Selbstverantwortung als Experiment

Das Londoner „Pioneer Health Centre“ (1926–1950)

Anmerkungen

Das „Pioneer Health Centre“ kurz vor der Eröffnung, 1935
(aus: The Pioneer Health Centre. Designed by Sir E. Owen Williams, in: Architectural Review 77 [1935], S. 203-206, hier S. 204)

Im Mai 1935 eröffnete in der St Mary’s Road im Südlondoner Arbeiterviertel Peckham das „Pioneer Health Centre“ (PHC), eines der zeitgenössisch meistdiskutierten sozialmedizinischen Reform- und Forschungsprojekte Großbritanniens. In einem modernistischen Gebäude des Architekten Owen Williams befanden sich Laboratorien und Untersuchungsräume für die zwei „Medical Directors“, das Ärzte-Ehepaar George Scott Williamson (1884–1953) und Innes Hope Pearse (1889–1978). Es gab ein großes Schwimmbecken, eine Sporthalle, Clubräume, eine Kinderkrippe und eine Selbstbedienungskantine. Das Haus war für bis zu 2.000 Familien angelegt. Die Bewohner der angrenzenden Straßen wurden eingeladen, die Kapazitäten des Zentrums gegen eine Mitgliedschaftsgebühr zu nutzen – unter zwei Bedingungen: Einlass wurde nur Familien aus der Umgebung gewährt, nicht einzelnen Individuen. Diese Familien hatten sich bei der Aufnahme sowie später einmal jährlich einer Gesundheitsinspektion zu unterziehen, bei der nicht nur der Gesundheitszustand der einzelnen Familienmitglieder festgestellt, sondern dieser auch gemeinsam diskutiert wurde. Die Tätigkeit der Ärzte beschränkte sich ansonsten auf die Beobachtung des Nutzerverhaltens und auf medizinische Beratung, sofern sie gewünscht wurde. Von organisierten Aktivitäten im Zentrum wurde abgesehen – es gab keine Kurse, und die Nutzung der bereitgestellten Ausstattung war ganz den Mitgliedern überlassen.

Scott Williamson und Pearse registrierten bald überraschende Vorgänge innerhalb des sich weitgehend selbst überlassenen Betriebs. Zum einen stellte sich nach einer ersten Phase des Chaos und des Vandalismus ein freundliches Miteinander der Nutzer ein. Zum anderen begannen sich diese sowohl für ihren eigenen physischen Zustand als auch für ihre soziale Umgebung zu interessieren. Für die Ergebnisse ihres Experiments – es wurde zunächst bis zum Kriegsbeginn durchgeführt, das Centre wurde dann 1946 noch einmal in Betrieb genommen, 1950 schloss es endgültig – fanden die beiden Forscher vielschichtige Erklärungen: Die Bereitstellung einer räumlichen Struktur, innerhalb derer sich soziale Prozesse unbeeinflusst von Eingriffen von außen (bzw. von oben) vollziehen konnten, trage zur freiwilligen Übernahme von Verantwortung für sich selbst und andere bei und verbessere so die Vermittlung medizinischen Basiswissens. Die Nutzer betrieben vermehrt Sport, achteten stärker auf ihre Körper und reagierten selbstständig auf die Befunde, die die Unter-suchungen erbracht hatten. Sie legten also in steigendem Maße ein individuell vorsorgendes Verhalten an den Tag; sie fragten beispielsweise Informationen zu gesunder Ernährung, zu Hygienepraktiken und Säuglingspflege nach. Das Experiment hatte aus Sicht der Ärzte aber nicht nur eine entsprechend messbar gestiegene Resistenz gegenüber Krankheiten bewirkt und damit die Wirksamkeit ihrer Technik der „Health Promotion“ bewiesen. Es hatte auch zu mehr Partizipation, zu mehr spontanen, informellen Beziehungen zwischen den Menschen geführt und zugleich deren Bereitschaft verstärkt, aktiv am eigenen Potential zu arbeiten. Im Centre intensivierten sich Freundschaften, es kristallisierten sich die individuellen Interessen und Fähigkeiten der Nutzer deutlich heraus, das Familienleben wurde harmonischer, selbst berufliche Erfolge stellten sich ein. Nicht Zwang oder Belehrung, sondern eine stimulierende Umgebung führten offenkundig zu einem gesunden, aktiven und unabhängigen Dasein.1

Diese Darstellung der Direktoren aus den 1940er-Jahren wird seitdem recht unkritisch reproduziert. Das Peckham-Experiment ist in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach wiederentdeckt worden und diente dabei meist einem normativen Blick zurück in die Zukunft. So widmete der britische Anarchist Colin Ward 1966 ein Themenheft der Zeitschrift „Anarchy“ dem Centre. Ward erschien dieses als „a laboratory of anarchy“. Das PHC zeige, dass sich gerade bei Verzicht auf Autorität, auf Hierarchien, auf Bürokratie und Expertenmacht eine „funktionierende“ soziale Ordnung herstelle – „an exemplary parable […] of the way things ought to be done“.2 Blieben solche Anregungen in den planungsbegeisterten 1960er-Jahren auf ein Nischenmilieu beschränkt, so stießen sie im institutionenskeptischen Klima des folgenden Jahrzehnts auf größeres Interesse. Das PHC wurde nun als Alternative zum vermeintlich unübersichtlichen, ineffizienten und entmündigenden „National Health Service“ (NHS) angepriesen, der mit dem „National Health Service Reorganisation Act“ von 1973 aus Sicht vieler Kritiker sogar noch labyrinthischer geworden war. Dabei stellte der „Act“ bereits eine Reaktion auf Mitbestimmungsforderungen verschiedener Interessengruppen dar, die sich nicht zuletzt infolge von Medikamentenskandalen formiert hatten. So wurden im Jahr darauf so genannte „Community Health Councils“ eingerichtet, und es flossen mehr Mittel ins „Surveying“ der Patientenzufriedenheit.3 1976 wurde überdies mit einem „White Paper“ der Regierung zum Thema „Prevention and Health“ eine Gesundheitspolitik angeregt, die stärker individuelle Lebensstile berücksichtigte.

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In den 1980er-Jahren verstärkte sich dieser Trend noch. Ganz wie Pearse und Scott Williamson dies schon in den 1940er-Jahren getan hatten, wurde Gesundheit nun nicht als bloße Abwesenheit von Krankheit definiert, sondern als ein Potential, dem es „partnerschaftlich“ oder „anwaltschaftlich“ zur Realisierung zu verhelfen gelte – durch Förderung gesunder Lebenswelten wie persönlicher Gesundheitskompetenzen. Ein Titel wie „Total Participation, Total Health. Reinventing the Peckham Health Centre for the 1990s“4 konnte sich zudem auf einen breiten Konsens stützen, dass die Lösung der Probleme des NHS in lokal vernetzten Sozialverwaltungen („Community Care“) zu suchen sei, auch im Sinne eines „Empowerment“ gegenüber der als menschenfeindlich empfundenen Anstaltsmedizin. Kaum abzusehen war für viele Bürger- und Patienteninitiativen allerdings, dass sich ihre Partizipationsforderungen durch ein neoliberales Privatisierungsprogramm vereinnahmen ließen.5 1988 kündigte Margaret Thatcher eine Reform des NHS an, die eine verstärkte „Health Promotion“ vorsah, vor allem aber „Outsourcing“ und mehr Wettbewerb im Gesundheitssektor.6 Zwar versprach New Labour vor den Wahlen 1997, diese Marktorientierung wieder einzuschränken. Allerdings setzte Tony Blair, ohnehin ein Freund des „Social Entrepreneurship“, das Programm in seiner zweiten Amtsperiode dann doch fort. Bereits im Zeichen der sozialen Kosten dieser Ökonomisierung des Gesundheitswesens stand 2007 die Empfehlung des Journalisten Jonathan Freedland an die damalige Labour-Regierung, sich mit dem PHC zu befassen.7 War das, was Colin Ward als „Labor des Anarchismus“ erschien, also ein früher Erprobungsraum des Gesellschaftstyps der Gegenwart?

Diese These ist verschiedentlich auch von Architekturhistorikern vorgebracht worden, die Rückschlüsse von der „flexiblen“ Architektur des Centres auf die sozialen Verhältnisse darin versucht haben. Eine solche Deutung war bereits in Publikationen der Peckham-Forscher selbst angelegt, die Anfang der 1940er-Jahre wiederholt auf die aktivierende Wirkung hinwiesen, die der offene, teils nur durch Glaswände partitionierte, spontane Kontakte fördernde Grundriss des Zentrums entfaltet habe.8 Die Architekturgeschichte interpretiert das Gebäude dementsprechend als Gesellschaftsmodell.9 Herangezogen werden dabei einzelne Passagen aus dem wohl meistgelesenen Buch zum PHC – dem 1943 von Pearse und ihrer Mitarbeiterin Lucy Crocker veröffentlichten Best-seller „The Peckham Experiment“. Das Buch scheint eine Art Selbstermächtigungsnarrativ zu entfalten, heißt es doch, das Centre unterstütze „the ability [of the individual] to formulate its needs or to go out in search of them“.10 Die Peckham-Wissenschaftler benutzten zudem Begriffe, die stark an heutige Konzepte des Selbstmanagements erinnern: „Aktivität“, „Partizipation“, „Kreativität“ usw.
 

 

Die Transparenz des PHC-Gebäudes und sein fließender Grundriss spielten in der architekturhistorischen Rezeption des Peckham-Experiments schon in den 1950er-Jahren eine wichtige Rolle. Die Zeichnung entstand 1951 für den CIAM-Kongress für neues Bauen im englischen Hoddesdon, auf dem Scott Williamson einen Vortrag hielt.
(aus: George Scott Williamson, The Individual and the Community, in: Jacqueline Tyrwhitt/José Luis Sert/Ernesto N. Rogers [Hg.], The Heart of the City. Towards the Humanisation of Urban Life. CIAM 8/International Congresses for Modern Architecture [1952], Nachdruck Nendeln 1979, S. 30-35, hier S. 30)

1. Das Peckham-Experiment und die Mikrogeschichte des „präventiven Selbst“
 

Im Folgenden will ich eine etwas nuanciertere Deutung des Centres vorlegen. Zwar werde ich am Beispiel des PHC durchaus demonstrieren, dass die Beschwörung des „präventiven Selbst“11 nicht erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts begann. Vielmehr wurde schon in den 1930er- und 1940er-Jahren öffentlichkeitswirksam propagiert, bei der Gesundheitsvorsorge das kreative Potential des „ganzen Menschen“ auszuschöpfen und dabei sein unmittelbares soziales Umfeld einzubeziehen. Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erprobten Experten also neue Praktiken, die medizinische Vorsorge zu „subjektivieren“, sie zum Gegenstand individueller Deutungen und Handlungen sowie zum Kern persönlicher Verantwortungsgefühle zu machen. Darüber hinaus werde ich allerdings zeigen, dass sich der „milde“, auf Selbstführung abzielende „Regierungsstil“ des Peckham-Experiments nicht nahtlos in theoretische Konzepte einfügen lässt, die für die Gegenwartsanalyse entwickelt wurden. Das PHC nimmt nur bedingt Verschlankungs- und Flexibilisierungsimperative vorweg, die die sozialwissenschaftliche Gouvernementalitätsforschung seit einiger Zeit als Effekt neoliberaler Politikentwürfe analysiert.12

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Das spezifische Profil des PHC lässt sich mit zwei Hauptachsen der Interpretation herausarbeiten, die der folgenden Mikrogeschichte des „präventiven Selbst“ zugrunde liegen. Erstens bestand der politik- und ideengeschichtliche Hintergrund für das Präventionsregime des Centres in einem eher traditionellen Verständnis von familienbezogener Sozialarbeit auf der einen Seite und in einem evolutionsbiologischen Denken auf der anderen Seite. Diese Prägungen wiederum erzeugten im lokalen Resonanzraum unvorhergesehene Interferenzen, wie der nähere Blick auf die Interaktionen zwischen Nutzern und Betreibern des Centres belegen wird. Neues Wissen und neue Organisationspraktiken entstanden im Peckham-Experiment Mitte der 1930er-Jahre infolge der Herausforderung, die „unteren Schichten“ zur Übernahme von Verantwortung im direkten Kontakt zu motivieren – und die Wirksamkeit dieses Vorgehens zugleich fortlaufend wissenschaftlich zu evaluieren.

Zweitens zeigt insbesondere die Vorgeschichte der Schließung des Centres 1950, dass man sich die Entwicklung und Umsetzung neuer Vorsorge-Strategien im 20. Jahrhundert nicht als lineare Erfolgsstory vorstellen sollte. Das Selbstverantwortungsprinzip, das im PHC erprobt wurde, war in der Tat institutionell und ideologisch unvereinbar mit dem NHS – dies aber auch, weil die Forscher es auf eine Weise naturalisierten, die nach dem Krieg selbst unter Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftlern auf wenig Zustimmung stieß. Das PHC musste schließen, obwohl es zeitgleich ähnliche Experimente gab, die insbesondere die wirtschaftlichen und therapeutischen Potentiale der Eigenverantwortung zum Vorschein brachten.

2. Das PHC und die britische Gesundheitspolitik der 1920er-Jahre
 

Das Attribut „pioneer“ täuscht darüber hinweg, dass das PHC nicht so einzigartig war, wie seine Initiatoren dies später behaupteten. Das Centre in der St Mary’s Road hatte einen Vorläufer: Schon 1926 war in einem Reihenhaus in der Queen’s Road, wenige Straßen neben Williams’ späterem Bau, ein viel kleineres Freizeitzentrum mit medizinischen Untersuchungsräumen eingerichtet worden, das Familien aus der Umgebung offenstand. Die Initiative dazu war nicht von Pearse und Scott Williamson ausgegangen, sondern von einem Kreis wohlhabender bürgerlicher Philanthropen, die im Centre Schwangerschaftsberatung anbieten, aber auch Aufklärung über Verhütung leisten wollten.13 Schwangerschaften in der „Unterschicht“, so lautete das eugenisch grundierte Argument, seien oft „Unfälle“; gesundheitliche Risiken würden kaum bedacht. Um hier Verbesserungen zu erzielen, sei es wichtig, die Menschen persönlich in die Aufwertung ihrer Lebensumstände einzubeziehen, wie eine Denkschrift aus der Gründungsphase erklärte: „We must […] develop their inherent sense of responsibility; we must implant in their minds how essential it is for them to be in a fit state themselves before they contemplate the creation of life.“14 Um den Kontakt zur Bevölkerung herzustellen, empfahl der Text, „the inherent desire for some constructive hobby“ auszunutzen, der Zielgruppe beispielsweise Werkzeug und Nähmaschinen zu geben: „The Medical staff will take advantage of their intimacy with the parents to impress upon them the value of such Public Health matters as Vaccination, Dental Prophylaxis, the Shick test for Diphtheria and other modern advancements of proved value in preventive medicine.“15 Das erste Centre kam also in Form eines Freizeitzentrums daher, um die Bevölkerung anzulocken. Es gab einen „Club Room“, Brett- und Kartenspiele, eine Kinderkrippe; es wurde sogar eine Lizenz für den Verkauf von Tabak und Bier beantragt. Gesundheitsfürsorge, dessen waren sich die Gründer sicher, müsse auf die informelle Vermittlung von Wissen um Vorsorge bauen: „[E]ducational work, we consider, cannot be a matter of general propaganda, it must be a matter of personal and individual contact.“16

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Die Gründer des Centres griffen Anregungen auf, die bereits der 1920 veröffentlichte „Dawson-Report“ gemacht hatte. Dieser schlug zur Hebung der „Fitness“ der Bevölkerung ein Netz von Gesundheitszentren vor, die als Sammelpraxen für Hausärzte konzipiert waren. Dort sollten kleinere Operationen durch-geführt, aber auch so genannte „Physical Culture Services“ angeboten, Aufklärung betrieben und Früherkennungs-Screenings gemacht werden.17 Der Vorschlag blieb zwar auf dem Papier, er zeigt aber ein verbreitetes Krisenbewusstsein dieser Jahre. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vielen europäischen Gesellschaften ausgeprägte Sorge um die Gesundheit und Reproduktionsfähigkeit der Bevölkerung war in England durch die Veröffentlichung von Ergebnissen der Musterung von Rekruten für den Burenkrieg noch verstärkt worden. Insbesondere die weite Verbreitung der Rachitis und anderer Mangelerkrankungen spielte dabei eine Rolle, denn hier koppelte sich das Verteidigungsproblem an die Diskussion über den Umgang mit Armut, deren Ausmaß bereits vor dem Krieg deutlich geworden war.

Das PHC reagierte also auf „National Efficiency“-Diskurse, die schon vor 1914 der Deklassierungsangst angesichts des wirtschaftlich aufstrebenden deutschen Kaiserreichs entsprangen und in staatliche Maßnahmen mündeten. Zu diesen gehörte die Einrichtung des „Ministry of Health“ (1919), das obligatorische medizinische Untersuchungen in Schulen einführte.18 Parallel entstand eine Reihe nicht-staatlicher „Pressure Groups“, die sich 1927 im „Central Council for Health Education“ zusammenfanden. Zeitschriften wie „New Health“ und „Better Health“ propagierten bessere Ernährungsgewohnheiten und sportliche Betätigung. „Keep fit“ war auch das Schlagwort der Anfang der 1930er-Jahre initiierten „National Fitness Campaign“, die die britische Bevölkerung durch Propagandafilme, Appelle auf Plakaten usw. zu vorsorgendem Verhalten bewegen sollte.19
 

 

Titelseite einer Werbebroschüre für das Pioneer Health Centre in der Queens Road, späte 1920er-Jahre: Im Hell/Dunkel-Kontrast wird ein gesunder, leistungsfähiger „A1“-Mensch einer kränklichen „C3“-Familie gegenübergestellt. Die Kategorien entstammen der militärischen Musterung.
(Wellcome Library, London, SA/PHC/B.3/22/3)

Das Centre in der Queen’s Road war somit nur eine von vielen vergleichbaren nicht-staatlichen „Voluntary Organisations“ im Großbritannien der Zwischenkriegszeit.20 Dabei ist wichtig, dass seine Gründer nicht dem „progressiven“ Pol in der britischen Debatte um Armut und ihre medizinischen Folgen zuzuordnen sind – also dem Lager, das staatliche soziale Sicherungssysteme propagierte. Vielmehr steht das Projekt für die „altliberale“ Position in der Debatte. Deren Vertreter befürworteten Reformpraktiken, die situativ am „Charakter“ der Hilfsbedürftigen ansetzten, in dessen Schwäche man die Ursache für die jeweilige Unfähigkeit identifizierte, die eigene Lebenslage zu bewältigen. Letztlich kamen in Peckham Methoden der Hilfe zur Selbsthilfe zur Anwendung, die bereits Sozialarbeiter im spätviktorianischen England praktiziert hatten. Wir haben es daher mit einer Art „Settlement House“ zu tun, einer Zivilisierungsmission bürgerlicher Reformer in den „dunklen“ Gebieten der Großstadt.21 Zugespitzt könnte man formulieren, dass das PHC ein Gegenentwurf zu Absichten war, die gesundheitlichen Folgen der (strukturell bedingten) „Poverty“ durch ökonomische Umverteilung auszugleichen. Das Centre sollte den Beweis erbringen, dass es effizienter sei, die Selbstmobilisierungskräfte individuell vor Ort zu wecken, nicht zuletzt durch das moralische Vorbild des Reformers.

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1929 wurde das erste Centre aus Platzmangel geschlossen. Seither sammelte man Spenden für einen Neubau; zugleich veröffentlichten Pearse und Scott Williamson in diesem Kontext ihr Buch „The Case for Action“ (erschienen 1931). Der „devitalisierte“ Zustand der Bevölkerung sei ein nationales Problem, eine „Verschwendung menschlicher Energien“, so dass auch die beste „Gesundheitspropaganda“ nicht helfe. Bloße Mildtätigkeit und anonyme Transferprozesse würden die Lage eher verschärfen als verbessern. Die Hauptfrage laute: „Could the individual be induced to take part in prevention if the opportunity was available?“22 Aus Sicht der Autoren gab das PHC die Antwort, wie die erfreulichen Befunde der Routineuntersuchungen bewiesen. Man schien die „Verantwortung“ der Nutzer mit Blick auf den eigenen Körper erfolgreich gestärkt zu haben. Das lag für Pearse und Scott Williamson zum einen am Angebotscharakter des Centres, zum anderen an der Einbeziehung der ganzen Familie, der man die Untersuchungsergebnisse – und entsprechende Handlungsoptionen – in der so genannten „Family Consultation“ gemeinsam unterbreitete. Diese „Familiarisierung“ von Informationen, so glaubte man, machte es für die Zielgruppen einfacher, medizinisches Wissen selbstbestimmt und gewissermaßen gefiltert durch das eigene soziale Umfeld zu adaptieren, und sie stabilisierte zugleich die Basiseinheit der Gesellschaft, die Familie.

Dieser Befund differenziert die Aussagen zum Wesen sozialer Selbstorganisation, für die das Centre heute bekannt ist. Zwischen 1926 und 1943, als das Buch „The Peckham Experiment“ erschien, hatte sich viel getan. War Anfang der 1930er-Jahre noch von der „Working Class Population“ Peckhams die Rede, so wurde diese im Laufe der Zeit zur „Artisan Population“ umgedeutet, die implizit für die gesamte britische Gesellschaft stand. Vor allem aber glaubte man im PHC eine Steigerungstechnik entdeckt zu haben: Nicht die Vorbeugung fahrlässigen Verhaltens wurde zum Ziel, sondern die Förderung weitgehend unbekannter menschlicher Potentiale. Diese Offenheit gegenüber der Zukunft – damit verbunden aber auch die Offenheit, mit der humanwissenschaftliche Experten die Entfaltung sozialer Prozesse betrachteten – ist ungewöhnlich. Das gilt sowohl gemessen an den Zielen der britischen paternalistischen Sozialarbeit in der Zwischenkriegszeit als auch an den Standards des transnationalen „Social Engineering“ der ersten Jahrhunderthälfte und seinem „verfahrensgestütze[n] Vorgriff auf die Zukunft“.23 Umso mehr ist nach den „Laborbedingungen“ zu fragen, die dazu führten, dass sich das Erkenntnisinteresse der Experten im PHC verschob: von praktischen Maßnahmen im Dienste einer gestärkten Selbstverantwortung der Arbeiterfamilien hin zur Hoffnung, eine bessere Gesellschaft entwickeln und im Kleinen beobachten zu können.

3. Von der liberalen „Selbsthilfe“ zur Naturalisierung der Eigenverantwortung
 

 

Innes Hope Pearse und George Scott Williamson (links) bei einer „Family Consultation“, Ende der 1930er-Jahre
(aus: James Mackintosh, Target for Tomorrow no 5: The Nation’s Health, o.O. [London] 1944, S. 24)

Befasst man sich eingehender mit dem Quellenbestand zum PHC, wird zunächst deutlich, dass die bisherige Forschung einen zentralen Aspekt des Centres außer Acht lässt. Scott Williamson, Pearse und ihre Mitstreiter passten ihre Selbstermächtigungsthesen nämlich ab Mitte der 1930er-Jahre in eine radikal „biologische“ Weltsicht ein, deren wichtigste Kategorie die Kernfamilie war und die eine Naturalisierung der Geschlechterverhältnisse mit sich brachte. Das „Peckham-Experiment“ ließ keinen Zweifel daran, dass eine spontane „mutual synthesis“ zwischen Individuen und Familien zu beobachten sei, die fortwährend „bionomische“ Harmonie erzeuge.24 Der Verzicht auf Belehrung und Kontrolle ließ aus Sicht der Initiatoren in erster Linie die Natur zu ihrem Recht kommen. Dieses gegenüber dem paternalistischen Erziehungsgedanken der Gründungsphase veränderte „Framing“ des Projekts ist auf den Einfluss Scott Williamsons und Pearses zurückzuführen. Die beiden Mediziner waren im ersten Centre lediglich für die Untersuchungen zuständig gewesen, gewannen ab Ende der 1920er-Jahre aber zunehmend die Deutungshoheit über das PHC, das sie nun direkt mit ihrer klinischen Forschung in Verbindung brachten. Die Ärzte arbeiteten parallel zu ihrem Engagement im Centre am Londoner „Royal Free Hospital“ zu Pathologien der Schilddrüse. Dieser Forschungszweig generierte Grundlagenwissen zu Mangelerkrankungen sowie zur embryonalen Entwicklung; er unterstrich daher die Bedeutung von Austauschprozessen zwischen Umgebung und Organismus für Potentiale des Individuums. Pearse und Scott Williamson betrachteten den Wissenstransfer im PHC gewissermaßen durch die epistemologische Brille von Immunologie und Ernährungsphysiologie, die sich zu dieser Zeit vermehrt für die Rolle von Umgebungen und Bedingungszusammenhängen anstatt von Essenzen zu interessieren begonnen hatten.25

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Der Sprung der PHC-Gründer von der informellen Gesundheitsaufklärung zur quasi-physiologischen zwischenmenschlichen „Synthese“ wurde noch erleichtert durch parallel zirkulierende evolutionstheoretische Überlegungen. Biologen wie Julian Huxley (er gehörte zum wissenschaftlichen Beirat des PHC) befassten sich Anfang der 1930er-Jahre mit den Selektionsvorteilen der sozialen Kooperation und leiteten aus Naturbeobachtungen Modelle zur Verbesserung der sozialen Organisation ab. Der Mensch schien am Gipfel der Natur zu stehen, weil er die eigene ausdifferenzierte Persönlichkeit für die kontinuierliche Bereicherung und Integration seiner „Community“ einsetzen könne. In solchen Modellen ist eine Ursache der Attraktivität der Biologie für die englischen Eliten dieser Jahre gesehen worden, ließ sich mit ihnen doch ein Festhalten am Status quo legitimieren: „Kultiviertere“, gebildete Individuen schienen besser geeignet zu sein, Führungsverantwortung in der Massengesellschaft zu übernehmen. Das ermöglichte den Brückenschlag zwischen älteren, auf die Hebung der Individualmoral bezogenen Erziehungsidealen und dem szientistischen Optimismus der Zwischenkriegszeit. Der „Scientific Humanism“, den Huxley und andere propagierten, bestärkte bürgerliche Reformer in ihrem meritokratischen Wertesystem, verlieh diesem aber ein wissenschaftliches Gepräge.26

Es ist genau dieser intellektuelle Mechanismus, der im PHC griff. Wo das Centre nicht als philanthropische Hilfseinrichtung, sondern als ein „biologischer“ Feldversuch erschien, da hob dies die Legitimität des Projekts auf eine andere Ebene – gegenüber der Öffentlichkeit wie den Nutzern. Ab circa 1931 beschrieben Pearse und Scott Williamson ihre Beratungspraxis nicht mehr mit einer moralisierenden Terminologie, sondern mit einer Semantik der zwischenmenschlichen Erziehung oder Pflege („nurture“). Ihr Experiment bestand für sie nun darin, dass es einen Raum schuf, der gewissermaßen die Anreicherung einer Gemeinschaft mit sozialen Stoffwechselprodukten erleichterte und deren „Wachstum“ empirisch beobachtbar machte.27 In „The Case for Action“ war sogar von „Ansteckungen“ die Rede – ein Begriff, der in sozialmedizinischen Texten selten positiv konnotiert ist. Der „working man“, schrieben die Autoren, sei eben nicht „[as] we are generally led to believe, careless and lazy“. Der Wille zur Aktivität sei vielmehr von Natur aus im Menschen angelegt, müsse allerdings sozial stimuliert werden. „[The] problem which faced us in the Pioneer Health Centre, [was] that of education in the wide field of prevention [...]. How was this education to be achieved?“ Es habe sich gezeigt, dass man auf emotionale Beteiligung setzen müsse, auf „‚rumour‘ or ‚gossip‘“ unter Menschen, die sich nahestehen. „By means of infection with ideas and feeling, it was possible to disseminate knowledge and at the same time evoke a desire to act upon it.“28 Bereits 1931 unterstrichen die beiden Ärzte, dass man in einem neuen Centre noch entschiedener als „knowledgeable friend“ und eben nicht als distanzierte Autorität aufzutreten habe, wolle man aktivierende „Ansteckungen“ wahrscheinlicher machen.29 In dieser antizipierten Arbeit am eigenen Auftreten ist eine weitere Ursache dafür zu suchen, dass man bereits kurz nach Eröffnung des neuen Centres die „living structure of society“ selbst zu beobachten glaubte, wie es im Untertitel von „The Peckham Experiment“ hieß.

4. Forschung und soziale Interaktion im Centre 1935–1939
 

Das 1935 eröffnete PHC lief auch auf einen Selbstversuch der Wissenschaftler hinaus. Tatsächlich tauchte der Begriff „Experiment“ in genau diesem Zusammenhang erstmals prominent auf. Denn je mehr die Forscher die im Centre geschaffene Vermittlungssituation als „natürlich“ – und das hieß auch: wissenschaftlich beobachtbar – begriffen, umso häufiger mussten sie sich fragen, ob sie selbst in ihrem „Labor“ Störfaktoren darstellten. Pearse und Scott Williamson waren also von Beginn an darauf eingestellt, sich den eigenen Interventionsdrang abzutrainieren. Einer Reihe von Briefen aus den ersten Monaten des Betriebs ist zu entnehmen, dass das nicht allen Mitarbeitern leicht fiel – schließlich wurden diese mit unbehandelten Krankheiten, unsachgemäßer Handhabung von Sportgerät, vor allem aber mit ungehindert herumtollenden Kindern konfrontiert. Edith Scott Williamson, selbst Ärztin, schrieb im August 1935 an ihren Bruder: „I think it is the human element that is at fault. […] You are either understaffed, or your staff is bad. There should be a daily inspection; half an hour would do it by someone in authority. Dirt and destruction will wreck your scheme.“30 Lucy Crocker zufolge versuchten einige Mitarbeiter sogar eigenmächtig, Ordnung herzustellen, indem sie Hausverbote erteilten. Diese wurden von den „Doctors“ direkt wieder annulliert. Die Angestellten, so Crocker, seien daraufhin regelrecht von den Nutzern schikaniert worden.31 Dennoch gingen Pearse und Scott Williamson in einer Zwischenevaluation des Centres 1938 so weit zu schreiben: „It seems that ‚a sort of anarchy‘ is the first condition in any experiment in human applied biology.“32

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Nur beiläufig erwähnten sie allerdings, dass es noch einen weiteren Grund dafür gab, dass diese anarchischen Verhältnisse geduldet wurden. Die Rekrutierung von Mitgliederfamilien gestaltete sich überraschend zäh.33 Das war gravierender, als es auf den ersten Blick scheint. Denn damit stand die ohnehin wacklige finanzielle Basis des Centres auf dem Spiel – und so auch eine betriebswirtschaftliche These, die noch ganz den sozialpolitischen Motiven der ursprünglichen Initiatoren des Projekts geschuldet war. Das Centre hatte nämlich auch beweisen sollen, dass die Arbeiterbevölkerung finanziell in der Lage sei, die Kosten zu tragen für die Bereitstellung medizinischer Informationen und für die Möglichkeit, an der eigenen Gesundheit zu arbeiten. Es sollte nachweisen, dass Vorsorge nach dem Peckham-Prinzip nicht nur seitens der Adressaten angenommen werde, sondern, finanziert durch Mitgliedsbeiträge, auch kostenneutral sein könne.

Anders als später dargestellt, hatte man ursprünglich ein weit größeres Maß an Organisation vorgesehen. Es gab im ersten Jahr noch „Instructors“ für Turnhalle und Pool, und zwar jeweils für Frauen und Männer; es wurde von einer Untergliederung der Nutzer in alters- und geschlechtsspezifische Gruppen ausgegangen; sogar eine Einteilung nach Leistungsvermögen war vorgesehen.34 Diese nach Zeitplan geregelten Aktivitäten erfreuten sich indes nur geringer Beliebtheit. So entstand ein Druck zur Ausweitung der Freiheiten der Mitglieder – und damit einer bewussten Einschränkung von Sanktionsmöglichkeiten des Personals. Zugleich erhöhte sich die Sensibilität der Forscher für die Nachteile fremdbestimmter Aktivitäten.

Die so erzwungene Selbstbeherrschung rief – zumindest aus Sicht der Direktoren – Grenzüberschreitungseffekte im Verhältnis von Nutzern und Wissenschaftlern hervor. Tatsächlich wirkten einzelne Nutzer beispielsweise an der Auswertung der medizinischen Daten mit oder erläuterten Besuchern das Centre.35 Pearse schrieb 1943: „[A]t the end of four years there is little to distinguish members from staff in the social interplay of the Centre. […] The Centre has, in fact, shown itself to be a potent mechanism for the ‚democratisation‘ of knowledge and action.“36 Der soziale Alltag im Zentrum wurde offenbar auch deshalb zum eigentlichen Thema, weil man nicht umhin konnte, sich als Teil dieses Alltags zu empfinden, wenn man die eigene Autorität zumindest ansatzweise in Schach hielt. Für die Forscher – die ihre Erkenntnisse hinsichtlich der Integrationseffekte des Centres auf Spaziergängen durchs Gebäude, bei Gesprächen mit Nutzern in der Kantine usw. gewannen – konnte bald alles im sozialen „Rauschen“ des Centres, das man selbst mit generierte, zum Indiz spontaner Ordnungs- bzw. Gesundungsprozesse werden. Biologische und soziale Kategorien begannen sich immer mehr zu überlagern.

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Diese Unschärfe schlug sich in der Präsentation der Ergebnisse nieder, an der Pearse, Crocker und Scott Williamson ab 1939 arbeiteten, als das Centre kriegsbedingt schließen musste (die vielen Glasscheiben waren ein Sicherheitsproblem, eine Verdunkelung des Gebäudes nicht zu bezahlen). Als das Buch „The Peckham Experiment“ vier Jahre später erschien, war kaum zu übersehen, dass die „mechanistischen“ Präsentationsformen der Statistik aus Sicht der Autorinnen nicht geeignet waren, einen „organischen“ Prozess abzubilden. Pearse und Crocker bevorzugten Fallgeschichten, die als pars pro toto für „action patterns“ standen,37 die in der Summe kontinuierlich die beobachtete hochdynamische Ordnung erzeugten. Waren die Texte der frühen 1930er-Jahre noch relativ nüchterne Berichte, arbeiteten die Forscher später vermehrt mit unterschiedlichen Medien. Ihre Publikationen enthielten Fotostrecken; sie stellten wissenschaftlich konnotierte Darstellungsformen neben geradezu literarische Passagen, Abschnitte sozialphilosophischen Charakters neben Grafiken, die den schlechten Gesundheitszustand der Bewohner Peckhams zu Beginn des Experiments dokumentierten.
 

 

Ansteckende Beobachtung:
Blick aus der Cafeteria des Centres zum Schwimmbecken
(aus: Innes H. Pearse/Lucy H. Crocker, The Peckham Experiment. A Study in the Living Structure of Society, London 1947 [1943], S. 62)

 

„The Burden of Disorder“: Die Tabelle visualisiert die Ergebnisse der Erstuntersuchungen von 1.206 Familien, die laut „The Peckham Experiment“ in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre durchgeführt wurden. Zwei Säulendiagramme stellen nach Geschlecht und Alter differenziert die absolute Zahl der Nutzer mit einer festgestellten „disorder“ (also einer Form gesundheitlicher Beeinträchtigung) jenen ohne Auffälligkeiten gegenüber. Hinzu kommen zwei Flächendiagramme, die alarmistisch das prozentuale Verhältnis beider Gruppen illustrieren. Die statistische Diagnose geht dem Fließtext voraus; das Problem, das nach einer Lösung ruft, ist klar markiert: Nur 4 Prozent der fast 2.000 untersuchten Frauen und 14 Prozent der fast 2.000 untersuchten Männer seien gesund.
(aus: Innes H. Pearse/Lucy H. Crocker, The Peckham Experiment. A Study in the Living Structure of Society, London 1947 [1943], S. 98f.)

Nur vereinzelt wurde versucht, „action patterns“ statistisch zu erfassen. So wurde die stimulierende Wirkung des Centres in „The Peckham Experiment“ am Beispiel eines 11-jährigen Jungen verdeutlicht, dessen Verhalten die Forscher über einen längeren Zeitraum beobachtet hatten. Der Junge probierte sich zu seinen „natürlichen“ Interessen durch (er entwickelte eine Vorliebe fürs Schwimmen und Tauchen), die er dann mit zunehmender Geduld im Selbsttraining weiter vertiefte. Die anfänglich eher zufälligen Reaktionen des Kindes fügten sich also nach und nach zu einem individuellen Muster, das im Buch als Diagramm abgebildet ist. Diese Grafik blieb die einzige publizierte Formalisierung der aktivierenden Wirkung des Zentrums. Zwar wurden verschiedentlich Daten erhoben – so regelte etwa ein Ticketsystem den Zugang zu vielen Räumen und Geräten, und es wurden die mit Datum, Uhrzeit und dem Namen des Nutzers versehenen Tickets gesammelt. Allerdings weist in den Quellen nichts auf eine systematische Auswertung dieses Materials hin. Die Wissenschaftler erläuterten nie, wie sie ihre Beobachtungen festhielten. Scott Williamson baute Anekdoten aus dem Zentrumsalltag, die ihm seine Mitarbeiter erzählten, oft direkt in seine Publikationen ein.38
 

 

„Record of the spontaneous activities in the Centre, of a boy [...] age 11“: Darstellung eines zwischen Oktober 1938 und August 1939 erfassten „action pattern“, wie Pearse und Crocker die individuellen Verhaltens- und Lernmuster der Nutzer des Centres nannten. Der September 1939 ist dann als klare Zäsur erkennbar („out-break of war“).
(aus: Innes H. Pearse/Lucy H. Crocker, The Peckham Experiment. A Study in the Living Structure of Society, London 1947 [1943], S. 318f.)

In einer Zeit, als sich in der Sozialmedizin die Arbeit mit großen statistischen Datenmengen durchsetzte, schlugen die Peckham-Wissenschaftler also den entgegengesetzten Weg ein. Im PHC waren „subjective facts“, wie Scott Williamson schon 1938 geschrieben hatte,39 zur zentralen Kategorie der Produktion wissenschaftlichen Wissens geworden. Letztlich blieben die Forscher dabei eine Antwort auf die Frage schuldig, warum ein zunehmendes individuelles Wissen- und Könnenwollen spontan soziale Ordnung generierte – und nicht etwa Konflikte auslöste. „The Peckham Experiment“ bemühte in dieser Hinsicht lediglich ein suggestives Bild. An zentraler Stelle des Buchs findet sich eine Schilderung aus der Perspektive eines Kindes, das sich im Gymnastiksaal gemeinsam mit anderen auf engem Raum an Seilen entlang schwingt und dabei die eigene Route situativ derjenigen der anderen Kinder anpasst. Das Kind, hieß es hier, sei Teil einer „total situation where mutual action is undertaken in awareness of a complex situation, that situation forever changing“. Gerade die „diversity of individual specific actions“ resultierte also für Pearse und Crocker „in a harmonious whole[, an] order arising out of the capacity [...] to respond to the total situation“.40 Es war allem Anschein nach die Natur selbst, die jedes Individuum auf den ihm angemessenen „bionomischen“ Platz verteilte. Erst durch die Annahme dieser unsichtbaren Kraft wird die These des prozessbedingten Zusammenwirkens von Selbstverwirklichung und sozialer Harmonie plausibel. Ausgeblendet wurde dabei, dass Kollisionen nur bei hinreichendem Raum für alle Beteiligten zu vermeiden waren. Bemerkenswert ist dieses naturalistische Narrativ auch im Hinblick auf die spätere Rezeption. So ließen alle Empfehlungen, das Experiment zu reaktivieren, diese Naturauffassung außer Acht. Nebensächlich erschienen zudem Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Die selektive Rezeption ist umso problematischer, als genau diese Ausblendung die Hauptursache dafür war, dass das Centre bereits kurz nach Wiedereröffnung 1946 vor dem Bankrott stand – wenige Jahre nur, nachdem es auf dem Gipfel seiner Bekanntheit angekommen war.

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5. Politische Inkompatibilität, wissenschaftliche Kommunikationshürden und die Schließung des PHC 1950
 

Der Veröffentlichungszeitpunkt des Buchs „The Peckham Experiment“ fiel mitten in die sozialpolitische Aufbruchstimmung im Großbritannien der frühen 1940er-Jahre, die nicht zuletzt der Kopplung des „War Effort“ an das Versprechen einer gerechteren Nachkriegsgesellschaft entsprang. Pearse und Scott Williamson wurden für einige Zeit zu gefragten Experten. Das Buch erschien knapp ein Jahr, bevor das „Ministry of Health“ sein „White Paper“ über den künftigen „Health Service“ präsentierte. Scott Williamson war 1944 vom „Ministry of Information“ aufgefordert worden, das PHC mit Blick auf ein künftiges nationales Gesundheitssystem zu diskutieren.41 „The Peckham Experiment“ wurde in der Fachpresse – die vor allem das obligatorische „Screening“ im Centre begrüßte42 – wohlwollend besprochen; in der Tagespresse wurde das PHC begeistert kommentiert.43 Die BBC widmete dem Centre mehrere Features.44 Die Forscher gingen noch während des Kriegs auf Vortragstour. Pearse besuchte 1944 im Auftrag des „Educational Department of the War Office“ Truppen im Nahen Osten.45 1946 ließ das „Central Office of Information“ sogar einen Film über das PHC erstellen, den das „British Council“ im Ausland vorführte.46 Der wohl größte Erfolg war ein Besuch der Direktoren in den USA. Scott Williamson hatte im März 1948 die Gelegenheit, vor der Vollversammlung der UNO in Lake Success zu sprechen.47

Die Bekanntheit des Centres war also auch das Ergebnis einer intensiven Eigenwerbung.48 Allerdings scheint der Medienrummel kaum eine große Spendenbereitschaft ausgelöst zu haben, sondern vor allem den Wunsch nach einem eigenen Centre. Die Direktoren standen sich mitunter selbst im Weg. In der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre wurden kritische Stimmen lauter, die angesichts der Popularität des Zentrums unter Gesellschaftsreformern – Sozialarbeitern, Lokalpolitikern, „Nursing Schools“ usw. – dessen methodische Mängel ansprachen.49 Scott Williamson offenbarte nun erste Anzeichen einer Selbstimmunisierung gegen Kritik, wie zunehmend irritierte Briefe Julian Huxleys zeigen, der ihn vor einer vitalistischen Denkweise warnte, also vor einer normativen Interpretation des biologischen Lebensbegriffs.50 Scott Williamson schlug Kooperationsangebote anderer Forscher aus. Kollegen, die sich skeptisch gegenüber der Repräsentativität des „Samples“ seines Experiments zeigten und sich eine genauere Verifizierung der Erfolge des Centres wünschten, betrachtete er als Apologeten eines lebensfeindlichen Quantifizierungsdogmas. Sie erschienen ihm unfähig, biologische Prozesse ganzheitlich zu betrachten. Die im PHC entstandene „Theorie“ entwickelte sich daher zu einer Kommunikationsbarriere. Zu dieser Isolation wird auch Scott Williamsons Sonderstellung im Centre beigetragen haben. Der engere Mitarbeiterkreis war ihm ergeben wie einem Sektenführer.51

1949 drängte der wissenschaftliche Beirat vor dem Hintergrund der drohenden Pleite darauf, Drittmittel einzuwerben, um das Centre zu erhalten. Man setzte die Zentrumsleitung unter Druck, ein im engeren Sinne sozialmedizinisches Forschungsprogramm zu liefern, und empfahl den Einsatz eines Statistikers.52 Der „Medical Research Council“ (MRC) und das „Ministry of Health“ hatten zuvor signalisiert, dass man eine finanzielle Unterstützung davon abhängig machen werde, ob im PHC künftig nachvollziehbare Ergebnisse zu erwarten seien.53 Die Direktoren allerdings verweigerten jeden Kompromiss. Geplant war eine Fortführung des „Experiments“, finanziert durch den „London County Council“ (LCC); dieser jedoch hatte die Öffnung für Einzelpersonen und Bewohner anderer Stadtteile zur Bedingung gemacht – sowie eine teilweise Umwandlung des Centres in eine Poliklinik, die den Richtlinien des 1946 erlassenen „National Health Service Act“ entsprach.54 Pearse und Scott Williamson ließen keinen Zweifel daran, dass jede Veränderung ihres Experiments die Anonymität im Centre vergrößern und das Zusammenleben der Nutzerfamilien stören werde. So schloss das PHC, um 1952 unter LCC-Leitung als Kombination aus Gemeinschaftspraxis und Freizeitzentrum wieder zu eröffnen. Die Ex-Direktoren wurden derweil nicht müde, die Schließung auf die feindliche Haltung „des Wohlfahrtsstaats“ gegenüber Leben, Freiheit und Familie zurückzuführen.55

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An dieser Stelle wird der blinde Fleck der Peckham-Forscher besonders deutlich, der von ihrer „biologischen“ Interpretation sozialer Interaktionen herrührte. Völlig ausgeblendet wurden die sozioökonomischen Verhältnisse der Nutzer.56 Weil man davon ausging, dass die Bewohner Peckhams in einem Stadium schlummernder „biologischer“ Potentiale lebten, erkannte man in ihrem Verhalten im Centre einen wiederhergestellten Naturzustand. Übersehen wurde dabei jedoch, dass angesichts der relativen Armut vieler Mitglieder für diese nichts naheliegender war, als die dortigen Angebote und das verfügbare medizinische Wissen zu nutzen. Offenbar kamen viele Leute schlicht, um zu duschen, weil sie zuhause keine Bäder hatten, oder um für kurze Zeit von der Beaufsichtigung ihrer Kinder entlastet zu sein.57 Überhaupt scheint es, als sei die These vom Aufklärungsbedarf der Peckhamer Bevölkerung der Wahrnehmung der Forscher geschuldet, die eine hygienische Mangelsituation der Bevölkerung des Stadtteils aus dem Blick verloren. Gerade die bis zur Einrichtung des NHS für sie unbezahlbaren Routineuntersuchungen lockten die „Members“ an, die keineswegs erst zu vorsorgendem Verhalten erzogen werden mussten. In diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis wichtig, dass das PHC immer eine subventionierte Einrichtung blieb und damit eine jener spendenfinanzierten philanthropischen Institutionen, gegen die man eigentlich angetreten war. Da man den Mitgliedsbeitrag für die Nutzer nicht erhöhen konnte, verschuldete sich das Centre rasant, was die Schließung unausweichlich machte.

6. Machtverhältnisse und Nutzerdeutungen
 

 

Die junge, gesunde und aktive Kernfamilie im Zentrum:
Cover der von Nutzern des „Pioneer Health Centre“ selbst herausgegebenen Zeitschrift, Juli 1950
(Wellcome Library, London, SA/PHC/B.5/12)

Der Hinweis auf den bias der Forscher sollte nicht als Vorwurf verstanden werden. Eine zeittypische Gemeinschaftssehnsucht färbte ihren Blick; politische Konflikte und staatliche Transferleistungen waren für sie Teil einer Entfremdung, die man im PHC überwinden wollte. Schwerer wiegt, dass Pearse und Scott Williamson sich in den 1940er-Jahren nicht eingestanden, dass durch den Verzicht auf Disziplin keineswegs jegliche Asymmetrien aus dem Centre verschwunden waren.58 An die Stelle klarer Regeln trat die mild-charismatische Herrschaft von „Doc Willy“, der allein befand, welches Verhalten als „natürlich“ zu betrachten sei und welches nicht, und im Zweifelsfall entsprechend intervenierte.59 Paradox mutet eine seiner Aussagen von 1946 an, die ausgerechnet der erwähnte Anarchist Colin Ward 1966 zitierte: „I was the only person with authority“, hatte Scott Williamson laut Ward gesagt, „and I used it to stop anyone exerting any authority.“60 Zudem reflektierte er an keiner Stelle, welche Folgen das Sich-Beobachtet-Wissen der Nutzer für die wissenschaftlich wahrgenommene „Ordnung“ hatte, ja dass die „Members“ ihren Status sogar in einer eigenen Zeitschrift mit dem Namen „The Guinea Pig“ ironisierten (später umbenannt in „The Centre“).61 Davon abgesehen ist es fast unnötig zu sagen, dass im Falle des PHC von einem kontrollierten, insbesondere wiederholbaren naturwissenschaftlichen Experiment kaum die Rede sein kann, reflektierten die Nutzer Peckhams die Experimentalsituation doch „eigensinnig“ mit.
 

 

Experimenteller Alltag? „The Cafeteria: early on a winter evening“ (späte 1940er-Jahre)
(aus: Innes H. Pearse, The Quality of Life. The Peckham Approach to Human Ethology, Edinburgh 1979, o.S. [Plate 9])

Am Beispiel dieses häufig publizierten Fotos aus den späten 1940er-Jahren lassen sich die subtilen Machtrelationen im Centre verdeutlichen. Auf den ersten Blick scheint es eine entspannt-gesellige Alltagsszene zu zeigen – bis man am rechten unteren Bildrand den Schlagschatten des Fotografen bemerkt und begreift, wie hell das Licht gewesen sein muss, das die Szene beleuchtet. Auf einen zweiten Blick wird daher deutlich, dass die fotografierten Erwachsenen zwar in unbewussten Bewegungen eingefroren sind – mit der Tasse oder dem Nähzeug in der Hand –, dass sie vom Fotografen keine Notiz zu nehmen scheinen. Alle Kinder jedoch blicken direkt in die Kamera, die damit den eigenen Einfluss auf diese Szene dokumentiert. Die erwachsenen Personen wissen offenbar sehr genau, welche Pose von ihnen verlangt wird. Insofern legt das Bild nahe, dass wir es beim Peckham-Experiment mit einer machtdurchwirkten, von Erwartungen und Sinnproduktionen aller Beteiligten geprägten Konstellation zu tun haben.

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Auch die Nutzerzeitschrift „The Guinea Pig“ spiegelt den sozialen Druck, sich kontaktfreudig zu verhalten, aktiv zu werden sowie die eigenen physischen und sozialen Fortschritte permanent zu prüfen. Und sie zeigt, dass diese vermeintlich „natürliche“ Norm nicht zuletzt von den Nutzern selbst durchgesetzt wurde.62 So wird in den Nachkriegsausgaben der Zeitschrift erkennbar, dass sich ältere Mitglieder, die das Centre bereits vor dem Krieg frequentiert hatten, über das eigennützige Verhalten mancher Neuzugänge ärgerten. Sie unterstellten diesen, die wissenschaftliche Bedeutung des Experiments nicht verstanden zu haben.63 Man könnte sogar sagen, dass der Effekt des Centres weniger in der Zunahme von Eigenverantwortung bestand, sondern in der angeleiteten Reflexion seitens der Nutzer über diesen Prozess. Sie begannen, Begriffe wie „pattern“ und „activity“, die Pearse und Scott Williamson ins Centre einsickern ließen, aufs eigene Leben anzuwenden. Eine Anthologie von Nutzererinnerungen aus dem Jahr 1989 zeigt dieses Phänomen deutlich. Zwar sind die darin veröffentlichten Zitate stark bearbeitet und stammen von einem kleinen Kreis von Menschen, die bereits in den 1940er-Jahren zu den engagiertesten Mitgliedern gehörten. Dennoch ist interessant, dass diese im Rückblick die eigene Biographie durch die Linse des PHC filtern, wie im Falle des Berichts von Lily Mears: „You got a sense of being your own self. You got the habit of thinking ‚I could do that‘. You got the power to take responsibility. I am sure I have done much more with my life.“ Das frühere Mitglied Adge Elven bringt das Verhalten der Nutzer auf die Formel: „They were all searching all the time for what they wanted.“64 Peckham habe also bei der Herausbildung eines Willens zum Wollen geholfen.

Wären die Betreiber des PHC nicht jeder Form politischer Betätigung gegenüber skeptisch gewesen, dann hätten sie es als Beweis ihrer Thesen interpretieren können, dass einige Nutzer sich gegen die drohende Schließung des Centres einsetzten. Sie gründeten 1949 die „PHC Members Association“, deren Aktionen – etwa die Ankündigung einer Demonstration auf dem Trafalgar Square – große mediale Aufmerksamkeit fanden.65 Ihre Forderung nach einer Finanzierung des Experiments von außen konnten sie 1950 sogar vor Abgeordneten des „House of Commons“ zu Gehör bringen.66 Die „Association“ legte große Loyalität gegenüber Pearse und Scott Williamson an den Tag – wohl auch deshalb, weil diese die Nutzer nie über die Ursachen der ökonomischen Schwierigkeiten ins Bild setzten, sondern den Verkauf des Centres an den LCC als feindliche Übernahme stilisierten. Wo die „Members“ ein wissenschaftliches Forschungsprojekt zu verteidigen glaubten, sahen andere nur deren Weigerung, Privilegien aufzugeben, die mit dem Gleichheitsversprechen des universalistischen Wohlfahrtsstaats schlicht inkompatibel waren. Im Kontext der NHS-Basisversorgung hätte eine staatliche Finanzierung des Centres schließlich eine Subventionierung eines sehr kleinen Teils der Londoner Bevölkerung bedeutet.

7. Fazit
 

Im „Peckham-Experiment“ trafen eine bereits im 19. Jahrhundert etablierte sozialpolitische Praxis und die Sorge um die sozialmedizinischen Folgen gesellschaftlicher Entfremdung auf die komplexe Wirklichkeit eines Stadtviertels. Die Geschichte des PHC zeigt daher unterschiedliche Facetten historischer „Gouvernementalitäten“, die auf Selbstführung und -verantwortung mit Blick auf den eigenen Körper abzielten.67 Sie sensibilisiert zugleich für die Vielfalt ideen-, sozial-, politik-, rechts- und institutionengeschichtlicher Faktoren, die „Aktivierungsregimes“ der Vorsorge beeinflussten, aber auch wieder verschwinden ließen, wie das Scheitern des Projekts an den gewandelten Rahmenbedingungen des britischen Nachkriegswohlfahrtsstaats deutlich macht. Schließlich kann man am PHC sehen, dass sich beides – Entstehung und gesellschaftliche Folgen einer Lenkungstechnik, die bei der intrinsischen Motivation von Individuen ansetzt – nur erklären lässt, wenn man ihre besonderen Voraussetzungen berücksichtigt. Die Haltung der Initiatoren, möglichst wenig zu intervenieren, entsprang dem Versuch, menschliche Aktivität unter (vermeintlich) „natürlichen Bedingungen“ zu beobachten. Die eigentümliche Naturalisierung des Selbstsorgegedankens führte allerdings schon in den 1940er-Jahren zur politischen und wissenschaftlichen Marginalisierung des Projekts.

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Infolge ihrer zunehmenden Isolation entging es Pearse und Scott Williamson, dass zum Zeitpunkt ihrer größten Erfolge insbesondere die Sozialpsychologen in Großbritannien und den USA begonnen hatten, Herangehensweisen zu propagieren, die denen des PHC zumindest ähnelten – worauf die Psychologen durchaus hinwiesen.68 In den späten 1930er- und den 1940er-Jahren wurden vermehrt Interaktionsexperimente mit sozialen Gruppen vorgenommen. Während des Zweiten Weltkriegs führten beispielsweise britische Militärpsychologen in den so genannten „Northfield Experiments“ derartige Versuche durch.69 Psychologisch „auffällige“ Soldaten wurden in ein Militärkrankenhaus nahe Birmingham verbracht und weitgehend sich selbst überlassen. Die Bewohner dieser „therapeutic community“ begannen aktiv zu werden, Clubs zu bilden etc. – und wurden sich dabei der Ursachen ihrer psychosozialen Anpassungsschwierigkeiten bewusst. Ein anfangs „anarchischer“ Zustand mündete (aus Forschersicht) in die gegenseitige Stimulation der Heilungspotentiale der beteiligten Soldaten. Eine ähnliche Stoßrichtung hatte das „Hawkspur Experiment“ der Jahre 1936–1940, ein Camp für delinquente Jugendliche weitgehend ohne Regeln. Nach Ansicht der Verantwortlichen waren die Jugendlichen, der Projektionsfläche ihrer Autoaggression beraubt, gezwungen, die eigene Persönlichkeit und die eigenen Wünsche zu ergründen – was in größeren Reintegrationserfolgen resultierte, als sie das autoritäre „Borstal“-Prinzip verzeichnete.70

Hier ist nicht der Raum, weitere Beispiele für solche „Experimentalisierungen der Selbstverantwortung“ zu präsentieren und auch auf ihre Unterschiede einzugehen. Alle beschriebenen Projekte verbindet indes ihre Rolle bei der Herausbildung eines neuen Wissens um die sozialen, therapeutischen und ökonomischen Potentiale der Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Selbstevaluation von (Klein-)Gruppen. Wichtig ist hier, dass dieses Wissen eben auch das Selbstbild der involvierten Experten betraf. Viele von ihnen trennten sich von einem eher kulturpessimistisch motivierten Interventionismus und wurden zu affirmativ-teilnehmenden Empirikern. Damit konnte die Grenze zwischen Objekten und Subjekten wissenschaftlicher Erkenntnis verwischen: Ende der 1940er-Jahre wurden emanzipatorische Feedback-Effekte Bestandteil neuer, informationstheoretisch unterfütterter Forschungsdesigns.71 Aber schon in Peckham war das forschende Interesse am Selbst zur Norm geworden – und zwar für alle Beteiligten, wenn auch in je eigener Weise. 1944 definierte Scott Williamson das PHC in einem Beitrag mit dem Titel „Experimental Living“ zunächst als „technical laboratory“ mit „experimental conditions in which everybody was absolutely free to do as they felt“. Diese Freiheit habe auch für den Wissenschaftler gegolten: „[A]s a matter of fact, he was just as busy experimenting with his own living.“72

Insofern könnte man das Peckham-Experiment im Sinne einer historischen Anthropologie interpretieren, die sich mit „Menschenbildern“ befasst und dabei deren Entstehungsbedingungen mitreflektiert, also das Wissen und die Praktiken, die an der Genese dieser Bilder beteiligt sind.73 Es ließe sich dann als eine von vielen lose verbundenen historischen Szenen des 20. Jahrhunderts betrachten, in welchen der mit sich selbst im sozialen Kontext experimentierende Mensch als Wissensobjekt wie auch als Subjektivierungsangebot die Bühne betrat.

Anmerkungen: 

1 Vgl. v.a. Innes H. Pearse/Lucy H. Crocker, The Peckham Experiment. A Study in the Living Structure of Society, London 1947 [1943]; aber auch George Scott Williamson/Innes H. Pearse, The Case for Action. A Survey of Everyday Life under Modern Industrial Conditions, with Special Reference to the Question of Health, London 1931; dies., Biologists in Search of Material. An Interim Report on the Work of the Pioneer Health Centre, Peckham, London o.J. [1938]; Innes H. Pearse, The Quality of Life. The Peckham Approach to Human Ethology, Edinburgh 1979.

2 Colin Ward, Peckham Recollected, in: Anarchy 60 (1966), S. 52-56, hier S. 52.

3 Vgl. Glen O’Hara, The Complexities of ‚Consumerism‘: Choice, Collectivism and Participation within Britain’s National Health Service, c. 1961 – c. 1979, in: Social History of Medicine 26 (2013), S. 288-304.

4 Axel Scott-Samuel (Hg.), Total Participation, Total Health. Reinventing the Peckham Health Centre for the 1990s, Edinburgh 1990.

5 Vgl. Alex Mold, Making the Patient-Consumer in Margaret Thatcher’s Britain, in: Historical Journal 54 (2011), S. 509-528.

6 Vgl. Virginia Berridge, Health and Society in Britain since 1939, Cambridge 1999, bes. S. 87-91.

7 Jonathan Freedland, Ministers seeking inspiration should talk to Pam about prewar Peckham, in: Guardian, 31.10.2007. Die „Pioneer Health Foundation“ betreibt bis heute Lobby-Arbeit für das Peckham-Prinzip: <http://www.thephf.org>.

8 Allerdings hatten vor allem Kostenerwägungen dazu geführt, dass Owen Williams den Auftrag erhalten hatte; er war bekannt durch seine für wechselnde Nutzungen ausgelegten, schmucklosen Fabrikbauten. Vgl. Minutes, Board of Management/Management Committee, 2.11.1933, Wellcome Library, London (WL), SA/PHC/A.1/3.

9 Als Kontrastfolie dient dabei oft das 1937 eröffnete, Labour-nahe, stark auf Gesundheitspropaganda setzende „Finsbury Health Centre“. Vgl. Pyrs Gruffudd, „Science and the Stuff of Life“: Modernist Health Centres in 1930s London, in: Journal of Historical Geography 27 (2001), S. 395-416; Roy Kozlovsky, The Architectures of Childhood. Children, Modern Architecture and Reconstruction in Postwar England, Farnham 2013, Kap. 1; aber auch Elizabeth Darling, Reforming Britain. Narratives of Modernity before Reconstruction, London 2006. Ähnlich argumentiert Abigail Beach, Potential for Participation. Health Centres and the Idea of Citizenship c. 1920–1940, in: Christopher Lawrence/Anna-K. Mayer (Hg.), Regenerating England. Science, Medicine and Culture in Interwar-Britain, London 2000, S. 203-230.

10 Pearse/Crocker, The Peckham Experiment (Anm. 1), S. 289.

11 Vgl. Martin Lengwiler/Jeannette Madarász (Hg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010.

12 Vgl. vor allem Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000.

13 Zu den Gründern gehörten Dorrit Schlesinger (Erbin der Hersteller der Storck-Margarine) und ihr Mann, der Bankier Gerald Schlesinger, sowie Iris Montagu, die mit dem Bankierserben und späteren Geheimdienstler Ewen Montagu verheiratet war. Vgl. The Hon Mrs Ewen Montagu recollects the origins of the Pioneer Health Centre, 1998, WL, SA/PHC/B.1/1/1.

14 Notes re Pilot Scheme Plans, 1925, WL, SA/PHC/B.1/1/2, S. 2f.

15 Ebd., S. 3.

16 Annual Report 1926, WL, SA/PHC/A.2/1.

17 Vgl. Jane Lewis/Barbara Brookes, The Peckham Health Centre, „PEP“, and the concept of general practice during the 1930s and 1940s, in: Medical History 27 (1983) H. 2, S. 151-161, bes. S. 156.

18 Vgl. die Beiträge in Lawrence/Mayer, Regenerating England (Anm. 9).

19 Vgl. Ina Zweiniger-Bargielowska, Managing the Body. Beauty, Health, and Fitness in Britain 1880–1939, Oxford 2010, bes. S. 151-161.

20 Die 1911 eingeführte „Compulsory Health Insurance“ für gering verdienende Arbeiter deckte nicht viele Leistungen ab. Überhaupt blieb die britische Gesundheitsversorgung lange vergleichsweise dezentral und uneinheitlich, was zusätzlichen Raum für Initiativen wie das PHC schuf.

21 Zur „Settlement“-Praxis erhellend: Jens Wietschorke, Arbeiterfreunde. Soziale Mission im dunklen Berlin 1911–1933, Frankfurt a.M. 2013.

22 Scott Williamson/Pearse, The Case for Action (Anm. 1), S. 2ff., S. 6f.

23 Dirk van Laak, Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 305-326, hier S. 306. Vgl. auch Thomas Etzemüller (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009.

24 Pearse/Crocker, The Peckham Experiment (Anm. 1), S. 322.

25 Der Bedeutungszuwachs von Epistemologien der „Umgebung“ (Milieus, Umwelten, Systeme) in den Lebenswissenschaften der Moderne ist zuletzt intensiver diskutiert worden. Vgl. etwa den Workshop: Umgebungen – Epistemologische Tendenzen der Moderne II, New York University, Dezember 2012; Ankündigung unter <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=20521>.

26 Vgl. Roger Smith, Biology and Values in Interwar Britain: C.S. Sherington, Julian Huxley and the Vision of Progress, in: Past & Present 178 (2003), S. 210-224; Marianne Sommer, Die Biologie der Demokratie im Wissenschaftlichen Humanismus, in: Michael Hagner (Hg.), Wissenschaft und Demokratie, Frankfurt a.M. 2012, S. 51-69.

27 Pearse/Crocker, The Peckham Experiment (Anm. 1), S. 144.

28 Scott Williamson/Pearse, The Case for Action (Anm. 1), S. 15, S. 39, S. 42.

29 Ebd., S. 44.

30 Edith an George Scott Williamson, o.D. (August 1935), WL, SA/PHC/B.3/7/3-4.

31 Lucy Pearce (geb. Crocker), Chaos in the Centre. Notes on Children (1935-36), 1970, WL, SA/PHC/E.15/1, S. 3.

32 Scott Williamson/Pearse, Biologists in Search of Material (Anm. 1), S. 40.

33 Vgl. Annual Report 1936, WL, SA/PHC/A.2/9.

34 Scott Williamson/Pearse, The Case for Action (Anm. 1), S. 136.

35 Vgl. Alison Stallybrass, Being Me and Also Us. Lessons from the Peckham Experiment, Edinburgh 1989, S. 126, S. 138, S. 159.

36 Pearse/Crocker, The Peckham Experiment (Anm. 1), S. 78.

37 Ebd., S. 27.

38 Vgl. Crocker an Pearse, o.D. [frühe 1960er-Jahre], WL, SA/PHC/E.3.

39 Scott Williamson/Pearse, Biologists in Search of Material (Anm. 1), S. 76.

40 Pearse/Crocker, The Peckham Experiment (Anm. 1), S. 193.

41 Scott Williamson lieferte einen – kaum beachteten – Essay nach, in dem er ein Gesundheitssystem auf Basis eines Netzes von Gesundheitszentren vorstellte: George Scott Williamson, Physician, heal thyself. A Study of Needs and Means, London 1945.

42 Vgl. die Ausschnittsammlung: WL, SA/PHC/A.3/1-8.

43 Eine Zählung ergibt allein für die „Times“ in den Jahren 1933–1951 über 70 Erwähnungen des PHC.

44 Vgl. WL, SA/PHC/B.5/17/1.

45 Vgl. Lectures to Forces 1944, WL, SA/PHC/B.4/3.

46 Vgl. Peckham: The Bulletin of the Pioneer Health Centre (Juni 1949), S. 10.

47 Vgl. The Passing of Peckham, 1951, WL, SA/PHC/B.6/13.

48 1939 war eine Vollzeitkraft für Public Relations angestellt worden: Employment of Mary Gowing as Publicity Officer, WL, SA/PHC/B.4/3.

49 Vgl. z.B. Gordon W. Blackwell, The Peckham Experiment, in: American Sociological Review 12 (1947), S. 259f., oder M.L. Johnson, Research in Social Organization, in: Nature 153 (1944), S. 269f. In den Publikationen zu Peckham wird die große Zahl von Besuchern erwähnt – teils über 1.000 pro Jahr –, aber nie darauf eingegangen, welchen Einfluss diese auf die „Laborbedingungen“ hatten. Vgl. Record of Visitors, 1949, WL, SA/PHC/B.5/9.

50 Vgl. Huxley an Scott Williamson, 19.5.1950, WL, SA/PHC/D.1/7/17. In Scott Williamsons Großwerk „Science, Synthesis and Sanity“, an dem er in den 1940er-Jahren arbeitete (es wurde erst 1965 postum veröffentlicht), offenbart sich dieser Denkstil in einer höchst zirkulären Argumentation – in Aussagen, die „Leben“ immer nur durch dessen „Lebendigkeit“ definieren. Vgl. Innes H. Pearse/George Scott Williamson, Science, Synthesis and Sanity. An Inquiry into the Nature of Living, Edinburgh 1965.

51 Vgl. Frances Donaldson, Child of the Twenties, London 1959, S. 159.

52 Vgl. Donald Wilson an Pat Winsley, 9.9.1949, WL, SA/PHC/B.5/15.

53 J.A. Charles vom Ministry of Health an Edward Mellanby, den Sekretär des MRC, 28.7.1947. The National Archives, Kew, Records created or inherited by the Medical Research Council, FD 1/299.

54 Vgl. die Unterlagen in den London Metropolitan Archives, LCC, Public Health Department: Personal Health Service, LCC/PH/PHS/1/7.

55 The Passing of Peckham, 1951, WL, SA/PHC/B.6/13, S. 9.

56 Entsprechend äußerte gerade die sozialistische, aber auch die feministische Seite Fundamentalkritik: vgl. etwa Mark Benney, The Lost Chord, in: International Women’s News (Februar 1944), S. 52f., und D. Stark Murray, Doctors into Biologists, in: Socialist Medical Association Bulletin (1947), o.S.

57 Das geht aus Interviews hervor, die 1984 im Auftrag der „Pioneer Health Foundation“ mit ehemaligen Nutzern geführt wurden. Vgl. Reminiscences of St Mary’s Road Peckham, Juni 1984, WL, SA/PHC/C.20.

58 Vgl. schon zeitgenössisch: Michael Chance, Where from Peckham?, in: Lancet 255 (1950), S. 726ff.

59 Vgl. Donaldson, Child of the Twenties (Anm. 51), S. 160.

60 Colin Ward, A Laboratory of Anarchy, in: Anarchy 60 (1966), S. 56-61, hier S. 60.

61 Scott Williamsons Kolumne in der Zeitschrift hieß „Lab-Oratory“, womit offenbar auf den missionarischen Duktus seiner Ausführungen angespielt wurde: The Guinea Pig Nr. 1/1948, WL, SA/PHC/B.5/12/1.

62 Es passt nicht ins harmonische Bild, das die Wissenschaftler zeichneten, dass immer wieder Unbefugte ins Gebäude eindrangen, dass Getränke nicht bezahlt wurden, dass zeitweise eine Jugendgang die Mitglieder terrorisierte. Vgl. The Guinea Pig Nr. 3/1948, S. 8, WL, SA/PHC/B.5/12/1. Die Selbstorganisation stellte auch ein Unfallrisiko dar. 1947 ertrank ein Teenager, weil niemand den Pool beaufsichtigte: Boy loses Life at Peckham Health Centre, in: London Observer, 25.7.1947.

63 Vgl. J.W. Smith, Selfish Approach, in: South London Observer, 10.3.1950.

64 Stallybrass, Being Me and Also Us (Anm. 35), S. 134, S. 129.

65 Vgl. Families to march for their Centre, in: Daily Express, 6.3.1950.

66 Vgl. das Protokoll des Treffens, 23.3.1950, WL, SA/PHC/B.6/4.

67 Vgl. Jürgen Martschukat, Feste Banden lose schnüren. „Gouvernementalität“ als analytische Perspektive auf Geschichte, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), S. 277-283; Maren Möhring, Die Regierung der Körper. „Gouvernementalität“ und „Techniken des Selbst“, in: ebd., S. 284-290.

68 Vgl. etwa Maria Rogers, The Peckham Experiment, in: Sociometry 8 (1945), S. 92-96.

69 John Rickman, einer der Initiatoren der „Northfield Experiments“, gehörte zum wissenschaftlichen Beirat des Centres (vgl. die Briefwechsel im Archiv der British Psychoanalytical Society, Rickman Papers, P03/B/B/03-1).

70 Vgl. David W. Wills, The Hawkspur Experiment. An Informal Account of the Training of Wayward Adolescents, London 1941.

71 Vgl. Ulrich Bröckling, Über Feedback. Anatomie einer kommunikativen Schlüsseltechnologie, in: Michael Hagner/Erich Hörl (Hg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a.M. 2008, S. 326-347.

72 Experimental Living, 1944, WL, SA/PHC/D.2/6, S. 2.

73 Vgl. Jakob Tanner, Historische Anthropologie, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 3.1.2012, URL: <http://docupedia.de/zg/Historische_Anthropologie>.

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