„Virtual History“

Geschichte als Fernsehen

Anmerkungen

 

CGI (computer generated image) von Churchill, Stalin, Hitler und Roosevelt, 2004
(Discovery Channel International [DCI] und Animal Planet [AP])

1. Mediale Historiographien

Der folgende Artikel widmet sich aus medienwissenschaftlicher Perspektive einem Problem der „televisiven Historiographie“. Darunter ist nicht nur die Darstellung der Geschichte und der Zugang zur Geschichte durch Fernsehen zu verstehen, sondern der Gesamtkomplex, in dem sich die Geschichtsdarstellung und -konstitution mit der Geschichte des Mediums selbst überlagert. Das wird hier anhand des Formats „Virtual History“ entfaltet, welches der Sender „Discovery Channel“ entwickelt hat. Dieses Sendeformat versucht mittels aufwändiger digitaler Techniken, Bildmaterial von historischen Ereignissen neu zu produzieren, das dennoch einer historischen „Realität“ entsprechen soll und als „authentisch“ ausgegeben wird. Solche Techniken finden im Fernsehen heute weithin Anwendung. Ausgehend von der These, dass das Fernsehen generell weniger dem Authentischen als dem Falschen und der Verfälschung verpflichtet ist, fragt der Artikel nach der „Indexikalität“ virtueller digitaler Fernsehbilder (ein Begriff, der im Folgenden noch erläutert wird). Im Anschluss an Maurice Halbwachs’ Unterscheidung von Geschichte und Gedächtnis wird die These entwickelt, dass der klassische Film mit der Konstitutionslogik der Geschichte korrespondiert, während das Fernsehen ein paradoxes Gedächtnismedium ist: Indem es überall dabei (gewesen) sein will, unterläuft es die operative Gedächtnisfunktion, zwischen Erinnern und Vergessen zu unterscheiden.

Die Annahme, dass das Fernsehen stets verfälscht und fälscht, ist nicht sonderlich originell, und man darf für sie schwerlich Einschaltquoten erwarten. Nun liebt aber das Fernsehen alles Langweilige; sein Erfolg beruht eben darauf.1 Deshalb ist es kein Wunder, dass die Falschheit des Fernsehens besonders dem Fernsehen selbst so viel Aufmerksamkeit wert ist. Sendungen, die die Falschinformation oder überhaupt den Fälschungscharakter, mindestens jedoch Irrtümer und Fehlgriffe des Mediums aufdecken, feststellen und beklagen, sind sehr beliebt. Denn sie wiederholen das, was immer schon gesendet wurde, und entdecken dabei genau das, was wir immer schon wussten: Fernsehen heißt Fälschen und Fehlgehen. Das Fernsehen vom Vortag ist im Licht des heutigen das falsche, verfehlte Fernsehen gewesen. Selbst und gerade da, wo das Fernsehen sich gar nicht selbst betrachtet, thematisiert und kommentiert, lässt es das Frühere als das Falsche, das lächerlich Gefälschte oder seltsam Verschobene, Verfehlte erscheinen. Jeder Blick in einen zehn Jahre alten „Tatort“ mit seinem verzerrten Bemühen, eine Zeitstimmung, ein damals für aktuell gehaltenes Thema, ein seinerzeit aufsehenerregendes Milieu einzufangen, kann das bestätigen. Selbst an alten „heute“-Sendungen erkennen wir leicht die Unangemessenheiten und Irrtümer des Nachrichtenformats, und sei es nur an den jeweils im Rückblick schlecht sitzenden Kleidungsstücken der Sprecher: Die äußere Erscheinung relativiert im Bild- und Oberflächenmedium Fernsehen die Ordnung des Gesagten. Die unmodische Figur markiert eine Differenz und verweist darauf, dass das damals für wichtig Erachtete im Rückblick vielleicht nicht mehr das historisch Relevante ist. Falsche Kleidung im Fernsehen steht schon in seinen Fiktionsformaten für das Falsche schlechthin.2 Sie wirkt ähnlich komisch wie die Effekte in alten Horrorfilmen, als Fälschung, als „Mache“ leicht durchschaubar. Jede neue Fälschung und jeder neue Irrtum überlagert dabei die früheren als deren Korrektur, jede Überarbeitung trägt sich in die Kette der Selbstüberarbeitungen ein, die wiederum nichts anderes ist als das Fernsehen selbst. So ordnet das Fernsehen Gegenwart in Relation zur Vergangenheit an und stattet sich mit einer Geschichte aus, in der das Vergangene, Falsche, in Differenz zum Gegenwärtigen, Richtigen oder Wirklichen treten kann – und in der wir folglich befugt sind, im Gegenwärtigen das je zukünftig Falsche und Fehlgehende zu vermuten. Das Fälschen und Verfehlen, Entdecken und Überarbeiten im Fernsehen und durch Fernsehen ist in diesem Sinne „historiogenetisch“: Es konstituiert in einer Eigenbewegung die Geschichte des Fernsehens im selben Maße, in dem es sie beschreibt.3

Es ist sehr wichtig, sich diesen Vorgang vor Augen zu halten, weil er den Kern dessen ausmacht, was man als „mediale Historiographie“ bezeichnen kann. Deren Erforschung bildet einen medienwissenschaftlichen Schwerpunkt an der Weimarer Bauhaus-Universität.4 Die Analyse medialer Historiographien geht davon aus, dass das Verhältnis von Medien und Geschichtsschreibung in zweifacher Weise ein Doppeltes ist. Es ist zum einen ein Doppelverhältnis, weil die Geschichtsschreibung stets der Medien bedarf. (Auch die Schrift, die die Geschichtsschreibung in Dienst nimmt, ist ein Medium, und die Dokumente, mit denen [Zeit-]Geschichtsschreibung zu tun hat, sind ebenfalls Medienprodukte: Texte, Bücher, Bilder, Fotos, Tonaufzeichnungen, Film- und Fernsehdokumente.) Kein einziges Vorkommnis ist ein Ereignis – schon gar kein historisches –, bevor es nicht in einem stets medienabhängigen und medieninduzierten Vorgang dazu gemacht wird, durch Beobachtung und Selektion, durch Information und Mitteilung. Es „gibt“ in diesem Sinne keine Geschichte – und nichts zu beschreiben –, sie wird vielmehr gemacht. Geschichte ist die mediale Bearbeitung des Geschehenen, die ausschließlich in der jeweiligen Gegenwart und zu deren Zwecken erfolgt.5 Diese Medien aber sind – und das ist eine medienwissenschaftliche Kernüberzeugung – auf keinen Fall neutral gegenüber dem, was sie aufzeichnen und speichern, übertragen und bearbeiten. Jedes Medium besitzt eine eigene Epistemologie, eigene Selektionskriterien und eigene Temporalstrukturen. Je nach Medium fällt schon die Definition eines Ereignisses sehr verschieden aus, erst recht seine Eingrenzung, seine Kontextualisierung usw. Der Beitrag der Medien zur Geschichtsschreibung ist also nicht nachträglich, sondern konstitutiv. Alle Geschichte ist Geschichte der Medien.

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Die zweite Doppelung im Verhältnis von Medien und Geschichtsschreibung überformt diese erste. Denn die Medien produzieren nicht nur die Geschichte, sie sind ihrerseits auch historisches Produkt, sie haben und durchlaufen selbst eine Geschichte und sind nicht ohne Geschichte denkbar. Diese Geschichte der Medien ist ihrerseits wiederum abhängig von den Medien, durch die sie beobachtet, dokumentiert und dargestellt wird. Und insofern Medien sich selbst beobachten, produzieren sie unentwegt ihre eigene Geschichte, im Doppelsinn: als Geschichte ihrer Umwelt, die sie stets aufs Neue schreiben, und als ihre eigene Geschichte, mit der sie sich immer neu ausstatten und die sie genau dadurch antreiben.6

Grob vereinfacht lässt sich sagen, dass das, was wir gemeinhin in unseren Forschungs- und Bildungseinrichtungen als „Geschichte“ selbstverständlich voraussetzen, nichts anderes ist als ein Selbstverfertigungsunternehmen der Schrift- und Buchkultur. Mit dem Vordringen immer neuer und anderer Medien aber gerät die Selbstverständlichkeit der Schrift- und Buchkultur unter Druck. Schon in der Auseinandersetzung mit dem seit über 100 Jahren eingeführten Medium Film ist dieser Druck zu spüren – das bestätigt etwa die Auseinandersetzung um Oliver Hirschbiegels und Bernd Eichingers „Der Untergang“ (2004).7

2. Fernsehen und Geschichte

Im Unterschied zu anderen Konzeptionen von Geschichte und Vergangenheit geht es dem Fernsehen nicht darum, wie „es“ eigentlich gewesen ist, sondern darum, wie es eben nicht oder nicht genau gewesen ist. Die Repräsentation der Vergangenheit im Fernsehen, eingeschlossen diejenige des Mediums selbst, funktioniert über Wiederholung und Abweichung. Sie gilt nicht einer ursprünglichen historischen Wahrheit, die es herauszufinden gälte, sondern dem Irrtum oder der Unvollständigkeit und Verzerrtheit früherer Darstellungen und Ansichten, also der Abweichung oder gar einer Fälschung, die es freizulegen gilt. Und diese Freilegung ihrerseits kann und wird später erneut korrigiert werden. Die Abweichungsbewegung, die die Differenz von Früherem und Späterem eröffnet, erlaubt zugleich eine Wiederholung des Früheren, die Produktion von Redundanz.8 Die ungebrochen populären Geschichtsformate des Unterhaltungsfernsehens – mit ihrem Flaggschiff „ZDF History“, den „Detektiven der Vergangenheit“, aber auch jüngst mit den aus gegebenem Anlass inflationierten Dokumentationen der Ereignisse von 1989 – belegen diesen Mechanismus. Auf der einen Seite stellen sie durch die wieder und wieder erfolgende Aussendung der immer selben Bilder (Genscher auf dem Balkon in Prag, Schabowski in der Berliner Pressekonferenz vom 9. November, die nächtlichen Demonstrationen in Leipzig und später in Dresden usw.) fest, was wir immer schon einmal gesehen und gewusst haben. Zugleich aber signalisiert die Wiederholung, ebenso der Formatwechsel in das historische Format hinein, dass nicht nur wir Zuschauer, sondern auch das Fernsehen selbst die Tragweite der Bilder früher falsch eingeschätzt haben oder aus einer Situation heraus gar nicht ermessen konnten, die sich eben erst dem Rückblick als eine historische darbietet. Was, obschon eine Spitzenmeldung, so doch eben eine Fernsehmeldung des Tages war, hat eine historische Tragweite bekommen, die den vom Fernsehen als Gegenwart damals abgesteckten Rahmen übersteigt.

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Zusätzlich sind die Geschichtsformate darum bemüht, die Hintergründe immer neu auszuleuchten und erkennbar zu machen, was damals „eigentlich“ geschehen ist. Sehr gern werden zu diesem Zweck Interviews verwendet, die die Handlungsträger von damals zeigen, wie sie nun, alt geworden, noch einmal neue Überlegungen anstellen. Besonderer Wert wird dabei auf das Eingeständnis von Fehleinschätzungen gelegt. Ähnliches gilt für die Bilder vom 11. September 2001: Indem sie von der Schockmeldung ins historische Format überführt werden, werden sie zu Belegen dafür, was man damals nicht wusste, wissen oder ahnen konnte. Der spektakulärste Standardfall für das Verfahren ist jedoch die Ermordung des Präsidenten Kennedy 1963, die immer aufs Neue Anlass gibt zur Revision und Erweiterung der Kette von Fehldeutungen, Fälschungen und Irrtümern, die längst das eigentliche Objekt der Fernsehdarstellung ist, weil das Medium darin seine eigene Geschichte mit (re)produziert.

Relativ neu allerdings sind Sendeformate, in denen nicht eine frühere Sendung als Fälschung, Fehlschluss und Irrtum erwiesen wird, in denen also nicht erst auf eine spätere Sendung gewartet werden muss, um die frühere als Fälschung und Verfehlung zu erkennen, sondern in denen schon die Sendung selbst über ihren Fälschungscharakter Auskunft gibt. Von der Fremdreferenzbehauptung – Fernsehen als im Nachhinein durch späteres Fernsehen erkennbar gemachte Fälschung der Wirklichkeit außerhalb des Fernsehens – geht dieses Format zu einer Selbstreferenzbehauptung über: Fernsehen als Fälschung seiner eigenen Präsenz. Interessanterweise laufen solche Formate unter der Bezeichnung „Reality“, „Reality Soaps“, „Reality Shows“ und dergleichen.9 Professionelle Schauspieler begreifen hier ihre Rollen genau so, wie Laienschauspieler es tun würden in dem Bemühen, besonders authentisch zu wirken. Die Dialoge, etwa in Gerichts- und Konfrontationssendungen, aber auch in Ermittlerserien wie „Lenßen und Partner“ (SAT 1), sind auswendig gelernte und aufgesagte Texte, die umgangssprachlich improvisierte Rede nachahmen. So werden Alltagssituationen als immer schon dargestellte, artifiziell verfertigte Situationen inszeniert.

Nicht zufällig geht es in all diesen Formaten ganz überwiegend um falsche Rede, um Lügen – vor Polizei und Gericht, in der Beziehung und der Familie, reflexiv in den Situationen des Studio- und Fernsehalltags selbst (z.B. bei „TV Kaiser“, RTL). Nur im Zuge ihrer artifiziellen Verfertigung, als Fälschungen also, kommen diese Situationen überhaupt vor. Nichts davon ist real, alles ist falsch, das ist die Realität. Das Fernsehen ist in diesen Formaten dazu übergegangen, uns nicht nur das Produkt der Fälschung vorzuführen und das je Frühere vom Gegenwärtigen aus ins Falsche zu verweisen, sondern das je Gegenwärtige unter unseren Augen als Produktion einer Fälschung auszuführen – und sich als Agentur des Falschen und des Fälschens selbst vorzuführen. Das geschieht, es geht nicht anders, wiederum fälschlicherweise: Denn das Falsche am Fernsehen ist ja gerade als das Langweilige das Wirksame daran, und mithin das Wirkliche. Wie für die Zeiterfahrung der Langeweile verbindlich, wird hier nicht mehr zwischen Vergangenheit und Gegenwart und der Gegenwart als zukünftiger Vergangenheit unterschieden. Die Gegenwart tritt in Differenz nicht mehr zu den anderen Zeitebenen, sondern zu sich selbst, sie ist gleich doppelt vorhanden – zum einen als Fälschung und zum anderen als die – richtige, wahre, wirkliche – Ebene, von der aus die Fälschung sichtbar gemacht wird. Dabei wissen wir nie, welche Ebene die andere fälscht. Genau reziprok zu den Beglaubigungsstrategien früherer Dekaden des Fernsehens, bei denen sich die verschiedenen Ebenen gegenseitig authentifizierten, erweisen sie sich hier gegenseitig als falsch und gefälscht.10

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Zur Verdoppelung der Gegenwart in zwei Stränge, die sich gegenseitig als Fälschung entlarven, gibt es ein Komplement – zumindest in dem Experiment der „Virtual History“, welches im Folgenden näher untersucht wird. Bei diesem Experiment geht es darum, von der Enttarnung der Vergangenheit als Fälschung umzuschalten auf die Produktion der Gegenwart als Fälschung, genauer: als Fabrikation der Vergangenheit. Und zwar einer Vergangenheit, die „so“ nie „gewesen“ ist, die „es“ aber trotzdem „gibt“. Diese Vergangenheit fungiert allerdings – gerade dann, wenn sie thematisch auf einen gesicherten geschichtlichen Bestand referiert – nicht mehr im Register des Historischen, sondern in demjenigen des Gedächtnisses, und zwar eines künstlichen Gedächtnisses des Fernsehens selbst.

3. „Virtual History“

Das Experiment wurde im Jahr 2004 von dem weltweit operierenden Satellitensender „Discovery Channel“ unter dem Titel „Virtual History“ unternommen.11 Es sollte eigentlich der Beginn einer neuen Sendereihe sein, die jedoch nie produziert wurde. Im Zentrum standen dabei künstlich, d.h. nachträglich verfertigte und in einer noch zu beschreibenden Weise rückdatierte (in einem landläufigen Sinne also: gefälschte) Archivalien. Es handelt sich ausdrücklich um heutige Produktionen dokumentarischer und damit zeitgenössischer Fernseh- bzw. Filmaufnahmen zu historischen Sachverhalten. Die experimentelle Pilotsendung war in der Grundstruktur zweiteilig aufgebaut: In der umfangreichen Rahmendokumentation wurde im Stile eines „Making Of“ die Verfertigung dieser künstlichen Archivalien ausführlich dargestellt. Der Zweck des Unterfangens war es, Archivlücken zu schließen und die stete Wiederaufführung der immergleichen, sattsam bekannten spärlichen Bilddokumente durch die Präsentation spektakulärer neuer Dokumente zu durchbrechen. Der so hergestellte Fernsehbeitrag dann, der im Stil einer kompilierten und kommentierten Dokumentation noch nie gesehenes (selbstverständlich: es war ja zuvor inexistent) Dokumentarmaterial präsentierte, bildete den anderen, eingeschobenen Teil.

 

Szene aus der Pilotsendung „Virtual History“ des Senders „Discovery Channel“, 2004
(DCI/AP)

Das Thema dieser künstlichen Dokumente waren – vierfach gegliedert – die Ereignisse des 20. Juli 1944. Im Mittelpunkt stand das Attentat auf Hitler in dem „Wolfsschanze“ genannten Hauptquartier in Ostpreußen, dann der – angebliche – Herzanfall, den Roosevelt am selben Tag in seinem Präsidialwaggon im Regierungs-Sonderzug erlitt, weiter ein Gespräch, das Churchill mit seinen Beratern über die Möglichkeit von Giftgasangriffen auf Deutschland führte, sowie schließlich die Entscheidung Stalins, die Rote Armee die sowjetisch-polnischen Grenzen überschreiten zu lassen und damit den Krieg über das Territorium der Sowjetunion hinauszutragen. Für jedes der vier Vorkommnisse des 20. Juli 1944 wurden – eben nicht: originalgetreu gefälschte, sondern: original angefertigte – Filmdokumente samt Originalton eingesetzt. Keinerlei Spielszenen, kein Reenactment im Stile etwa Heinrich Breloers, keine Zeitzeugenaussagen, keine Experteninterviews und andere der gängigen Authentifizierungstechniken des Fernsehens wurden dabei verwendet. Lediglich ein Kommentar unterstützte die Übergänge von einem Dokument zum anderen.

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Filmstills aus „Virtual History“
(DCI/AP)

Diese Kompilation wurde aber nicht einfach unvorbereitet ausgestrahlt, sondern zunächst wurde ihr Zustandekommen erläutert, die Fabrikation der falschen Dokumente. Aus – vom Kommentar so bezeichneten – echten Dokumentaraufnahmen, also aus Material von 1944, das die vier Hauptfiguren Hitler, Roosevelt, Churchill und Stalin zeigt, waren mithilfe digitaler Bildanalyse die Gesichter, Haltungen und Bewegungsmuster abgenommen worden. Anschließend wurden die Muster algorithmisch rekonstruiert. Zweitens wurden die Szenen, die dokumentiert werden sollten, mit Schauspielern in möglichst realistischen, überwiegend nach Fotos oder erneut nach Dokumentarfilmaufnahmen der Zeit rekonstruierten Settings inszeniert. Dabei hielt man sich im Fall des Hitler-Attentats an die bereits früher vorgenommenen Rekonstruktionen des historischen Ablaufs und seiner Umstände (wie die sattsam bekannten Verspätungen und Verschiebungen – die Zufälle, die zum Scheitern des Attentats führten). In den anderen zu dokumentierenden Episoden war die Gestaltung etwas freier, da hier genaue Zeugenaussagen und Schriftdokumente nicht in vergleichbarem Umfang vorlagen.

Die Spielaufnahmen der Vorkommnisse wurden digitalisiert und mit den aus den echten Dokumentaraufnahmen gewonnenen Visualisierungen und Bewegungen überarbeitet. So wurden Hitlers Gesicht und Haltung, Roosevelts Mimik und Stalins Bewegungsmuster an Stelle derjenigen der Schauspieler in das Bild hineingerechnet. Im nächsten Schritt wurde das so gewonnene Bild digital mit den Anmutungsmerkmalen und den fingierten Gebrauchsspuren echten Archivmaterials sowie mit den Farbtemperaturen von Filmdokumenten aus den 1940er-Jahren versehen. Schließlich wurden echte Dokumentaraufnahmen digitalisiert und derselben Anmutung unterzogen, so dass sie nahtlos in den laufenden Fluss der künstlichen Dokumente eingeschnitten werden konnten. Auf diese Weise konnten die noch nie gesehenen Aufnahmen sich in den bereits bekannten Aufnahmen gut abstützen und mit ihnen einen gemeinsamen Kontext bilden.

Diese beiden letzten Schritte, die Ausstattung der künstlichen Archivalie mit Gebrauchsspuren und Anmutungsdetails sowie ihre visuelle Beiordnung mit historischen Aufnahmen, verdienen eigens Aufmerksamkeit. Denn nur sie sind es, die es berechtigt erscheinen lassen, bei der „Virtual History“ überhaupt von einer Fälschung zu sprechen. Eine Fälschungs- und Täuschungsabsicht liegt hier nämlich im engeren Sinne nicht vor, ganz im Gegenteil: Es geht zunächst um Aufklärung. Der Rahmenbeitrag kündigt den künstlich erzeugten Dokumentarfilm als „High end of CGI“ an, als ultimativen gegenwärtigen Stand der Computerbildsimulation (CGI = computer generated imagery). Die Zuschauer erhalten zudem auch keinerlei neue historische Information: Alles, was die neuen Aufnahmen sichtbar machen, ist in seinem Tatsachengehalt entweder sattsam bekannt oder aber weitgehend irrelevant. Als aufschlussreiche Quelle sind diese neuen Aufnahmen somit weder funktionstüchtig noch überhaupt angelegt. Vielmehr werden sie durch ihre technisch vervollkommnete Abkunft aus anderen Quellen erst legitimiert. Gerade die Tatsache, dass sie keinerlei neue Information vermitteln, ihre Redundanz, macht uns vor jeder Fälschungsabsicht sicher: Die Geschichte muss nun eben gerade nicht umgeschrieben werden, anders als das in anderen Fälschungszusammenhängen immer wieder behauptet wird.

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Die zum Pilotprojekt eingerichtete, immer noch verfügbare Website beschreibt ausführlich alle technischen Aspekte der Produktion und schließt sogar einen Test in der Art eines Quiz ein, bei dem echte und computergenerierte Dokumente sowie richtige und falsche Tatsachenbehauptungen gegeneinandergehalten werden. Und ausdrücklich äußert sich der Kommentar zu Ziel und Zweck des ganzen Experiments: Endlich können die durch endlose Wiederholungen und Wiederaufführungen der wenigen immer gleichen Dokumente erschöpften Archivbestände – gerade an „Führer“-Aufnahmen – ergänzt werden. Endlich können Vorkommnisse im Bilddokument gezeigt werden, von denen wir zwar immer schon Kenntnis hatten, bei denen aber leider keine Kamera zugegen war oder von denen keine Aufnahmen erhalten geblieben sind. Die Abstützung der neuen Bilder durch die bekannten Archivbestände ist so umfassend und durch technische Verfahren abgesichert, dass deren bereits hundertfach nachgewiesene Authentizität jene neu zu stiftende zweifelsfrei abzuleiten erlaubt. Eine einwandfreie, sogar mathematisch codierte Kausalkette verbindet die neuen Dokumente mit den bekannten. Letztlich ist das Verfahren nichts anderes als eine – extrem aufwändige – Interpolation, die Archivalien erzeugt, wo bisher keine waren.

 

Virtuelle Geschichte, künstliche Gebrauchsspuren:
Stalin mit Berija und Molotow
(DCI/AP)

Nicht von möglichen historischen Tatsachen geht also die unbestreitbare Wirkung der Bilder aus, sondern – wie für das Fernsehen überhaupt bezeichnend – von der bloßen Tatsache des Bildes.12 Dabei ist zunächst – und damit kommen wir auf die künstlichen Alters- und Gebrauchsspuren zurück – die Historisierung nicht des von den Bildern dokumentierten Sachverhalts, sondern der Bilder selbst zu nennen. Die Anbringung der Verfallszeichen wie Kratzer, „Blanks“, Bildsprünge und Fehlfarben auf an sich einwandfreien, ja ausgesprochen brillanten digital errechneten Bildern stattet sie mit der Aura der Vergangenheit aus, mit einem visuellen Alterseindruck, der ihnen nicht zukommt. Sie sehen aus wie etwas, das sie nicht sind, nämlich wie alte Bilder. Die Beimengung tatsächlich alter Bilder, die noch dazu – neben den Archivspuren, die sie ohnehin tragen – mit denselben künstlichen Alterungssignalen versehen werden, verstärkt die Behauptung, es handele sich um alte Dokumentaraufnahmen. Daran ändern die Herausstellung des Verfahrens und das Bekenntnis zur Künstlichkeit der Spuren gar nichts: Wenn wir die Bilder sehen, ist der Effekt, bei allem Wissen um sein Produziertsein, überzeugend. Dabei sind weniger die Dokumente selbst als vielmehr die Einschreibungen der Zeit in sie gefälscht: So, wie nicht schon die bloße Kopie eines Gemäldes, sondern erst die Anbringung der Künstlersignatur die Kunstfälschung ausmacht, so ist es hier die visuelle und – eben nur zum Schein – nicht-intentionale Signatur der Zeit.

 

 

Die digitale Verfertigung von Hitler-Bildern
(DCI/AP)

Daneben ist ein massiver Präsenzeffekt zu nennen, ein Tussaud-Effekt, der an die Verhältnisse in Wachsmodellmuseen erinnert. Die neuen Bilder lassen einen glaubhafteren, präsenteren Hitler vor uns erstehen als jedes andere Bild zuvor. Und selbstverständlich geht es in der Dokumentation zudem um das Bild des „Führers“ als des absolut Verbotenen, gegen den die – viel spärlicheren – Stalinbilder zur bloßen Staffage herabsinken, von denjenigen der angelsächsischen Staatenlenker ganz zu schweigen. Das künstliche Dokument will überzeugender und auratischer sein als die bisher bekannten historischen Dokumente. Das liegt an der Indexikalität der Dokumente: So, wie das analoge Bild als kausale Einschreibung, ja Selbsteinschreibung des abgebildeten Objekts erscheinen kann, ist das neue, digitale Bild ebenfalls indexikalisch-technisch auf die bekannten Bilder rückführbar. Das Verfahren unterscheidet sich noch einmal in signifikanter Weise von den Verhältnissen der Simulation, wie sie Umberto Eco gültig beschrieben hat.13 Wenn, so Eco, im Wachsfigurenkabinett eine dreidimensionale Realisierung des Ateliers Leonardo da Vincis aufgestellt wird, mit lächelnd darin sitzender Mona Lisa und halb fertig gemaltem Bild auf der Staffelei samt fotografischer Reproduktion des Louvre-Originals an der Wand vor der ganzen Installation, dann liefert uns die Kopie der Kopie etwas, das als originaler als jedes Original ausgegeben werden kann: als hyperreal. Bei der „Virtual History“ ist es anders, denn wir haben es ja nicht mit einer Kopie zu tun, sondern mit einem eigenständigen Original: Diesen Hitler haben wir noch nie gesehen, es gibt ihn nur hier. Sind Ecos Hyperrealien auf einen überbordenden Iconismus, auf Ähnlichkeitsbeziehungen zurückzuführen, so sind es hier Wirkungs- und Verursachungsverhältnisse, also Indexikalien, die die Bilder der „Virtual History“ kennzeichnen. Auf das Moment der Indexikalität technischer (und anderer) Bilder bzw. Artefakte ist deshalb etwas näher einzugehen.

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4. Indexikalität und Historizität

„Indices“ nennt Alfred Gell in seiner Kunstanthropologie solche Objekte, die als Folge einer Ursache und als Ursache möglicher Folgen aufgefasst werden, denen also Bewirktheit einerseits und Wirkungsmacht andererseits beigemessen werden.14 Bei Kunstwerken etwa, so Gell, gehen wir im Allgemeinen davon aus, dass sie verursachte und sogar auf Urheber rückführbare Objekte sind. Bei magischen Objekten (aber bisweilen auch bei Kunstwerken) haben wir es mit Dingen zu tun, denen eine Wirkung auf andere Objekte oder auf Personen zugeschrieben wird. Dabei müssen die magischen Objekte oder Indices keineswegs einsinnige Werkzeuge sein, in denen sich der Wille eines einzigen personalen Verursachers, des Magiers etwa, fortschreibt. Vielmehr können hier auch andere Kräfte, kann eine verteilte Urheberschaft wirksam werden, in der etwa die herbeigerufenen Geister, die durch den Index – Kunstwerk oder magisches Objekt – auf einen Benutzer oder Betrachter (Gell spricht vom „Patienten“) einwirken und dabei durchaus eigene, vom Künstler oder Magier (Gell spricht vom „Agenten“) keineswegs kontrollierte Effekte zeitigen und Absichten verfolgen.

Dieses Modell ist gut geeignet, die Wirkungsweise der künstlichen Archivalien zu beschreiben, wenn man es um den Aspekt des Historischen ergänzt, also der spezifischen Relation, in die Gegenwart und Vergangenheit eingefügt werden. Sie umgreift nämlich bei den künstlichen Archivalien die Verflechtung zweier Kausalketten, also einen doppelten Indexikalismus. Die eine ist tendenziell magischer Art – sie überwindet die Zeit, lässt die Vergangenheit in der Gegenwart wirksam werden und geht von der Figur Hitlers aus. Diese Figur wird als Agent betrachtet, dessen Beauftragungsverhältnisse und dessen Eigenintentionen nicht mehr aufklärbar sind. Ihr wird eine eigene, zweifellos einem magischen Denken verpflichtete geisterhafte Wirkmächtigkeit zugeschrieben, die sich durch den Index hindurch, das vom historischen Hitler selbst (mit) verursachte filmisch-analoge Bild und das computergenerierte Bild vom Bild, auf den heutigen Betrachter richtet, den Fernsehzuschauer als Patienten. Sie schreibt dem historischen Hitler – semiotisch wie technisch abgesichert – die Verursachung einer im Einzelnen nicht spezifizierten Wirkungsmacht zu, und diese Zuschreibung ist es, die das computergenerierte Bild Hitlers so unheimlich wirken lässt. Dies wird vom Hitler-Mythos, von einer personifizierenden Tradition der Geschichtsschreibung und namentlich von dem Thema des Attentats, das Hitler „wie durch ein Wunder“ überlebte, wirksam unterstützt. Damit ist Hitler nicht mehr Teil einer abgeschlossenen, eben vergangenen und vom Gegenwärtigen durch eine unschließbare Differenz abgetrennten Geschichte, wie dies für ein konventionelles Geschichtsbild verbindlich wäre, das sich ja um Rekonstruktion und Verständnis des nicht mehr Vorhandenen kümmert. Die Hitlerfigur als Agent im Sinne Gells ist vielmehr fortwirkend und insofern immer noch Teil der Gegenwart. Auf diese Kausalität verlässt sich auch ein Unternehmen wie „Der Untergang“, das als Bebilderung des Authentischen daherkommt und seine historische Genauigkeit durch allerlei Begleitmaßnahmen beglaubigen lässt.15

Die andere Kausalkette dagegen liegt quer zur ersten. Sie verfährt eben nicht als Authentifizierung, sondern, im Gegenteil, als Falsifizierung – genauer: als Ausweis nicht der authentischen Herkunft, sondern der Künstlichkeit und Gemachtheit und als Berufung auf diese. Sie ist technologischer Art und als solche zunächst überhaupt zeitfrei; jedenfalls vollzieht sie sich ausschließlich in der Gegenwart. An ihrem Beginn steht nicht eine einzelne, benennbare Figur, ein Autor oder Urheber, sondern ein Verfahren mit vielen Mitwirkenden und Prozeduren, die in den Rahmenbeiträgen zur „Virtual History“ einzeln sowie in ihrem Zusammenwirken und ihrer Verursachungsfunktion aufgerufen werden. Die verursachte Wirkung wiederum sind die historischen Figuren, die im Bild und durch seine Agentur erzeugt und präsentiert werden. Die Wirkungsrichtung weist hier also umgekehrt von der Gegenwart in die Vergangenheit, sie lässt die historische Figur als Produkt gegenwärtiger technischer und ästhetischer Maßnahmen aufscheinen und auftreten. An ihrem Zustandekommen haben die Schauspieler, die Bildgenerierungsprogramme, die historischen Dokumentaraufnahmen und viele andere Faktoren einen Anteil. Und als derart gemachte impliziert die Vergangenheit auch stets Veränderbarkeit, Gestaltbarkeit. Insbesondere die digitale Hitlerfigur ist also einmal magische Ursache (einer mehr oder wenigen numinosen Wirkung), einmal selbst technologische Wirkung (des bildgenerierenden Verfahrens in seiner Komplexität); einmal Agent als Urheber unbenennbarer Wirkung durch das Bild und einmal Patient als Wirkung letztlich ebenfalls unbenennbarer (nämlich extrem komplexer) Verursachungsverhältnisse, die wiederum durch das Bild laufen.

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Die eine Kausalkette bringt die Gegenwart in den Schatten der Vergangenheit und wird als deren Fortwirken gefasst. Damit wird die historische Beziehung in Frage gestellt, die zumindest in ihrer klassisch-historistischen Variante immer voraussetzt, dass das Vergangene vergangen ist. Die andere Kausalkette lässt gar die Vergangenheit als Produkt technischer Maßnahmen auftreten und damit als abhängige Variable erscheinen. Bei beiden Indexikalketten handelt es sich immer noch um Zuschreibungsverhältnisse, beide beglaubigen sich gegenseitig, und in ihrem Zusammenwirken lösen sie zunächst die geschichtsspezifische Relation des Vergangenen und der Gegenwart in wechselseitige Abhängigkeits- und Verursachungsverhältnisse, dann aber sogar die Ursachen wie auch die Wirkungen in diffuse, nebulöse Felder einer politischen Technologie und einer nicht weniger politischen Magie auf.

5. Die Zeugenschaft und Präsenz virtueller Bilder

Bei aller Raffinesse der indexikalischen Ableitung und aller Dominanz des indexikalischen Faktors wird der iconische Effekt des Bildes, der ja in technischen Bildern auf charakteristische Weise stets mit dem indexikalischen Faktor zusammenspielt,16 hier nicht einfach stillgestellt – im Gegenteil. Er wird aber von der rein wahrnehmungsbezogenen und gestalthaften Ähnlichkeitsbeziehung abgelenkt und in einen logischen und raumzeitlichen Zusammenhang integriert, nämlich in den Zusammenhang der Zeugenschaft und der Anteilhabe. Damit ist gemeint, dass die Aufnahmeapparatur und die sie bedienenden Personen dieselbe Präsenz in Raum und Zeit besitzen wie die aufgenommenen Sachverhalte. Kamera und Kameraperson waren während des dokumentierten Vorgangs anwesend. Die Bilder beglaubigen das Dargestellte also nicht nur indexikalisch über die Relation von gezeigtem Ereignis als Ursache und verwendetem Bild als Folge, als Spur des Geschehens. Sie gehorchen nicht oder zumindest nicht vorrangig dem Diktum „So ist es gewesen“, sondern einem „So ist es, dabei gewesen zu sein“ oder „So habe ich es erlebt“. Sie beglaubigen das Geschehen stets über das Moment der Anteilhabe der Apparatur und ihres Personals am Geschehen. Dieses Motiv wiederum folgt überhaupt keinem im engeren Sinne historiographischen Interesse und fungiert also auch nicht im Rahmen von Geschichte, sondern verbindet sich vielmehr speziell mit dem Gedächtnis als einem alternativen Erschließungsparadigma des Vergangenen. So verschieben historische Dokumentarbilder das historiographische Motiv der Dokumentation, die das Vergangene distanziert und verallgemeinert, in das Motiv der Erinnerung, die über Identifikation und Partikularisierung abläuft. Entscheidend ist nicht, dass die Dokumentaraufnahmen Aufnahmen eines vorfindlichen Geschehens sind, sondern dass sie aus derselben Situation, aus demselben Raum herkommen, in dem sich auch das Ereignis befindet. Die Dokumentarbilder werden nicht als Produkt der dokumentierten Situation begriffen, sondern als ihr Teil, nicht als ihre Folge, sondern als unmittelbar gleichzeitig mit dem Geschehen.

Ein gewiss extremes, aber für die genannte Sendung zentrales Beispiel kann dies erläutern: Die unglaubliche Präsenz und Wirksamkeit von Film- und Foto-dokumenten der nationalsozialistischen Verbrechen rührt daher, dass der Aufnahmeapparat und derjenige, der ihn bedient hat, in der gezeigten Szene haben anwesend sein müssen. Die – zweifellos grauenhafte – Faszination dieser Dokumente hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass es solche Bilder überhaupt gibt.17 Das Dokument ist nicht allein Spur, sondern Teil dessen, was es dokumentiert. Es gehorcht, rhetorisch gesprochen, nicht der Figur der – indexikalischen – monstratio, sondern derjenigen der – iconischen – pars pro toto.

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Das gilt noch stärker, wenn man die Bilder von Dokumenten einbezieht, die Dokumente zweiter Ordnung, die – im konventionellen Dokumentarstück des Fernsehens: abgefilmten – Schriftstücke, die Bilder von Bildern und von Gegenständen, die in dem dokumentierten oder rekonstruierten Geschehen eine Rolle spielen. In aller Regel geht es hier nicht um den Text der Schriftstücke, der nicht lesbar wird und der, wenn er denn bedeutsam ist, häufig als typographisch eigenständige Schrift über das Bild gelegt oder als Laufschrift über das Bild gezogen wird. Das Schriftstück selbst bezieht seinen Wert in der Fernsehdokumentation nicht aus dem, was darauf steht, sondern aus seiner iconischen Funktion: Es gehört demselben Zusammenhang an, den es dokumentieren soll.

In diesem Kontext ist auch das Aufsuchen des Originalschauplatzes eines Geschehens sehr wichtig. In nahezu allen Fällen historischer Dokumentation im Fernsehen sehen wir Aufnahmen von den Gebäuden und Orten, an denen das zu rekonstruierende Geschehen stattfand oder stattgefunden haben könnte. Auch in der „Virtual History“ wird der digitalen Rekonstruktion der Handlungsorte die besondere Aufmerksamkeit des rahmenden „Making Of“ zuteil. Interessant dabei ist, dass sich dies auch innerhalb einer medialen und medientechnischen Konsequenz entfaltet, insofern nämlich, als das Fernsehen sich hier seine Grundfunktion zunutze macht, ein Übertragungsmedium zu sein, das einen Ort an einem anderen Ort sichtbar macht.18 Damit trägt der andere Ort – hier: der Originalschauplatz Wolfsschanze, Präsidentenzug, Downing Street No. 10, Kreml – Züge von Anwesenheit, denn wir sehen den Ort so, wie er hier und jetzt in unserem Gegenwartsraum – idealiter etwa dem Wohnzimmer – sichtbar gemacht wird.

Diese Vorliebe für Originalgegenstände und -schauplätze hat das Fernsehen keineswegs erfunden, sie ist vielmehr kennzeichnend für viele populäre und trivialisierende Formen der Geschichtsrepräsentation wie das bereits erwähnte Wachsfigurenkabinett;19 aber es instrumentalisiert und überformt sie. Wenn nun die verfertigten, künstlichen, interpolierten Dokumente der „Virtual History“ sich indexikalisch von authentischen Dokumenten ableiten lassen und also Gültigkeit beanspruchen können, dann belasten sie sich zugleich auch mit der dokumentarischen Logik der Anteilhabe. Wollte man die Verhältnisse moralisch wenden, könnte man sagen, dass sie genau so verantwortlich für das Gezeigte sind wie diejenigen, die „tatsächlich“ dabei waren. So profitieren die Dokumente der „Virtual History“ von der Faszination, die von dieser artifiziellen Komplizenschaft ausgeht. „Discovery Channel“ hätte ja nicht ausgerechnet Hitler wieder auferstehen lassen müssen.

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6. Geschichte und Gedächtnis als Medienformen

Für die Frage nach den Mechanismen einer televisiven Historiographie ist festzuhalten, dass die Berufung auf das Prinzip iconischer Anteilhabe überhaupt nicht mehr auf die Geschichte und das Historische als Modus und Horizont der Produktion und Verarbeitung von Vergangenheit verweist, sondern auf das davon klar zu unterscheidende Gedächtnis. Die Unterscheidung zwischen Geschichte und Gedächtnis ist insbesondere von Maurice Halbwachs seit den 1920er-Jahren aufgebracht und entwickelt worden.20 Geschichte, so Halbwachs, ist ein hauptsächlich differentielles, in Unterscheidungen und Abtrennungen verfahrendes Unternehmen. Sie setzt das Vergangene vom Gegenwärtigen und vom unmittelbaren Erleben deutlich als eigenen Wissensbezirk ab. Sie bildet im Gegensatz zur gelebten Tradition, zur mythischen Vergegenwärtigung im Ritual und zu anderen Praktiken andauernder Gegenwart einen spezifischen und methodischen Zugang zur Vergangenheit aus. Notwendig wurde diese Unterscheidung nach längerem neuzeitlichem Vorlauf – namentlich mit einer Modernisierung, die die Gegenwart als treue Fortschreibung und Fortführung der Vergangenheit nicht mehr ertragen kann, Veränderung und Wandel an die Stelle der Tradition setzt und sich damit stärker durch ihren Zukunftsbezug als durch ihren Vergangenheitsbezug definiert.

Über Halbwachs hinaus ist hier im Kontext televisiver und die Mittel digitaler Technologien nutzender Historiographien anzufügen, dass die Geschichte das Vergangene generell aus dem Horizont des Realen herauslöst und es als Mögliches rekonstruiert, um dann erst die Beziehungen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem zu untersuchen und genau darin die historische Vergangenheit zu „virtualisieren“. Diese Virtualität des Historischen, die als Teil des Realen aufzufassen ist, steht in einem komplizierten und spannungsreichen Verhältnis zu seiner Fiktionalität. Genau diese Spannung kehrt in allen Debatten um die technischen Bilder wieder. Schon Siegfried Kracauer hat der Fotografie eine dem Historischen analoge Grundstruktur zugeschrieben, und mehr noch den bewegten Bildern des Films.21 Die Unterscheidung des Fiktiven oder Imaginären – das dem Realen ebenso wie dem Virtuellen als Widerpart entgegentritt – entfaltet ihre Bedeutung zunächst mit dem modernen Film.22 Eine neue Dringlichkeit gewinnt diese Differenz bei Bildern, die jenseits des Analogen und Indexikalischen im Digitalen und Diskreten operieren23 sowie die Grenze zwischen beiden Bildtypen ausloten, indem sie analoge und digitale Bilder neu in Beziehung zueinander setzen, wie es bei der „Virtual History“ der Fall ist.

Die Geschichte setzt als Vergangenheit generierende und aufschließende Praxis und Denkweise diskrete chronologische Schnitte in das Kontinuum der Zeit, sie definiert Zäsuren und Epochen. Das ist klar ersichtlich ein Montageverfahren, wie es im Reich der Bilder mit dem Film zwar nicht ursächlich erfunden, aber durch das bewegte Bild erst ermöglicht und in gängige Praxis überführt wurde. Gerade damit ermöglicht es die Geschichte zugleich, in der Differenz zwischen den Schnitten, den Epochen-, Phasen- oder Stilgrenzen beispielsweise, den Wandel zu beobachten.

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Das Gedächtnis dagegen geht in scharfem Kontrast zur Geschichte davon aus, dass das Vergangene nicht vergangen ist, sondern in der Gegenwart weiterhin wirksam wird, vor allen Dingen aber in einem räumlichen Sinne präsent ist.24 Für das Gedächtnis bewohnt die Vergangenheit die Gegenwart auf eine ganz unproblematische, als natürlich wahrgenommene Weise; sie ist ein anderer Modus der Zeit, aber nicht etwa unzugänglich oder verloren.25 Umgekehrt klammert das Gedächtnis auch das Gegenwärtige unentrinnbar mit ein. Ohne Gedächtnis, darin stimmen die verschiedenen Varianten moderner Bewusstseinsphilosophie überein, ist Wahrnehmung – und mit ihr Gegenwärtigkeit, Präsenz – überhaupt nicht möglich.26 Genau diese unmittelbare Anteilhabe des Jetzigen am Raum des Früheren und die Einkehr des Vergangenen in den Wahrnehmungsraum der Präsenz lassen sich auch im Fall der „Virtual History“ beobachten.

7. Memory Channel: Das Fernsehen des Gedächtnisses und das Gedächtnis des Fernsehens

Die Anteilhabe am kollektiven Gedächtnis wird für Halbwachs besonders durch die Anwesenheit und Versammlung am Ort der Erinnerung, am Mahn- oder Denkmal, bestärkt. Das Fernsehen aber kehrt dies um, indem der Ort der Erinnerung an einem anderen Ort – meinem Wohnzimmer, deinem Wohnzimmer – sichtbar gemacht und insofern dorthin (teil)verbracht wird. Dies gilt im Falle der „Virtual History“ sogar für Orte, die „es“ entweder (so) überhaupt nicht mehr „gibt“ oder von denen im Wesentlichen mythologische Vorstellungen existieren wie von Stalins Arbeitsraum, der nur über das Licht, das am Fenster stets sichtbar war, als öffentlicher Raum im wahrsten Sinne des Wortes in Erscheinung trat.

Anders als die Geschichte erlaubt das Gedächtnis – so Halbwachs – keine Verallgemeinerung über die das Gedächtnis tragende Instanz bzw. das Erinnerungssubjekt hinaus, sei dies das Individuum, sei dies die soziale Gruppe oder gar eine Gesellschaft als Ganzes (Halbwachs spricht hier bevorzugt von der „Nation“). Das gemeinsame Gedächtnis begründet die Gruppenidentität. Durch das gemeinsame Gedächtnis grenzen sich Gruppen auch voneinander ab; die Pluralität der Gedächtnisse, die der Tendenz zur Universalität der Geschichte entgegensteht, begründet die soziale Funktion des Gedächtnisses. Die Geschichte behauptet stets den Einschluss des Anderen im Namen einer – natürlich in dieser Form nie haltbaren – Objektivität. Das Gedächtnis dagegen behauptet den Ausschluss des Anderen aus der Erinnerungsgemeinschaft, die das Erinnerungssubjekt mit einer Identität versieht. Beide, Gedächtnis und Identität, lösen sich auch gemeinsam wieder auf. Im Falle der „Virtual History“ geschieht dagegen eine interessante Umformung des Gedächtnisses: Über die vier Gedächtnisorte und die vier mythologischen Figuren werden vier verschiedene Gedächtnisräume nebeneinandergestellt. Sie bleiben miteinander völlig unverbunden. Am rekonstruierten Tag, dem 20. Juli 1944, erscheinen die gezeigten Episoden selbstgenügsam und gehen keinerlei Konnex miteinander ein. Sie werden auch nicht mit einer Innen- und einer Außensicht verbunden, sondern bieten lediglich vier Innensichten dar. Der Eindruck der Kontingenz der Ereignisse wird dadurch deutlich verstärkt. Anders als für eine historische Rekonstruktion verbindlich, wird hier keine Gesamtschau, keine Einordnung vollzogen sowie keinerlei historische Kausalität behauptet, sondern ein Nebeneinander des unverbunden Verschiedenen inszeniert.

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Die Partikularität des Gedächtnisses erzwingt eine weitere Unterscheidung, nämlich diejenige zwischen individuellem, personalem Gedächtnis einerseits und kollektivem Gedächtnis andererseits. Halbwachs betont, dass es ein personales, von ihm als „autobiographisch“ bezeichnetes Gedächtnis einzelner Menschen überhaupt nur in einem sehr begrenzten Maße geben könne.27 Dem entspricht die Lebenserfahrung: Woran wir uns überhaupt erinnerten, wenn wir nicht von anderen daran erinnert würden, ist nicht einmal im Ansatz ermittelbar. Das kollektive Gedächtnis als überindividuelle, soziale Instanz der Erinnerung ist gebunden an Kommunikation und damit an Kommunikationsmittel, an Medien der Speicherung (wie Fotoalben und Filmarchive) sowie nicht weniger an solche der Verbreitung (wie Wochenschauen und Fernsehsendungen). Erst das, worüber in einer sozialen Gruppe gesprochen wird, was kommunikativ zirkuliert, macht das kollektive Gedächtnis dieser Gruppe aus. Über Halbwachs hinausgehend ist also spätestens dies der Ort, an dem die Medien als Agenten des kollektiven (und folglich auch des personalen) Gedächtnisses ins Spiel kommen.

Festzuhalten ist: Die „Virtual History“ will nicht nur in einen spezifisch geschichtlichen Sinnhaushalt und seine Technologie eingreifen, sondern zugleich in das kollektive und individuelle Gedächtnis. In welcher Weise dabei das Gedächtnis umgeformt wird, hat sich im Bezug auf die televisiv erzeugte Anwesenheit des Gedächtnisortes am anderen Ort und die Pluralität der Gedächtnisse bereits angedeutet. Wirklich bemerkenswert aber wird die Transformation des Gedächtnisses erst in zweierlei weitergehender Hinsicht: im Hinblick auf das Erinnerungssubjekt einerseits, im Bezug auf die Lückenlosigkeit und damit Differenzlosigkeit des so geschaffenen künstlichen Gedächtnisses andererseits. So nämlich, wie – erstens – für die Bewusstseinsphilosophie das individuelle Bewusstsein und damit das Subjekt Träger der Erinnerung ist, so verhält es sich für Halbwachs und seine Nachfolger auch mit der Erinnerungsgemeinschaft als kollektivem Subjekt des Erinnerungsvermögens. Jedes Mal bedingen sich Erinnerung einerseits und Subjektbildung andererseits: Die personale oder kollektive Identität des individuellen oder gesellschaftlichen Subjekts der Erinnerung ist überhaupt erst Produkt seines Gedächtnisses, so wie umgekehrt zugleich das Subjekt Träger des Gedächtnisses und Autor der Erinnerung ist. Die iconische Anteilhabe, von der wir oben gesprochen haben, macht dann die Konsistenz des kollektiven Erinnerungsraums aus sowie diejenige mit dem realen Raum, dem Erfahrungsraum, in dem die „lieux de mémoire“ lokalisierbar und begehbar sind.

Im Falle der „Virtual History“ tritt nun eine dritte, in der Gedächtnistheorie bislang so nicht vorgesehene Größe zum Individuum und zum Kollektiv hinzu und damit auch ein weiteres, eigenständiges Gedächtnis. Denn die iconische Anteilhabe gilt, wie wir gesehen haben, der technischen Apparatur der Aufnahme des Bildes und, indirekt, der Institution, die den Betrieb der Apparatur und die Überlieferung der Bilder – bzw. hier: die Anfertigung der Bilder – überhaupt erst ermöglicht hat. Individuen und Kollektive kommen dabei nur als Funktionäre und Agenten der Bildgebungstechnik und ihrer Institutionen vor. Das, was hier Anteil am Geschehen hat und es deshalb bezeugen und beglaubigen kann, ist weder ein individuelles noch ein gesellschaftliches Erinnerungssubjekt, sondern vielmehr das Medium in all seiner Komplexität. Das Fernsehen selbst stattet sich mit Erinnerungsmacht aus. Es versieht sich im Nachhinein mit einem eigenen Gedächtnis, das es ihm gestattet, bei Ereignissen dabei gewesen zu sein, die es tatsächlich nie erlebt und nie gesehen hat. Das Fernsehen kann offensichtlich schwer ertragen, einmal nicht dabei gewesen zu sein. Es steht hier nicht im Dienst einer Erinnerungsgemeinschaft, sondern arbeitet autonom an seiner eigenen Identität. Daher ist es auch völlig unschädlich, ja sogar hilfreich, dass vier verschiedene kollektive Gedächtnisse zugleich ganz unverbunden angesprochen werden: Sie werden gar nicht angesprochen, sondern lediglich aufgerufen, unterschiedslos als bloße Bezirke eines und desselben televisiven Supergedächtnisses. Für das Fernsehen ist inakzeptabel, dass es einmal eine Zeit ohne – und vor (!) – dem Fernsehen gegeben haben könnte. So wenig, wie ich mich an das Leben vor meiner Zeit erinnern kann, so viel Aufwand treibt hier das Fernsehen, um eben dies zu verwirklichen: eine Erinnerung an die Zeit vor seinem Auftauchen.

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Halbwachs weist darauf hin, dass Gesellschaften sich mit Gründungsmythen ausstatten, die sie einerseits als immer schon dagewesene legitimieren und sie andererseits dennoch mit irgendeiner Art von Ursprung und Herkunft ausstatten können. Zu diesem Zweck müssen die Gründungsmythen in unnennbare und historisch undatierbare Zeiträume zurückreichen.28 Etwas ganz Ähnliches leistet das Fernsehen mit „Virtual History“ für sich selbst: Der Kommentar bekennt, dass nun Archivalien des Fernsehens in beliebiger geschichtlicher Tiefe möglich seien. Tatsächlich werden die hier verwendeten Techniken ja oft eingesetzt, um Rekonstruktionen etwa antiker Gebäude und sogar urzeitlicher Lebewesen im Rahmen von Wissenssendungen zu liefern, auch wenn sie dort nicht als künstliche Dokumente ein- und ausgeführt werden. Dass das Fernsehen sich auf diese Weise mit nachträglich angefertigter iconischer Anteilhabe am historischen Geschehen und eben darin mit einem eigenen medialen Gedächtnis ausstattet, führt dazu, dass es eine eigene Subjektqualität behaupten kann. Dies wiederum verweist uns darauf, dass das Fernsehen in der Medienevolution in eine seltsame, prekäre Zwischensituation fällt, die – sehr grob ausgeführt – das analoge mit dem digitalen Zeitalter in Kontakt bringt. Seine stets gefährdete mediale Identität befestigt das Fernsehen, indem es die digitalen Technologien in seine eigenen analogen Funktionen und Verfahrensweisen integriert – zu einem Zeitpunkt, an dem diese Funktionen durch die Vervielfältigung der Verbreitungswege und Verwertungsketten massiv zu erodieren drohen.

Das Gedächtnis des Fernsehens verhält sich zum kollektiven Gedächtnis wie dieses zum individuellen, es übersteigt es in einer anderen Dimension. Aber nicht das ist das Besondere am televisiven Gedächtnis, sondern das zweite der oben genannten Momente: Das so erzeugte artifizielle Gedächtnis des Fernsehens ist tendenziell lückenlos. Grundsätzlich hat das Gedächtnis die Funktion, zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, zwischen dem Erinnern und dem Vergessen zu unterscheiden.29 Keineswegs ist das Gedächtnis demnach als Speicher für Erinnerungen zu begreifen, vergleichbar dem Archiv, sondern vielmehr operativ: Alles, was dem Gedächtnis widerfährt, wird einer Unterscheidung unterworfen, die es entweder als etwas schon Bekanntes oder aber als etwas noch nie Dagewesenes qualifiziert und mithin auf das Erinnerte und die Erinnerung oder aber auf das Vergessen verweist. Im Lichte dieser prozessualen Theorie wäre auch die Analyse der „Virtual History“ umzustellen: vom Begriffspaar „faktisch/fingiert“ auf das Begriffspaar „bekannt/unbekannt“. Wenn man dies tut, dann wird eine weitere Paradoxie des Konzepts der „Virtual History“ sichtbar. Noch nie dagewesen seien die Verfahren und ihre Resultate, sagt der Kommentarbeitrag; noch nie begegnet seien auch die künstlichen Archivalien. Dennoch liegt ihr Clou gerade darin, dass sie als das immer schon Gesehene, mindestens als seine nahtlose Fortsetzung, betrachtet und qualifiziert werden. Das noch nie Dagewesene legitimiert sich als immer schon Bekanntes, wie wir es oben analysiert haben. „Virtual History“ verweist so auf das Erinnern und das Vergessen zugleich.

8. Fernsehen vergessen

Wenn sich nunmehr Archivalien des Fernsehens, wie der Kommentar es prophezeit und triumphierend als machbar angibt, in beliebiger Menge und in beliebiger historischer Tiefe anfertigen lassen, dann spielt die Seite des Vergessens überhaupt keine Rolle mehr. Das Gedächtnis des Fernsehens ist damit nicht nur – mithilfe der Interpolation – lückenlos, sondern überhaupt differenzlos geworden; es ist nur noch von innen bewohnbar und kann seine eigene Außenseite nicht mehr wahrnehmen. Es hört damit aber auch auf, im Sinne Luhmanns und Espositos operatives Gedächtnis zu sein. Es stellt sich darauf um, ohne Leitdifferenz zu arbeiten, sich nicht mehr als Unterscheidungsagentur zu betätigen, sondern vielmehr als Agentur beliebiger – und selbstverständlich variabler, revidierbarer, wiederholbarer – Kopplungen audiovisueller Sachverhalte. Das Gedächtnis dient dann der Wandlungsfähigkeit des Erinnerungssubjekts, nicht mehr der Identitätsbildung. Während sich das Fernsehen also einerseits fast trotzig mit einer Identität als eigenes Erinnerungssubjekt ausstattet, so hebt es diese vergangenheitsbasierte und -legitimierte Identität im Interesse seiner eigenen Evolutionsfähigkeit sofort wieder auf. Und auch dieses zweite Moment verweist uns auf den gegenwärtigen Zustand des Fernsehens, das sich genötigt sieht, sich in irgendeiner Weise den von ihm selbst als „neu“ wahrgenommenen digitalen Produktions- und Verbreitungsmedien anzuverwandeln oder sie sich anzueignen.

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Die beliebige Produktion von Archivalien ist allerdings keineswegs zur allgemein geübten Praxis geworden, und das Experiment der „Virtual History“ wurde schon nach der Pilotphase wieder eingestellt. Man kann trefflich über die Gründe spekulieren: Waren schlicht Technik- und Kostenaufwand zu hoch? Oder war die stolze Offensichtlichkeit, mit der hier dem Mythos der Authentifizierung, der Produktion positiven Geschichtswissens widersprochen wurde, doch die falsche Geste? Hätte sich das Verfahren hinter einer gefälligeren, mit den Traditionen der Schrift- und Buchkultur besser kompatiblen Argumentation um die größere historische „Richtigkeit“ tarnen und so die Konsequenzen der medialen Historiographie verwischen sollen?30 Hätte ein solches Verfahren dem Charakter des Fernsehens als Übergangsmedium zwischen traditionellen und digitalen Medien nicht besser entsprochen? Oder musste die „Virtual History“ aus Gründen eines performativen Selbstwiderspruchs eingestellt werden? Denn nehmen wir einmal an, bewegte Bilddokumente seien zukünftig in beliebiger Menge und Genauigkeit virtuell produzierbar und damit jede noch so beliebige Geschichte dokumentierbar – der Effekt wäre ein Fernsehen, das historisch immer schon da war und gerade deshalb in der Gegenwart nie vorhanden ist.31

Anmerkungen: 

1 Dazu ausführlich Lorenz Engell, Vom Widerspruch zur Langeweile. Logische und temporale Begründungen des Fernsehens, Frankfurt a.M. 1989.

2 David Buxton, From The Avengers to Miami Vice: Form and Ideology in the Television Series, Manchester 1990.

3 Vgl. Catherine Bertho-Lavenir, Histoire des médias/Histoire par les médias, in: Louise Merzeau/Thomas Weber (Hg.), Médias et mémoire, Berlin 2001, S. 91-99.

4 Vgl. dazu programmatisch: Lorenz Engell/Joseph Vogl, Editorial, in: Mediale Historiographien. Archiv für Mediengeschichte 1 (2001), S. 5-8; s.a. http://www.mediale-historiographien.de.

5 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1999, S. 569-575.

6 Siehe hierzu ausführlich: Lorenz Engell, Die genetische Funktion des Historischen in der Geschichte der Bildmedien, in: Mediale Historiographien. Archiv für Mediengeschichte 1 (2001), S. 33-56.

7 Siehe Michael Wildt, „Der Untergang“: Ein Film inszeniert sich als Quelle, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 2 (2005), S. 131-142.

8 Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 43f.

9 Deborah Jermyn, This is about real people: video technologies, actuality, and affect in the television crime appeal, in: Su Holmes/Deborah Jermyn (Hg.), Understanding Reality Television, London 2004, S. 71-90; vgl. auch Anita Biressi/Heather Nunn, Reality Television. Realism and Revelation, London 2005, S. 118ff.

10 Alle Paradoxien des negativen Selbstbezugs wären hier anschließbar, wie sie ausführlich entfaltet werden von Douglas F. Hofstadter, Gödel, Escher, Bach. Ein endloses geflochtenes Band, Stuttgart 1985.

11 Vgl. [...][Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar].

12 Vgl. Stanley Cavell, Die Tatsache des Fernsehens [1982], in: Ralf Adelmann u.a. (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, Konstanz 2002, S. 125-164.

13 Umberto Eco, Reise ins Reich der Hyperrealität [1977], in: ders., Über Gott und die Welt. Essays und Glossen, München 1985, S. 36-99.

14 Alfred Gell, Art and Agency. An Anthropological Theory, Oxford 1998, S. 12-48.

15 Wildt, „Der Untergang“ (Anm. 7).

16 Zu den iconischen und indexikalischen Qualitäten der Fotografie: Charles Sanders Peirce, Semiotische Schriften, Bd. I, hg. und übersetzt von Christian J.W. Kloesel und Helmut Pape, Frankfurt a.M. 1986, S. 193; Philippe Dubois, Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam 1998; zum Dokumentarfilm siehe Lorenz Engell, Teil und Spur der Bewegung. Neue Überlegungen zu Iconizität, Indexikalität und Temporalität des Dokumentarfilms, in: Daniel Sponsel (Hg.), Der schöne Schein des Wirklichen. Zur Authentizität im Film, Konstanz 2007, S. 15-40.

17 Vgl. die Debatte um Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München 2007; siehe dazu auch die Rezension von Ute Wrocklage: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-2-134.

18 Das Fernsehen wurde von Anfang an verstanden als „eine Apparatur mit dem Zweck, ein an einem Ort A befindliches Objekt an einem Ort B sichtbar zu machen“; so die Patentschrift des Kaiserlichen Patentamtes für Paul Nipkow; zit. nach Knut Hickethier, Geschichte des deutschen Fernsehens, Stuttgart 1998, S. 15.

19 Eco, Reise ins Reich der Hyperrealität (Anm. 13), S. 71-80.

20 Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985 (frz. Erstausg. 1950); ders., Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1985 (frz. Erstausg. 1950).

21 Siegfried Kracauer, Schriften, Bd. 4: Geschichte – Vor den letzten Dingen, hg. von Karsten Witte, Frankfurt a.M. 1971, bes. S. 15f., S. 60-65, S. 124; Bd. 3: Theorie des Films, hg. von Karsten Witte, Frankfurt a.M. 1973, S. 115ff.

22 Gilles Deleuze, Kino, Bd. 2: Das Zeitbild, Frankfurt a.M. 1991, S. 53ff.

23 Vgl. Vilém Flusser, Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen 1985.

24 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis (Anm. 20), S. 39ff., S. 68.

25 Henri Bergson, Materie und Gedächtnis [1896], Berlin 1982, S. 127-135, S. 143-151.

26 Vgl. neben Bergson auch Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins [1928], Tübingen 1980.

27 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis (Anm. 20), S. 34.

28 Ebd.

29 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 576-594, hier S. 578ff.; Elena Esposito, Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2002, S. 24ff.

30 Vgl. dazu Wildt, „Der Untergang“ (Anm. 7).

31 Joshua Meyrowitz, Überall und nirgends dabei, Weinheim 1990.

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