich geborenen Kind eines in Frankreich geborenen Elternteils die französische Staatsangehörigkeit zusprach. Bis 1962 hatte Algerien zu Frankreich gehört, und meist hatten diese nach 1962 in Frankreich geborenen Kinder Eltern, die vor 1962 in Algerien geboren worden waren. Viele wollten die französische Staatsbürgerschaft zunächst ausschlagen, nahmen sie aber seit 1983 letztlich doch an, als sie den „Mythos“ der Rückkehr in die Heimat aufgaben und den dauerhaften Charakter ihres Aufenthaltes in Frankreich zu akzeptieren begannen. Bei denen, die Jahre zuvor lautstark ihre Weigerung kundgetan hatten, „gegen ihren Willen“ Franzosen zu sein, hatte eine Entwicklung eingesetzt, die Adelmalek Sayed treffend beschreibt: „Die Empfänger der [französischen] Staatsbürgerschaft, die diese erhielten, ohne sie beantragt zu haben, fügten sich gerne in dieses Schicksal, und ihre gelegentlichen Proteste (die im Übrigen durchaus aufrichtig sein konnten), können nicht vom Gegenteil überzeugen. Ihr Umfeld, das eine Naturalisierung im Normalverfahren nicht akzeptiert hätte, zeigt sich nachträglich erleichtert, dass die französische Staatsbürgerschaft (die ‚französischen Papiere‘, wie man sagt) von selbst gekommen ist, wie ein kollektiv auferlegter Zwang: Sie ist das gemeinsame Los aller und nicht Ergebnis eines individuellen und freiwilligen Schrittes, durch den einzelne sich von den anderen abheben und absondern würden. [...] Trotz der verschiedensten Proteste, die zum guten Ton gehören, trotz der Schuldgefühle oder dem schlichten Unbehagen, das die Naturalisierten weiterhin beherrscht, verschafft die so genannte ‚Zwangs-Naturalisierung‘ am Ende eine Art Befriedigung, die aus vielen Gründen geheim bleiben und manchmal auch resigniert hingenommen werden muss.“55

Genau in dieser Zeit, um die Mitte der 1980er-Jahre, begann innerhalb der politischen Rechten die Infragestellung des ius soli, die direkt auf die Kinder algerischer Einwanderer zielte. Diese Infragestellung mündete 1993 in die Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes, die die meisten von ihnen juristisch nicht mehr betraf, die Kinder anderer Ausländer jedoch dazu zwang, die französische Staatsbürgerschaft zu beantragen, anstatt diese wie bisher bei Erreichen der Volljährigkeit automatisch zugesprochen zu bekommen. Über „Nassim“, eines der Einwandererkinder, deren Lebenswege Stéphane Beaud im Rahmen einer soziologischen Studie begleitet hat, schreibt er: „Schließlich kann man auch seinen Bezug zu Algerien nicht unabhängig von der kollektiven Geschichte seiner Generation verstehen. Für Nassim wird Algerien, was auch geschehen mag, ‚sein‘ Land bleiben, d.h. das Land, in dem zu leben ihm niemand jemals das Recht wird streitig machen können, in dem er ‚von Natur aus‘ (und von Rechts wegen) ‚zu Hause‘ ist. Dieses Geltendmachen einer Zugehörigkeit zu Algerien nimmt in Frankreich zwischen 1986 und 1995 Gestalt an [...]. In diesen Jahren - so zeigt sich im Rückblick deutlich - hatten die Kinder maghrebinischer Einwanderer, auf die die Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes zuallererst abzielte, irgendwie das Gefühl, sie seien in Frankreich nicht mehr erwünscht, sondern nur noch geduldet. In diesen Jahren mussten die in Frankreich von algerischen Eltern Geborenen widerwillig lernen, sich selbst als Français de papier zu betrachten.“56

Die Kinder algerischer Einwanderer waren von dieser Reform praktisch nicht betroffen - wie erwähnt, waren sie wegen des doppelten ius soli mehrheitlich seit ihrer Geburt Franzosen -, doch fühlten sie sich symbolisch getroffen. Wie kann man diese Distanzierung und diese emotionale „Rückkehr“ in das Land der Väter erklären? Waren es die nie überwundenen Schwierigkeiten, Wohnung oder Arbeit zu finden, waren es die alltägliche Diskriminierung und der Rassismus in den Wohnsiedlungen oder am Arbeitsplatz? Wahrscheinlich beförderten diese Kontexte die „Entidentifikation“. Dennoch glaube ich, dass die extreme Empfindlichkeit in dieser Debatte, dass der Schock und das von ihm ausgelöste Trauma vor allem darauf zurückzuführen sind, dass die Debatte die Nachkommen der algerischen Muslime symbolisch auf den früheren Status zurückwarf, den ihre Eltern bereits im kolonialen Algerien zu erdulden gehabt hatten. Letztere waren „offiziell“ tatsächlich Franzosen gewesen, doch konnten sie nur im vollen Wortsinn französisch sein, wenn sie förmlich darum baten. Nirgendwo sonst hatte Frankreich die Verwirrung zwischen den Buchstaben des Gesetzes und den gelebten Erfahrungen so weit getrieben wie im kolonialen Algerien, wo der Begriff der Staatsangehörigkeit - wie übrigens die Gesamtheit der Proklamationen und „Fiktionen“ des republikanischen Rechts - seines Gehalts beraubt worden war. Das von den Vorgängergenerationen übertragene Trauma war in der Debatte also reaktiviert worden. Und diejenigen in der politischen Linken, die gelegentlich den Vorschlag machten, die Staatsbürgerschaft (citoyenneté) ohne Staatsangehörigkeit (nationalité) zu gewähren, waren - in mancher Hinsicht ohne ihr Wissen - in einem Bogen zum Ausgangspunkt der Benachteiligung der Algerier zurückgekehrt. Diese citoyenneté hatten 1936 schon Blum und Viollette vorgeschlagen, weil sie den algerischen Muslimen die volle nationalité nicht gewähren konnten.57 In den 1980er-Jahren wurde also eine bereits in Algerien geführte Debatte von der alten Kolonie in die Metropole übertragen und führte die Kinder dieser Emigranten symbolisch in das Heimatland ihrer Eltern zurück.58

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Die beinahe irrational wirkende Überempfindlichkeit wird schließlich besser verständlich, wenn man sie - wie im Fall der französischen Juden - als eine Verdoppelung der erlittenen Zurückweisung versteht, die eine traumatische Neurose hervorbringt.59 Die Juden hatten wenigstens die Möglichkeit, mit dieser Verletzung umzugehen, indem sie Vichy zum Objekt einer Zwangsneurose machten. In gleicher Weise können die Nachkommen der algerischen Muslime sich in eine mythische Identifikation mit Algerien stürzen, wie während des Fußballspiels Frankreich - Algerien am 6. Oktober 2001 zu beobachten war.

Auf eine Minderheit der Nachkommen der algerischen Muslime in Frankreich trifft das jedoch nicht zu: auf die Kinder der harkis, der ehemaligen algerischen Milizionäre, die im Algerienkrieg auf Seiten der Franzosen gekämpft hatten und nach dem Krieg oft gegen den Willen der französischen Regierung nach Frankreich „repatriiert“ wurden, während sie in Algerien in Todesgefahr schwebten. Ihre psycho-kollektive Situation ist weniger günstig: Wie die Juden nehmen sie es dem unantastbaren de Gaulle übel, dass er sie im Stich gelassen hat, doch sie können sich nicht - so wie diese gegen Vichy - gegen Algerien wenden. Genauso wenig können sie eine mythische Flucht nach Algerien antreten - wie die jungen Franzosen algerischer Herkunft, von denen weiter oben die Rede war.60 „Sie können nicht mehr zurück, können ihren Platz inmitten der Ihren nicht wieder einnehmen und haben in Frankreich nie die Integration gefunden, auf die sie gehofft hatten. In Algerien sind sie nichts mehr, oder höchstens Verräter. Hier werden sie niemals etwas anderes sein als Araber.“61

4. Fazit

Fassen wir zusammen: Am Anfang stehen vier Gruppen von Franzosen, die hinsichtlich der Staatsangehörigkeit diskriminiert wurden. Am Ende haben zwei der vier Diskriminierungen - diejenige der Juden durch den État français im Zweiten Weltkrieg und diejenige der algerischen Muslime durch die République française in der Kolonialzeit - Spuren hinterlassen. Diese Spuren äußern sich in einem Gefühl von Diskriminierung oder Nichtanerkennung, das über die tatsächlich erlittenen Diskriminierungen hinaus bis heute fortbesteht und in den Alltag hineinreicht. In beiden Fällen gibt es ein zweites Ereignis - die Rede de Gaulles 1967, die Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes 1993 -, das eine schmerzhafte Vergangenheit reaktiviert und zu einem Phänomen der Entidentifikation geführt hat. Dieses zweite Ereignis fällt in eine Phase formaler Rechtsgleichheit, wirft die Betroffenen aber auf die Zeit der Diskriminierung zurück. Dieser Zusammenhang kann jedoch von den Juden nicht verbalisiert werden, während er für die Muslime verschwommen bleibt. Die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geschichte bringt daher die Maßstäbe durcheinander: ein kleiner Satz de Gaulles, eine Rechtsreform, die eine bestimmte Gruppe nicht direkt, aber symbolisch ins Visier nimmt, können - in Bezug auf die kollektiven Identitäten - genauso wichtige Folgen haben wie massive, adäquat dargestellte Fakten.62

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Diese Hypothesen einer unsagbaren oder konfusen Verbindung verlangen weitere historische Erhellung. Doch birgt eine bessere Ausleuchtung der Schattenseiten der Republik nicht auch das Risiko, diese Republik endgültig ihrer Strahlkraft zu berauben und so die Nicht-Identifikation zu zementieren? Ganz im Gegenteil! Wenn der Historiker daran arbeitet, von der erzählten Geschichte, der Legende gewissermaßen, zur Geschichte überzugehen, wie sie stattgefunden hat, so wird seine Arbeit selbst Ereignis, weil sie nicht einfach wiederholt, sondern Legende in Historiographie verwandelt.63

So prägend war die Erfahrung dauerhafter Kolonialherrschaft und so sehr ist sie im Habitus, den Praktiken, der gelebten Erfahrung und den Repräsentationen verankert, so sehr hat sie sich in der Lücke eingenistet, die zwischen juristischem Diskurs und den Praktiken klafft - einer Lücke, die gegenwärtige Erfahrungen rahmt und konfus macht, weil sie nicht beschrieben und analysiert worden ist -, dass wir nicht noch mehr Geschichten des Algerienkrieges, sondern mehr Geschichten der Kolonisierung oder besser: der Kolonisierungen Algeriens brauchen, um die Identifikation mit der Republik wiederherzustellen oder von Neuem zu ermöglichen.64 Antoine Raybaud hat sehr eindringlich gezeigt, dass ein wichtiges Phänomen der Kolonialzeit die Entkopplung der kolonialen Gegenwart vom französischen Blickfeld war: „Schon seit der Zwischenkriegszeit war die Metropole, wo sie von ihren kolonialen Praktiken abwich, für die Kolonisierten auch das Beispiel einer bestimmten Lebensweise, eine Wissenspraxis, eine politische Organisation, eine Befähigung zu sozialer Kritik - äußerstenfalls auch das Vorbild, mit dem man dem kolonialen Schauplatz drohen konnte.“65

Wir brauchen mehr zeithistorische Forschungen, die sich an die Widersprüche heranmachen, die zwischen der Politik der Nachkriegszeit und den Politikern bestehen, die zum Symbol dieser Politik geworden sind. Schon jetzt haben verschiedene Forschungen die Spannungen nachgewiesen, die zum Zeitpunkt der Befreiung im Bereich der Einwanderungs- und Staatsbürgerschafts-Politik zwischen einer ethnischen und einer egalitären Konzeption der Nation bestanden. De Gaulle unterstützte zunächst die erste dieser Optionen, schloss sich aber - angesichts der heftigen Reaktionen von Juristen in der Résistance wie Teitgen, Parodi, Cassin, Tissier - in letzter Sekunde noch der zweiten an.66 In manchen Momenten verkörperten also andere als de Gaulle die republikanischen Werte der Gleichheit und Brüderlichkeit, und die Arbeit des Historikers erlaubt es, dies zu zeigen.

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Die Geschichte der Kolonisation, der Sklaverei und - noch allgemeiner - der historischen Traumata zu kennen und zu lehren, dabei den spezifischen kollektiven Gedächtnissen Rechnung zu tragen, die sich von der zentralen, metropolitanen Erinnerung unterscheiden - darin liegt eine Möglichkeit, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass zwischen Bürgern mit unterschiedlicher Geschichte und verschiedenem Gedächtnis eine Verbindung entstehen kann. Auch wenn es in der Savoie und den Côtes d’Armor keine Sklaven gegeben hat, muss jeder einen kleinen Ausschnitt der Geschichte der anderen verstehen lernen, damit alle das Gefühl haben können, derselben Gemeinschaft von Staatsbürgern anzugehören. Dieses Wahrnehmen der Geschichte der anderen fehlte de Gaulle, um 1962 die harkis nicht zu verletzen und 1967 auf die Erfahrungen und die Empfindlichkeit der Juden Rücksicht zu nehmen; es fehlte auch der rechten Parlamentsmehrheit, die sich bei der Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes 1993 nicht an die Geschichte legaler Diskriminierungen im kolonialen Algerien erinnerte.

Und wenn schließlich die Vielfalt der Zugehörigkeiten vertrauensvoll akzeptiert wird, dann kann im Bereich der allgemeinen Politik das erreicht werden, was im Bereich der Staatsangehörigkeit schon einmal vollzogen wurde. Als das französische Parlament sich 1922 mit der Situation konfrontiert sah, dass in Elsass-Lothringen ansässige Deutsche Franzosen werden, zugleich aber ihre ursprüngliche Nationalität behalten wollten, akzeptierte es das Prinzip der doppelten Staatsangehörigkeit: „Bis zum Beweis des Gegenteils muss man annehmen, dass eine Person, welche die französische Staatsangehörigkeit erworben hat, nicht als verdächtig und gefährlich gelten muss, nur weil sie weiterhin moralische und pekuniäre Interessen in dem Land hat, das sie verlassen hat“, schloss der Referent dieses Gesetzesentwurfs.67

(Übersetzung: Christoph Kalter)

Anmerkungen:

1 Gekürzte Übersetzung von: Patrick Weil, Histoire et mémoire des discriminations en matière de nationalité française, in: Vingtième Siècle 84 (2004), S. 5-22 (Manuskript online unter URL: <http://www.patrick-weil.fr/wp-content/uploads/2014/07/2004-Histoire-et-m%C3%A9moire-des-discriminations-Revue-Vingti%C3%A8me-si%C3%A8cle.pdf>). Englische Fassung: The history and memory of discrimination in the domain of French nationality: The case of Jews and Algerian Muslims, in: Hagar. International Social Science Review 6 (2005), S. 49-72.

2 Vgl. dazu Patrick Weil, Qu’est-ce qu’un français? Histoire de la nationalité française depuis la Révolution, Paris 2002, Kapitel 4 (Juden) und Kapitel 8 (Frauen, algerische Muslime und Naturalisierte).

3 Ebd., Kapitel 1.

4 Diese Zahl ergibt sich aus den Tabellen bei P. Depoid, Les naturalisations en France (1870-1940), Paris 1942, S. 59ff.

5 Die Diskrepanz zwischen dieser Zahl und der zuvor genannten von 200.000 Frauen erklärt sich dadurch, dass im selben Zeitraum 29.378 Frauen - meist im Zusammenhang mit der Naturalisierung oder dem Ableben ihrer Männer bzw. im Moment der Trennung oder Scheidung von ihnen - die französische Staatsangehörigkeit wieder erhalten hatten (vgl. ebd., S. 35). Einige der mit einem Ausländer verheirateten Frauen hatten zudem mit ihrem Mann das Land verlassen.

6 Es wurden 1.004.522 ausländische Frauen gezählt, von denen 471.983 verheiratet waren; vgl. Statistique générale de la France, Résultats statistiques du recensement général de la population effectué le 7 mars 1926, Tome I - Cinquième partie: Étrangers et naturalisés, Paris 1931.

7 Die Registrierungspflicht datiert erst aus der Zeit nach 1917, denn das Gesetz von 1893 fand keine Anwendung auf französische Frauen, die durch Heirat zur Ausländerin geworden waren; vgl. Frantz Despagnet, Précis de Droit International privé, Paris 1904, S. 93.

8 André Bonnichon, La conversion au Christianisme de l’indigène musulman algérien et ses effets juridiques. Un cas de conflit colonial, Thèse pour le doctorat en Droit, Paris 1931.

9 Bonnichon (ebd., S. 12) setzt für die Kabylei eine Zahl von 700 an und erwähnt zusätzlich einige in Frankreich lebende Konvertiten. Jean Bastier, Le droit colonial et la conversion au christianisme des arabes d’Algérie (1830-1962), in: Annales de l’université des sciences sociales de Toulouse 37 (1990), S. 33-104, nennt für das Jahr 1910 die Zahl von 2.000 Konvertiten.

10 Algier, 5.11.1903, vgl. Revue algérienne et tunisienne de législation et de jurisprudence 19 (2004) H. 2, S. 25.

11 Von dieser Regel generell ausgenommen waren die naturalisierten Männer, die ihren Wehrdienst bei der Armee ableisteten.

12 Dies galt nicht für diejenigen Männer, die ihren Wehrdienst abgeleistet hatten. Vgl. Jean-Charles Bonnet, Les pouvoirs publics français et l’immigration dans l’entre-deux-guerres, Lyon 1976, S. 283ff.

13 Vgl. Michel Ansky, Les juifs d’Algérie du décret Crémieux à la Libération, Paris 1950, S. 318f.

14 Vgl. Michael R. Marrus/Robert O. Paxton, Vichy France and the Jews, Stanford 1995, S. 191-197.

15 Alle diese Verordnungen sind dokumentiert auf der CD-ROM mit dem Titel La persécution des juifs de France 1940-1944 et le rétablissement de la légalité républicaine. Recueil des textes officiels, Paris 2000.

16 Ansky, Les juifs d’Algérie (Anm. 13), S. 298.

17 Conseil d’État, Archives du Comité juridique.

18 Vgl. z.B. Candice Lewis Bredbenner, A Nationality of Her Own. Women, Marriage, and the Law of Citizenship, Berkeley 1998.

19 Übersetzt nach dem Zitat bei Weil, Qu’est-ce qu’un français? (Anm. 2), S. 99.

20 Eric T. Jennings, Vichy in the Tropics. Pétain’s National Revolution in Madagascar, Guadeloupe, and Indochina, 1940-1944, Stanford 2001.

21 Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit, in: RGBl. I, 1933, S. 480.

22 Vgl. Weil, Qu’est-ce qu’un français? (Anm. 2), S. 129f.

23 Archives Nationales, F60/1485. Diese Zahl ergibt sich aus einem Brief von George Dayras vom 8.9.1943: Von den 23.640 seit 1927 naturalisierten Juden hatte die Kommission bereits 9.039 überprüft und 7.055 von ihnen, d.h. 78 Prozent, die Staatsangehörigkeit entzogen. Die Überprüfung von 14.601 weiteren Fällen stand demnach noch aus.

24 Eric Conan/Henry Rousso, Vichy, un passé qui ne passe pas, Paris 1994.

25 Henry Rousso, Le syndrome de Vichy de 1944 à nos jours, Paris 1990.

26 Zit. nach Jacques Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, 11. Aufl. Frankfurt a.M. 1992, S. 524.

27 Conan/Rousso, Vichy (Anm. 24), S. 268.

28 Ebd., S. 285.

29 Zu den moralischen und ökonomischen Aspekten einer solchen „Reparation“ vgl. Manning Marable, The Great Wells of Democracy. The Meaning of Race in American Life, New York 2002; Dalton Conley, Calculating Slavery Reparations: Theory, Numbers, and Implications, in: John Torpey (Hg.), Politics and the Past. On Repairing Historical Injustices, Lanham 2003, S. 117-125.

30 Vgl. zu dieser Frage in vergleichender Perspektive die Beiträge bei Torpey, Politics (Anm. 29).

31 Vgl. Claire Synodinou, Devoir de liaison. La mémoire revisitée, in: Revue française de psychanalyse 64 (2000), S. 151-160, hier S. 154.

32 Im Unterschied zur bestrafenden oder rehabilitierenden Gerechtigkeit gibt die wiedergutmachende Gerechtigkeit den Opfern einen zentralen Platz. Vgl. Robert Cario (Hg.), Victimes. Du traumatisme à la restauration, Paris 2002.

33 Die 1997 von Premierminister Alain Juppé bestellte und von Jean Mattéoli geleitete „Mission d’études sur la spoliation des Juifs de France de 1940 à 1944“ legte Premierminister Lionel Jospin im April 2000 ihren Abschlussbericht zu Art und Umfang des Raubs jüdischen Eigentums unter Vichy sowie der nach 1945 geleisteten Entschädigungen vor. Sie empfahl zugleich die Schaffung einer „Fondation pour la mémoire de la Shoah“, die am 26. Dezember 2000 per Dekret der französischen Regierung ins Leben gerufen wurde.

34 Vgl. Patrick Weil, The Return of the Jews in the Nationality or in the Territory of France (1943-1973), in: David Bankier (Hg.), The Jews Are Coming Back. The Return of the Jews to Their Countries of Origin after World War II, New York 2005, S. 58-71.

35 Zur Entwicklung der antirassistischen Gesetzgebung in Frankreich vgl. die Website des Justizministeriums: <...> [Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar]. Vgl. außerdem Erik Bleich, Race Politics in Britain and France. Ideas and Policymaking Since the 1960s, Cambridge 2003, v.a. Kapitel 5: „The Origins of French Antiracism Institutions: 1945 to the 1972 Law“.

36 Vgl. etwa Jacques Derrida, Le monolinguisme de l’autre, Paris 1996, S. 32-37.

37 Vgl. z.B. Nathalie Zajde, Souffle sur tous ces morts et qu’ils vivent! La transmission du traumatisme chez les enfants de survivants de l’extermination nazie, Paris 1993.

38 Alain Finkielkraut, Der eingebildete Jude, München 1982, S. 15, S. 20f.

39 Vgl. Françoise Brette, Art. „Traumatisme sexuel“, in: Alain de Mijolla (Hg.), Dictionnaire international de la psychanalyse, Paris 2002, S. 1774f.: „Ce qui est traumatisant est non l’événement en tant que tel, mais les affects et les représentations, y compris les fantasmes.“ („Traumatisierend ist nicht das Erlebnis an sich, sondern es sind die Affekte und Repräsentationen einschließlich der Phantasmen.“)

40 Michael Pollak, L’expérience concentrationnaire. Essai sur le maintien de l’identité sociale, Paris 1990, S. 206.

41 Janine Altounian, La survivance. Traduire le trauma collectif, Paris 2000. Wie wichtig die Möglichkeit ist, einen Adressaten für seine Leidenserzählung zu finden, betont Boris Cyrulnik, Les liens de la survie, in: Joyce Aïn (Hg.), Survivances. De la destructivité à la créativité, Ramonville 1999, S. 91-99, hier S. 95.

42 Conan/Rousso, Vichy (Anm. 24), S. 268.

43 Rousso, Le syndrome de Vichy (Anm. 25), S. 19.

44 Vgl. dazu z.B. Antoine Prost, Douze leçons sur l’Histoire, Paris 1996, S. 139f. Vgl. auch mit Blick auf den Einfluss des Ersten Weltkriegs auf eine ganze Generation deutscher Kinder zwei Erklärungsmodelle bei Peter Loewenberg, The Psychohistorical Origins of the Nazi Youth Cohort, in: ders., Decoding the Past. The Psychohistorical Approach, New York 1983, S. 240-283, und Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, Stuttgart 2000.

45 Zum Gebrauch psychoanalytischer Theorien in der Geschichte vgl. z.B. Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Geschichte und Psychoanalyse, Köln 1971; Saul Friedländer, Histoire et psychanalyse. Essai sur les possibilités et les limites de la psychohistoire, Paris 1975; Peter Gay, Freud für Historiker, Tübingen 1994; Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004.

46 Sigmund Freud, Obessions et phobies. Leur mécanique et leur étiologie [1895], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 1: Werke aus den Jahren 1892-1899, 5. Aufl. Frankfurt a.M. 1977, S. 343-353, hier S. 346f.

47 „Certains même redoutaient que les juifs, jusqu’alors dispersés, mais qui étaient restés ce qu’ils avaient été de tout temps, c’est à dire un peuple d’élite, sûr de lui-même et dominateur, n’en viennent, une fois rassemblés sur le site de leur ancienne grandeur, à changer en ambition ardente et conquérante les souhaits très émouvants qu’ils formaient depuis dix-neuf siècles.“ Die Presseerklärung ist online verfügbar unter URL: <http://www.obsarm.org/dossiers/damo/palestine/de-gaulle.htm>. Zu de Gaulles Haltung zum Sechstagekrieg vgl. Samy Cohen, La rupture entre de Gaulle et Israël, in: Israël. De Moïse aux accords d’Oslo, Paris 1998, S. 504-519.

48 Annette Wieviorka, L’ère du témoin, Paris 2002, S. 137.

49 Raymond Aron, De Gaulle, Israël et les Juifs, Paris 1968, S. 70 (Hervorhebung P.W.).

50 Ebd., S. 17. (Edouard Drumont war seit Mitte der 1880er-Jahre Herausgeber der antisemitischen Zeitschrift „La Libre Parole“, Charles Maurras war als Leiter der 1899 gegründeten rechtsextremen, antisemitischen und militanten Organisation „Action Française“ seit Ende des 19. Jahrhunderts der wichtigste Vordenker der französischen Rechten. Beide spielten bereits während der Dreyfus-Affäre eine Rolle.)

51 Pierre Vidal-Naquet, zitiert in der Diskussion „Les juifs de France ont-ils changé?“, in: Esprit, April 1968, S. 583.

52 Alberto Eiguer, Le faux-self du migrant, in: René Kaës (Hg.), Différence culturelle et souffrances de l’identité, Paris 1998, S. 89-106, hier S. 100, spricht von der Verzweiflung des Kindes, von der Gefahr, die von der Unvorhersehbarkeit, dem „Außer-jeder-Reichweite-Liegenden“, der Situation ausgeht, in der das Kind sich befindet, das den Betrug eines Elternteils entdeckt.

53 Erwähnt werden muss jedoch der hämische Versuch von Stéphane Zagdanski, Pauvre de Gaulle, Paris 2000.

54 Abdelmalek Sayad, La double absence. Des illusions de l’émigré aux souffrances de l’immigré, Paris 1999, S. 327.

55 Ebd., S. 352.

56 Stéphane Beaud, 80% au bac... et après? Les enfants de la démocratisation scolaire, Paris 2002, S. 267.

57 Léon Blum und Maurice Viollette gehörten ab 1936 als Premierminister bzw. Staatsminister der Regierung der Volksfront an (Koalition aus Radikalen, Republikanern und Sozialisten mit Unterstützung durch die Kommunisten). Viollette war zuvor zwischen 1925 und 1927 Generalgouverneur in Algerien.

58 Benjamin Stora, Le transfert d’une mémoire. De l’„Algérie française“ au racisme anti-arabe, Paris 1999.

59 Zur Bedeutung des zweiten Schocks vgl. Claude Barrois, Les névroses traumatiques, Paris 1998, S. 172.

60 Vgl. dazu Mohand Hamoumou, Les harkis. Un trou de mémoire franco-algérien, in: Esprit, Mai 1990, S. 25-45; Charles-Robert Ageron, Le „drame des harkis“. Mémoire ou histoire?, in: Vingtième Siècle 68 (2000), S. 3-15; Guy Pervillé, Les historiens de la guerre d’Algérie et ses enjeux politiques en France, Vortrag im Kolloqium „Les usages politiques du passé dans la France contemporaine des années 1970 à nos jours“, Centre d’Histoire sociale du 20ème siècle, 25./26.9.2003, online unter URL: <http://histoire-sociale.univ-paris1.fr/Collo/perville.pdf>.

61 Jean Paul Dubois, Éloge du gaucher dans un monde manchot, Paris 1986, S. 214. Dubois vergleicht hier „metaphorisch“ die Situation der harkis mit derjenigen verhinderter Linkshänder, die nicht wieder die richtigen Linkshänder werden können, die sie eigentlich sind, die sich jedoch in der Familie der Rechtshänder nicht wohlfühlen und niemals wohlfühlen werden.

62 André Green, La position phobique centrale, in: Revue française de psychanalyse 64 (2000), S. 743-771, weist darauf hin, dass die mit Traumata verbundenen psychischen Phänomene nicht insgesamt auf das älteste Trauma zurückgeführt werden können, sondern dass hierfür die Gruppierung verschiedener, sich gegenseitig evozierender Traumata zu berücksichtigen ist.

63 Vgl. dazu Nacira Guenif-Souilamas, En finir avec l’impensé colonial, in: Libération, 24.1.2002.

64 Michel de Certeau, Ce que Freud fait de l’histoire. A propos de „Une névrose démoniaque au XVIIe siècle“, in: Annales ESC 25 (1970), S. 654-667.

65 Antoine Raybaud, Deuil sans travail, travail sans deuil. La France a-t-elle une mémoire coloniale?, in: Dédale Nr. 5/6 (Frühjahr 1997), S. 87-104, hier S. 96.

66 Vgl. zur Entgegensetzung von ethnischer und republikanischer Konzeption der Nation Gérard Noiriel, Le Creuset français, Paris 1988; Patrick Weil, Racisme et discriminations dans la politique française de l'immigration: 1938-1945/1974-1995, in: Vingtième Siècle 47 (1995), S. 74-99; Dominique Colas, La citoyenneté au risque de la nationalité, in: Marc Sadoun (Hg.), La démocratie en France, Bd. 2: Les limites, Paris 2000, S. 115-223.

67 Journal Officiel, Doc. Parl. Sénat, 7.12.1922, No. 734 (Hervorhebung P.W.).

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