»Das ist nunmal der freie Markt«

Konzeptionen des Marktes beim Wirtschaftsumbau in Ostdeutschland nach 1989

  1. Prolog: Eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus?
  2. Marktkonzeptionen als zeithistorischer Forschungsgegenstand
  3. Der ideale Markt der Ökonomen, der dynamische Markt der Politiker
  4. Der (un)regulierbare Markt der Treuhand-Führungskräfte
  5. Die individuellen Märkte der Praktiker
  6. Fazit: »Marktwirtschaft ist ein schwieriges Ding«

Anmerkungen

1. Prolog: Eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus?

Für die langjährige Ökonomie-Professorin, kurzzeitige DDR-Wirtschaftsministerin und spätere PDS-Bundestagsabgeordnete Christa Luft war die Sache klar: Marktwirtschaft und Kapitalismus gehörten nicht zwingend zusammen, ganz im Gegenteil. In ihrem bereits 1991 veröffentlichten, später mehrfach nachgedruckten und als »Reminiszenzen einer Zeitzeugin« veröffentlichten Buch »Zwischen WEnde und Ende« ging Luft zunächst harsch mit der langjährigen »Propaganda« des SED-Regimes ins Gericht. Dieses habe »Marktwirtschaft mit Kapitalismus als historisch überlebter Gesellschaftsordnung gleichgesetzt« und die Marktwirtschaft dabei als »Grundlage von Ausbeutung charakterisiert und diskreditiert«. In der ostdeutschen Bevölkerung seien hierdurch über mehrere Jahrzehnte »Distanz« und »mentale Ablehnung« gegenüber Marktprinzipien gewachsen. Doch für die im November 1989 als Reformerin kurzfristig von Ministerpräsident Hans Modrow ins Kabinett berufene Ökonomin war dies ein Trugschluss. »Marktwirtschaftliche Beziehungen« hätten sich »über Jahrtausende unter sehr unterschiedlichen Bedingungen und unter sehr unterschiedlichen Gesellschaftsformationen« entwickelt.[1]

Luft selbst hatte in ihren Forschungen als Professorin und ab 1988 als Rektorin an der – nach 1990 zügig als »rote Kaderschmiede« geschlossenen – Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst die »Erkenntnis von der Notwendigkeit eines qualitativ neuen, auf Wettbewerb beruhenden Wirtschaftssystems« gewonnen: »Der Mensch selbst sollte im Spiel von Angebot und Nachfrage frei entscheiden, womit, wann und wie er seine Bedürfnisse befriedigen« wolle. Dabei solle insbesondere nicht mehr ein starrer Plan zentral entscheiden, welche Güter produziert und verteilt würden – sondern eben ein dynamischer Markt. Dieser müsse hierfür unter einem »völlig neuen Aspekt zum Tragen kommen: als historische Errungenschaft der menschlichen Zivilisation«. Mehr noch: »Kreativität, Flexibilität und Innovationsgeist« könnten sich »nur« unter Marktbedingungen frei entfalten; der Markt sei »das Medium, in dem sich Bürger tatsächlich als freie Konsumenten emanzipieren« könnten. In diesem »Spiel der Marktkräfte« benötige »der Mensch« freilich »eine gute Portion Selbstbewußtsein, Durchsetzungsvermögen, Entscheidungsfähigkeit«, wenn er selbst »Subjekt bleiben« und »nicht schieres Objekt« werden wolle.[2]

Doch während all diese marktoptimistischen, ja fast markteuphorischen Überlegungen aus der Feder einer überzeugten Reformkommunistin überraschend liberal erschienen, wollte Luft scharf unterschieden wissen zwischen einem auf Markt und Wettbewerb basierenden Wirtschaftssystem einerseits und der diesem zugrundeliegenden Eigentums- und Gesellschaftsordnung andererseits: »Marktwirtschaft« bedeutete für sie daher auch das »Bestehen von Eigentumspluralismus«, in dem das (kapitalistische) Privateigentum nicht zwingend eine exklusive oder dominante Rolle einnehmen müsse; es könne auch durch andere, stärker kollektive Eigentumsformen im »Wettbewerb« herausgefordert werden. Der Markt, verstanden als dynamisches, regulatives wie kompetitives Ordnungsprinzip von Angebot und Nachfrage, bei dem nach spezifischen Interessen und Präferenzen handelnde Akteure miteinander in produktive Austauschbeziehungen treten, sei ein universeller, quasi überzeitlicher Mechanismus. Eine »sozialistische Marktwirtschaft ohne Privateigentum« an »Produktionsmitteln« erschien für Luft daher nicht nur prinzipiell möglich, sondern im konkreten historischen Fall der Umgestaltung der ostdeutschen Zentralplanwirtschaft nach 1989 auch nötig.

2. Marktkonzeptionen als zeithistorischer Forschungsgegenstand

Christa Lufts im erhitzten postsozialistischen Debattenklima der frühen 1990er-Jahre abgefasste Überlegungen besaßen eminent (vergangenheits)politischen Charakter: Die einstige DDR-Ministerin und nunmehr aktive PDS-Politikerin verteidigte das von ihr und anderen reformkommunistisch gesinnten Planwirtschaftsexperten im Januar 1990 vorgelegte Konzept einer langfristigen, graduellen und vor allem eigentumspluralistisch-sozialistischen Wirtschaftsreform innerhalb einer eigenständigen DDR – ein Entwurf, der bereits kurz nach seiner Präsentation von den einigungspolitischen Dynamiken im Gefolge der vorgezogenen Volkskammerwahl vom 18. März 1990 gänzlich überholt worden war.[3] Dennoch sensibilisieren die Ausführungen der (ersten und zugleich vorletzten) DDR-Wirtschaftsministerin für ein zeithistorisches Forschungsfeld, das bis dato wenig Aufmerksamkeit erfahren hat: Während etwa von Staatschefs oder Ministern verfolgte »Konzeptionen politischen Handelns« mittlerweile als etablierter Forschungsgegenstand gelten können,[4] trifft dies auf grundlegende Ordnungsvorstellungen und Handlungskonzeptionen einzelner Akteure und insbesondere Praktiker aus der Sphäre des Ökonomischen nicht gleichermaßen zu.

Eher zurückhaltend wird bisher thematisiert, ob und wie neben den vergleichsweise gut erforschten theoretischen Ökonomen und Wirtschaftspolitikern auch Manager und Unternehmer zeitgenössisch über »Märkte«, wirtschaftliches »Handeln« oder unternehmerisches »Entscheiden« reflektierten[5] – was seine tiefere Ursache sicher darin hat, dass diese »Praktiker« des Wirtschaftens im Normalfall nicht zu theoretischen Explikationen ihres Tuns neigen. Die Auseinandersetzung mit verschiedenen Markt(ordnungs)vorstellungen könnte einen empirischen Ansatzpunkt bieten, um so auch die bereits seit einigen Jahren geforderte Annäherung von Wirtschafts- und Kulturgeschichte weiter voranzutreiben,[6] die nicht zuletzt vor dem Hintergrund gegenwärtiger, welt- und finanzwirtschaftlicher Krisenlagen im Sinne einer »Problemgeschichte« von beträchtlicher Aktualität erscheint.[7]

Die Potentiale einer zeithistorischen Analyse konkurrierender Marktkonzeptionen sollen im Folgenden anhand einer spezifischen Konstellation herausgearbeitet werden: der Phase, in welcher der (kapitalistische) Markt aus Sicht der allermeisten Zeitgenossen einen endgültigen Triumph über seinen letzten großen, systemischen Herausforderer errungen zu haben schien – nämlich über den (sozialistischen) Plan. Und tatsächlich hielten im Jahr 1990 selbst überzeugte Kommunisten und Kommunistinnen wie Christa Luft einen Übergang zur Marktwirtschaft nach dem Kollaps der realsozialistischen Regime und Zentralplanwirtschaften im sowjetisch dominierten Ost(mittel)europa für unausweichlich. Im wiedervereinten Deutschland übernahm die im Frühjahr 1990 gegründete Treuhandanstalt die Aufgabe, die Planwirtschaft durch zügige Massenprivatisierungen in eine Marktwirtschaft zu verwandeln. Umso größer war bald das Erstaunen gerade bei (westlichen) »Praktikern« bzw. Managern des postsozialistischen Wirtschaftsumbaus, als die rasche Einführung von Markt, Wettbewerb und Privateigentum in den Transformationsländern nicht direkt zu schnellem Wachstum führte, sondern erhebliche ökonomische Umstellungskrisen, gesellschaftliche Unruhe und kulturelle Abwehrreaktionen hervorrief.[8]

Eben diese fundamentale Irritation war der Grund, warum sich auch Manager verstärkt zu Wort meldeten und über die Ursachen der Schwierigkeiten beim Übergang vom Plan zum Markt reflektierten.[9] Im Rahmen eines umfassenden, 1992/93 von der Treuhandanstalt selbst aufgelegten Forschungsprojektes[10] wurden innerhalb der öffentlich hochgradig umstrittenen Organisation über 50 ethnologisch ausgestaltete Experteninterviews durchgeführt, bei denen vor allem Führungskräfte der oberen und mittleren Ebenen (Direktoren, Abteilungs- und Niederlassungsleiter) Auskunft über ihren Geschäftsalltag geben sollten, um auf diese Weise mosaikartige »Innenansichten« des Fachpersonals zu konservieren. Dieses lange Zeit verschollene Quellenmaterial gewährt hochinteressante Einschätzungen des ostdeutschen Wirtschaftsumbaus aus den damaligen Einzelperspektiven seiner unmittelbaren Gestalter.[11]

Wie verschiedene Zeitgenossen unter den Bedingungen des postsozialistischen Wirtschaftsumbaus die Strukturmuster und Ordnungsprinzipien der entstehenden Märkte, die konkreten Akteure, deren jeweilige Handlungspräferenzen sowie die hieraus entstehenden Dynamiken, Prozesse und schließlich Resultate beschrieben, ist historisch bislang kaum untersucht. Bereits Lufts Beispiel einer »sozialistischen« Marktwirtschaft deutet an, dass man unter »Markt« bzw. »Marktwirtschaft« sehr unterschiedliche Dinge verstehen konnte. Der Markt bzw. die hiermit verknüpften Konzeptionen werden im Folgenden pragmatisch als ein weitläufiges Begriffs- und Deutungsfeld zur sinnstiftenden Beschreibung wirtschaftlicher Ordnungs- und Interaktionsmuster zwischen Akteuren verstanden. Zunächst werden verschiedene, im Frühjahr 1990 publizierte Marktkonzeptionen für die Transformation Ostdeutschlands aus der Feder bundesdeutscher Ökonomen bzw. Politiker umrissen, bevor in einem zweiten Schritt die Marktbeschreibungen zentraler Führungspersönlichkeiten des ostdeutschen Wirtschaftsumbaus ab 1991/92 analysiert werden. In einem dritten Schritt soll schließlich auf die (Alltags-)Ebene der individuellen Marktvorstellungen von Managern bzw. Praktikern eingegangen werden, die beim Wirtschaftsumbau 1992/93 aktiv waren und fast gänzlich aus der altbundesdeutschen Unternehmenslandschaft in den Osten gekommen waren.

3. Der ideale Markt der Ökonomen, der dynamische Markt der Politiker

Am 20. Januar 1990 legte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung[12] in Bonn der Öffentlichkeit ein 60-seitiges Sondergutachten vor. Es ging den fünf »Wirtschaftsweisen« um eine »Unterstützung der Wirtschaftsreform in der DDR«. Die Experten reagierten damit äußerst zügig auf die seit dem November 1989 noch ausschließlich innerhalb der DDR zwischen Oppositionsvertretern und Reformkommunisten geführten Debatten – und schlugen einen energischen Tonfall an: Apodiktisch hielt das Gutachten bereits einleitend fest, dass es »nur ein Erfolgsmuster« für den bevorstehenden Umbau der DDR-Planwirtschaft geben könne – »die offene marktwirtschaftliche Ordnung mit sozialer Absicherung«.[13] Die Umgestaltung der DDR-Planwirtschaft zu einer funktionstüchtigen »Sozialen Marktwirtschaft« erschien im Sondergutachten als anzustrebendes Resultat intensiver wie langfristiger wirtschaftspolitischer Reformbemühungen innerhalb der DDR, zu denen insbesondere die Einführung freier Preisbildungen, des Privateigentums und freien Unternehmertums, eines privaten Finanz- und Kreditwesens sowie eine reformierte staatliche Finanzverfassung zählten.[14]

Die Ökonomen skizzierten eine sich im Wettbewerb selbst regulierende Marktordnung als idealen, ja idealisierten Endzustand des postsozialistischen Transformationsprozesses. Grundsätzlich gingen die Gutachter dabei auf das Marktprinzip als entscheidendes »Erfolgsrezept der westlichen Industrieländer« ein. Dieses werde sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene seine Wirkungen entfalten: Zum einen ermögliche es eine »Öffnung nach innen«, durch die den einzelnen Menschen die Chance geboten werde, »sich ihren Neigungen und Befähigungen« gemäß »wirtschaftlich zu betätigen«, was ihren »persönlichen Freiheitsraum« massiv erweitere und hierdurch »Quellen des wirtschaftlichen Wohlstands« erschließe; zum anderen forciere das Marktprinzip eine »Öffnung nach außen« und damit die Integration in eine »produktivitäts- und wohlfahrtssteigernde internationale Arbeitsteilung«.[15] Der angestrebte »Übergang auf die Selbststeuerung der Märkte« werde ein schnelles Ende der bestehenden »Engpässe« und »Koordinationsmängel« herbeiführen. Die »Reaktionen von Nachfragern und Anbietern« auf jeweilige »Preissignale« könnten die zeitweise auftretenden »Marktstörungen« dann eigendynamisch »überwinden«. Als »Dreh- und Angelpunkt der marktwirtschaftlichen Ordnung« erschien den Gutachtern der freie Wettbewerb: Dieser sei nicht nur als ideale »Triebfeder wirtschaftliche[r] Leistung« zu verstehen, sondern gewährleiste auch die »wirksamste Kontrolle wirtschaftlicher Macht«.[16] Das »Soziale« an einer Marktwirtschaft nach bundesdeutschem Vorbild ergebe sich schließlich aus ihrer dynamischen Leistungsfähigkeit: Aus all diesen Strukturmerkmalen und Wirkmechanismen heraus könne die Marktwirtschaft nicht nur größeren gesellschaftlichen Wohlstand für viele hervorbringen als die bisherige Planwirtschaft; sie generiere zugleich auch erweiterte Handlungs- und Verteilungsspielräume für flankierende sozialpolitische Schutzmaßnahmen.

Hatten sich bis Januar 1990 die meisten Politiker und Ökonomen in der Bundesrepublik mit eigenen wirtschaftlichen Reformvorschlägen in Richtung DDR noch zurückgehalten, war dieses Plädoyer der fünf Bonner »Wirtschaftsweisen« der Auftakt einer aus gesamtdeutscher Perspektive geführten Debatte. Zwar hoben die Gutachter zu diesem Zeitpunkt noch explizit hervor, dass die Bundesrepublik der DDR nicht »vorschreiben« dürfe, »welchen Weg sie für ihre Wirtschaftsreform gehen« solle. Dennoch erschien den Ökonomen »Indifferenz gegenüber dem, was im anderen Teil Deutschlands unternommen und unterlassen« werde, »erst recht nicht angebracht«.[17] Besonders die innerhalb der DDR-Regierung von Reformkommunisten um Wirtschaftsministerin Christa Luft diskutierten Varianten einer »sozialistischen Marktwirtschaft« wiesen die bundesdeutschen Professoren scharf zurück: Damit werde lediglich ein »durch Marktelemente ergänzter Staatsdirigismus« angestrebt, aber keine »konsequente Ablösung der Kommandowirtschaft durch marktwirtschaftliche Steuerungsmechanismen«. Letztlich sei »keine überzeugende Alternative zur marktwirtschaftlichen Ordnung« in Sicht, denn eine Planwirtschaft leide grundsätzlich unter ihrer »Unfähigkeit, Millionen von Einzelplänen effizient zu koordinieren«, sowie unter ihrem »Unvermögen, wirtschaftliche Leistungsbereitschaft und Innovation zu stimulieren«. Einen »erfolgversprechenden ›Dritten Weg‹ zwischen Planwirtschaft und Marktwirtschaft« könne es nicht geben.[18]

In fast dozierendem Tonfall beharrten die »Wirtschaftsweisen« grundsätzlich auf der mittel- bis langfristigen Etablierung einer Marktordnung in der DDR, deren Wirtschaft über den Wettbewerb als zentralen Steuerungsmechanismus sich bald selbst regulieren und entsprechende soziale Wohlstandseffekte generieren werde. Vor allem im Kontrast zu den Krisen, Mängeln und Defiziten der realsozialistischen Planwirtschaft erschien das Marktprinzip als universelles, alternativloses wie erfolgreiches ökonomisches Organisations- und (Selbst-)Steuerungsprinzip: Der »Markt« der Ökonomen im Januar 1990 war ein idealer Endzustand. Schon sehr rasch überholte die politische Dynamik aber auch diese ökonomische Intervention: Nicht einmal drei Wochen nach der Veröffentlichung des Gutachtens, Anfang Februar 1990, schlug die Bundesregierung der DDR-Regierung den unverzüglichen Beginn von Verhandlungen zu einer »Währungsunion mit Wirtschaftsreform« vor,[19] die letztlich in die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vom Juli 1990 einmündeten. Statt mittel- und langfristige Reformkataloge abzuarbeiten, wie sie die »Wirtschaftsweisen« entwickelt hatten, sollte eine »sofortige Übernahme« der bundesdeutschen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialordnung durch die DDR an einem Stichtag erfolgen, ohne graduelle Übergangs- und Sicherungsmaßnahmen – eine in der Tat überraschende Offerte.

Führende Politiker und Beamte der Bonner Regierungskoalition, die bis dato kaum durch wirtschaftspolitische Vorschläge in Richtung DDR aufgefallen waren, hatten sich im Januar 1990 gerade nicht am ausschweifenden Sondergutachten der Ökonomie-Professoren orientiert, sondern an einem bündigen Text aus der Feder Ludwig Erhards, des vermeintlichen »Vaters« des »Wirtschaftswunders« der Nachkriegsjahrzehnte. Dieser Text zirkulierte im Frühjahr 1990 nachweislich unter entscheidenden Akteuren der Koalitionsfraktionen, des Bundesfinanzministeriums sowie des Kanzleramts.[20] Im September 1953 hatte der damalige Bundeswirtschaftsminister unter dem Titel »Wirtschaftliche Probleme der Wiedervereinigung« einen kurzen Essay in einer Regierungszeitschrift publiziert. Erhard erteilte der konzeptionellen Vorausplanung einer wirtschaftlichen Wiedervereinigung durch die Bundesrepublik hierin eine strikte Absage und rückte vielmehr den Markt selbst ins Zentrum. Massiv verwahrte er sich gegen eine »verwaltungsmäßige Handhabung« bzw. staatliche »Organisation« eines künftigen Wirtschaftsumbaus im Osten; solchen Überlegungen gehe »jedes Gefühl, jede Einsicht auf die in einem freien Markt zum Ausgleich und Gleichgewicht hindrängenden Kräfte und die damit entfesselte Dynamik völlig ab«.[21]

Demonstrativ verwies Erhard auf seine eigenen Erfahrungen im Vorfeld der Währungsreform 1948: Er wisse »ein Lied davon zu singen«, wie ihm allerlei Kritiker mithilfe von »Statistiken, graphischen Darstellungen, Rohstoffbilanzen, Produktions- und Verbrauchszahlen, Außenhandelszahlen u.a.m.« die »Unmöglichkeit der Aufhebung der Bewirtschaftung« zu beweisen versucht hätten.[22] Diesen Skeptikern hielt Erhard entgegen, dass die von staatlichen oder wissenschaftlichen Gremien angestellten theoretischen Überlegungen, Maßnahmen und Konzeptionen zur Fortentwicklung der Leistungsfähigkeit einer staatlich geplanten Wirtschaft sich als nutzlos erweisen würden, »weil die Fruchtbarmachung der menschlichen und sachlichen Produktivkräfte nach dem Zusammenschluß unter völlig anderen Markt- und Umweltbedingungen vor sich gehen wird und Schlüsse von der Gegenwart auf die Zukunft fast naturnotwendig zu krassen Fehlurteilen führen müssen«.[23]

Wenn die Politik den Umbau von der Plan- zur Marktwirtschaft weder vorbereiten noch aktiv steuern sollte, wer sollte es dann tun? Erhard entwickelte seine Vorschläge ausgehend von der Prämisse, »daß die Wiedereingliederung des deutschen Ostens mit den Mitteln und nach den Grundsätzen der Marktwirtschaft erfolgen« müsse.[24] Als entscheidenden Schritt hierfür sah er eine sofortige »Einbeziehung« der ostdeutschen Planwirtschaft und ihrer Staatsbetriebe »in unsere Währungsunion«. Der Bundeswirtschaftsminister zeigte sich überzeugt davon, »daß dieser unumgänglich notwendige Angleichungsprozeß um so rascher und erfolgreicher vor sich gehen wird, je inniger von Anbeginn an die Verflechtung der beiden Wirtschaftsgebiete sein wird und je mehr private Initiative und Tatkraft sich entfalten können«.[25]

Bestenfalls indirekte staatliche Flankierungsmaßnahmen wie befristete Steuererleichterungen für ostdeutsche Unternehmen hielt Erhard für denkbar, um diesen Unternehmen zu »gleichartigen Startbedingungen im Wettbewerb« zu verhelfen.[26] Jeder darüber hinausreichende Regulierungsversuch verzerre und verzögere nur die nötigen Anpassungsprozesse, deren Ausgang Erhard optimistisch beurteilte – weil die Dynamik in den Händen freier Privatunternehmer in Ost und West liege: »[N]ach diesem erlösenden Schritt [einer Währungsunion] [dürfen] auch die Menschen sich wieder frei bewegen[,] und […] Unternehmer und Gewerbetreibende aller Art [werden] das mittel- und ostdeutsche Wirtschaftsgebiet nicht nur als neue Absatzmärkte betrachten, sondern sich dort auch in der Produktionssphäre betätigen […].«[27] Eine schnelle Wiedervereinigung im Modus des freien Marktes und des Wettbewerbs privater Akteure setze »in politischer, wirtschaftlicher und menschlicher Beziehung« Energien frei, »von deren Stärke und Macht sich die Schulweisheit der Planwirtschaftler nichts träumen« lasse.[28]

Nach fast vier Jahrzehnten entwickelte sich Erhards programmatischer Essay aus dem Herbst 1953 – letztlich auch in Ermangelung zeitgenössisch greifbarer bzw. rezipierter ökonomischer Alternativszenarien in Bonn[29] – nun zu einer Art strategischer Blaupause für die bundesdeutsche Ministerialbürokratie und die christlich-liberalen Koalitionspolitiker. Bei Erhard war der Markt ein möglichst unmittelbar zu entfesselnder Prozess, eine radikale Methode zur Erzeugung seiner selbst. Nach Lesart der Bonner Beamten und Koalitionäre Anfang 1990 bot dieser Ansatz eine kurzfristig zu realisierende Variante, die sich zugleich bestens in die seit den späten 1970er-Jahren vermehrt aufgekommenen marktoptimistischen wie staatsskeptischen Grundströmungen einfügte. Zudem hatte sich die Bundesregierung eingedenk der unübersichtlichen Situation in der DDR gerade in wirtschaftspolitischer Hinsicht zunächst orientierungslos gezeigt und war durch den Strom an innerdeutschen »Übersiedlern« bei geöffneten Grenzen massiv unter Druck geraten.[30] Der radikale Weg einer »Schocktherapie« für die DDR-Planwirtschaft durch eine sofortige Wirtschafts- und Währungsunion im Sommer 1990 entsprang damit sowohl langfristigen (markt)politischen Überzeugungen als auch kurzfristigen taktischen Kalkülen. Der deutsch-deutsche Weg vom Plan zum Markt führte also gerade nicht direkt über Milton Friedman oder andere bekannte Protagonisten neoliberalen Denkens der transatlantischen Welt – sondern über Ludwig Erhard.

Hieran vermochte auch ein am 9. Februar 1990 im Kanzleramt eingehender Brief nichts mehr zu ändern, in dem der »Wirtschaftsweise« Hans Schneider gegenüber Bundeskanzler Helmut Kohl seine massive »Besorgnis« zum Ausdruck brachte. Eine Währungsunion dürfe, wie der Kölner Ökonom schrieb, »nicht am Beginn« des wirtschaftlichen Umbauprozesses stehen, sondern könne bestenfalls dessen Resultat sein. Eine sofortige Währungsunion drohe nicht nur bei der DDR-Bevölkerung die »Illusion« eines schnell möglichen »Anschlusses an den Lebensstandard in der Bundesrepublik« zu erwecken, dem dann bald die »Enttäuschung« und weitere Ost-West-Abwanderung folgen werde; sie liefere die DDR-Wirtschaft und deren Betriebe zugleich »schlagartig der internationalen Konkurrenz« aus – mit völlig unabsehbaren Folgen. Nur eine langfristige, »fundamentale Transformation des Wirtschaftssystems der DDR« biete die Gewähr, eine funktionierende Marktwirtschaft zu etablieren.[31] Wie in einer Nussschale kamen mit Schneiders (folgenlosem) Brandbrief an den Kanzler zwei diametrale Markt-Konzeptionen zum Ausdruck, die die bundesdeutsche Debatte um eine Reform der DDR-Planwirtschaft im Frühjahr 1990 prägten: Während aus Sicht der Spitzenökonomen der Markt als voraussetzungsvoller, insgesamt überlegener Ideal- bzw. Endzustand eines langfristigen Umbaus erschien, war er aus der Perspektive der Bonner Koalitionäre ein radikaler wie hochdynamischer Prozess, der weitere wirtschaftspolitische Steuerungen nicht nur unnötig machte, sondern sie sogar explizit ausschloss.[32]

4. Der (un)regulierbare Markt der Treuhand-Führungskräfte

Die letztgenannte Variante bildete schließlich den konzeptionellen Vorlauf der als »Schocktherapie« bezeichneten, abrupten Wirtschaftsumstellung, während die erstere Option das Grundverständnis zeitlich gestreckter bzw. gradualistischer Reformmodelle markierte, die nach 1990 vermehrt von linken, kritischen Ökonomen aufgegriffen und als grundlegende Alternative in die Debatte eingebracht wurden.[33] Beide Strömungen waren in den frühen Debatten über den Umbau der Planwirtschaft präsent, aber es war die Vorstellung der Transformation als eines schnellen, auch zerstörerischen Selbstregulierungsprozesses, die sich bei der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vom 2. Juli 1990 politisch durchsetzte – mit einschneidenden Folgen, die tatsächlich an diejenigen Szenarien erinnerten, vor denen der »Wirtschaftsweise« Schneider den Bundeskanzler gewarnt hatte: So gerieten mit der plötzlichen Übertragung des bundesdeutschen Wirtschaftssystems sowie der Einführung der D-Mark als Währung die Kombinate bzw. Betriebe der einstigen Planwirtschaft in massive Schieflage (unter anderem, weil der Umtauschkurs, im Gegensatz zur Marktrhetorik, eben nicht die tatsächliche Wettbewerbsfähigkeit spiegelte). In der ostdeutschen Bevölkerung schlug die Stimmung angesichts von Massenentlassungen und Betriebsschließungen als Folge des »Modernisierungsschocks« nun sehr bald in Ernüchterung und Frustration um.[34]

Im Frühjahr 1991, als die gesellschaftlichen Proteste gegen den Wirtschaftsumbau im »Beitrittsgebiet« einen ersten Höhepunkt erlebten, setzte die ostdeutsche Karikaturistin Barbara Henniger vor allem die Rechtfertigungsstrategien von Bundesregierung und Treuhandanstalt spöttisch ins Bild: Der dramatische Zusammenbruch der ostdeutschen Industrielandschaft, hier mit der Staatsfluglinie Interflug und dem Kameraproduzenten Pentacon als gewaltiger Urknall inszeniert, wird von zwei (West-)Managern beobachtet, die sich mit ihrem offenbar unerschütterlichen Glauben an die explosiv-zerstörerisch wirkenden Marktkräfte zu beruhigen wissen. Die Karikatur erschien u.a. im »Spiegel« vom 25. März 1991.
Barbara Henniger)

Allerdings konnte die wirtschaftliche Umgestaltung auch unter den Bedingungen der »Schocktherapie« nicht völlig ohne staatliche Eingriffe erfolgen – schließlich musste das bestehende »volkseigene« Vermögen an über 8.000 DDR-Staatsbetrieben mit knapp vier Millionen »Werktätigen« auf irgendeine Art und Weise erst in private Hände gelegt werden;[35] ein Vorgang, den man nicht allein aus einem selbstbezogenen Marktprozess heraus ablaufen lassen konnte. Bezeichnenderweise hatte auch Ludwig Erhard 1953 keine weiteren Hinweise darauf gegeben, wie bzw. durch wen der praktische Übergang der ostdeutschen Staatsbetriebe in Privateigentum nach einer sofortigen Währungsunion und Marktfreigabe eigentlich organisiert werden sollte. Genau dieses Problem holte die Politiker in Bonn und Ost-Berlin im Sommer 1990 wieder ein. Als Dreh- und Angelpunkt für dieses zentrale Element des Wirtschaftsumbaus nahmen die Regierungen von Helmut Kohl und des im März 1990 gewählten Ministerpräsidenten Lothar de Maizière eine spezifische Einrichtung in den Blick: Auf Initiative ostdeutscher Oppositioneller, die einen baldigen »Ausverkauf« des Volksvermögens an westliche »Kapitalisten« oder östliche »Altkader« fürchteten, war noch im März 1990 von der letzten SED/PDS-geführten DDR-Regierung eine »Treuhand-Stelle« als Behörde gegründet worden, die der »Bewahrung« der ihr überschriebenen Kombinate und Betriebe dienen sollte. Es war diese Organisation, die im Juni 1990 mit dem »Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens« dazu auserkoren wurde, nun nicht mehr die »Bewahrung«, sondern die Privatisierung, Sanierung bzw. Abwicklung der bisherigen Staatsbetriebe zügig voranzutreiben – dies aber unter der Führung erfahrener westdeutscher Industrie-Manager und nach marktwirtschaftlich-unternehmerischen Prinzipien.[36]

Eine strategisch neuausgerichtete Privatisierungsagentur und ihr nun zügig für die Führungspositionen zu rekrutierendes, westdeutsches (Management-)Personal sollten gewissermaßen Marktprozesse innerhalb der reformierten Organisation eigenverantwortlich modellieren bzw. »Märkte« im postsozialistischen Teil Deutschlands in doppelter Hinsicht erst etablieren: sowohl Märkte, auf denen die eigenen Betriebe bald erfolgreich agieren konnten, als auch Märkte, auf denen diese dann zügig an private Investoren veräußert werden sollten. Der bald berufene Präsident der Treuhandanstalt, der frühere Bonner Wirtschaftsstaatssekretär und Dortmunder Hoesch-Vorstandschef Detlev Karsten Rohwedder, avancierte seit August 1990 schnell zur maßgeblichen Führungsfigur dieses praktischen Umbaugeschehens. Gerade in der nunmehr gesamtdeutschen Medienöffentlichkeit zeigte er sich als meinungsfreudiger »Macher«, der kaum einem Streit aus dem Weg ging – auch nicht im Hinblick auf sein Verständnis der eigenen Tätigkeit: Es gehe ihm und seinen neuen Kollegen an der Spitze der Treuhand, wie Rohwedder am 13. September 1990 bei einem spektakulären Auftritt vor der Volkskammer erklärte, um den »Versuch, Wettbewerbsstrukturen, marktwirtschaftliche Strukturen zu schaffen«, die auch noch »in zehn oder zwanzig Jahren« tragfähig sein sollten; es könne daher nicht das Ziel sein, »nun sehr schnell staatliche Monopole durch marktbeherrschende Unternehmen von außerhalb der DDR zu ersetzen«. Rohwedder erklärte den Abgeordneten, er wolle die Treuhand nicht als einen »Basar« organisieren, »auf dem das höchste Angebot über den Kauf entscheidet und sonst nichts«.[37]

Marktaufbau (für die Unternehmen) und Vermarktung (der Unternehmen) sollten in Rohwedders Augen gleichermaßen Aufgaben der Treuhand sein. Ende November 1990, als deren Um- und Ausbau gerade in vollem Gange war, erläuterte der Präsident in einem Gespräch mit der »Wirtschaftswoche« noch einmal das Selbstverständnis der von ihm geleiteten Organisation: Bei der Treuhand handle es sich um einen »Zwitter« zwischen Politik und Wirtschaft, der einerseits eine »privatwirtschaftliche Management-Aufgabe« habe, dem andererseits jedoch die »politische Aufgabe« zukomme, »Transformationsstelle zu sein für die Integration der ostdeutschen in die westdeutsche Wirtschaft«.[38] Bei der Erfüllung dieser Doppelaufgabe hatte Rohwedder ein Ziel vor Augen – den systematischen Aufbau bzw. Nachbau einer funktionsfähigen Marktordnung in Ostdeutschland im Modus der Privatisierung: »Ich will in der ehemaligen DDR in den kommenden Jahren eine Wirtschaftsstruktur schaffen, die der bundesdeutschen entspricht, das heißt eine Struktur, in der der Staat sich sehr stark zurückgenommen hat, in der das Kapital in privater Hand die wichtigste Rolle spielt. […] Zum anderen gilt es, Strukturen zu schaffen, die es der Wirtschaft in der früheren DDR erlauben, sich im internationalen Wettbewerb zu behaupten. Wenn möglich[,] sollten diese Strukturen noch kompetitiver, diversifizierter und internationaler sein als im westlichen Teil Deutschlands.«[39] Im Ergebnis könne die runderneuerte ostdeutsche Wirtschaft sogar »moderner«, weil marktwirtschaftlicher werden als ihr westdeutsches Vorbild.

Die folgenden Monate bis ins Frühjahr 1991 hielten für die Treuhand, ihre Betriebe und gerade auch ihren Präsidenten jedoch zahlreiche Enttäuschungen, Rückschläge und Konflikte bereit. Mit westdeutschen Investoren stritt man über schwierige Privatisierungsentscheidungen, mit Bonner Politikern und Ökonomen über den richtigen strategischen Weg des Wirtschaftsumbaus, mit ostdeutschen Geschäftsführungen und Belegschaften über geplante Massenentlassungen und Betriebsschließungen. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten die Proteste im Februar und März 1991, als es in Ostdeutschland zu massiven Demonstrationen gegen Rohwedder und die Treuhand kam.[40] In einem seiner letzten Interviews, veröffentlicht am 30. März 1991, schlug Rohwedder einen fast resignativ gestimmten Grundton an: Der »Prozeß der Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft« müsse den Menschen künftig stärker »vermittelbar« ausgestaltet werden. Nach den Eindrücken der vorangegangenen Wochen und Monate schien dem »bestgehaßten Mann im Osten« (so die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«) jedoch klar zu sein, dass eine »reinrassige, gedanklich saubere und schnörkellose Marktwirtschaft« in Ostdeutschland nicht zu realisieren sei.[41] In seinem später zum persönlichen Vermächtnis überhöhten »Osterbrief«, einem Rundschreiben an alle Treuhand-Mitarbeiter vom 27. März 1991, strich der Präsident ein letztes Mal heraus, dass die »Priorität« der eigenen Arbeit allen Widerständen zum Trotz in der »Überführung von Unternehmen in privates Eigentum« bestehe; dieses Vorgehen sei der »beste Weg, um mit neuem Wissen, neuem Kapital und neuen strategischen Unternehmenszielen« einen Betrieb zukunftsfähig umzugestalten: »Privatisierung ist die wirksame Sanierung.«[42]

»Eastern Germany – Open for International Investments«: Unter diesem Titel veranstaltete der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) im Mai 1991 in Berlin eine internationale Konferenz, die vom Europäischen Verband der Industriellen und Arbeitgeber (UNICE) und der EG-Kommission mitorganisiert wurde. Birgit Breuel, die Nachfolgerin Detlev Rohwedders an der Spitze der Treuhandanstalt, hielt die Eröffnungsansprache.
(Bundesarchiv, B 145 Bild-F088082-0036, Foto: Joachim F. Thurn)

Rohwedders ursprüngliche Vision des zielgerichteten Aufbaus einer »moderneren« Marktwirtschaft in Ostdeutschland erschien damit bereits deutlich eingetrübt, noch bevor er am 1. April 1991 in Düsseldorf einem Mordanschlag zum Opfer fiel, zu dem sich die Rote Armee Fraktion bekannte. Zu seiner Nachfolgerin wurde Birgit Breuel bestimmt, die bis zum Frühjahr 1990 für die CDU als Wirtschafts- und Finanzministerin in Niedersachsen amtiert hatte und nach der Abwahl der Landesregierung von Ernst Albrecht im Herbst 1990 in den Vorstand der Treuhand eingezogen war. Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger, der sich als zupackend-pragmatischer Gestalter verstand und inszenierte, hatte Breuel ihren Anspruch als ordnungspolitische, marktliberale wie staatsskeptische Vordenkerin und Programmatikerin durch einige Veröffentlichungen im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre untermauert: Mit populären wirtschaftspolitischen Denkschriften[43] hatte sie mehrfach für eine massive Zurückdrängung des Staates bzw. der »Zentralverwaltungswirtschaft« durch die gezielte Einführung »marktwirtschaftlicher Elemente« (etwa durch Privatisierungen) zur Belebung von »Eigenverantwortung« und »Eigeninitiative« plädiert – und sich auf diese Weise bei der politischen Linken den zweifelhaften Ruf einer (west)deutschen Margaret Thatcher erworben.

Birgit Breuel, 1991–1994 Präsidentin der Treuhandanstalt, bewegte sich stets in einem Spannungsfeld zwischen den Erwartungen von Politik, Öffentlichkeit und Belegschaften sowie ihren eigenen ordnungspolitischen, betont marktliberalen Grundüberzeugungen, die sie seit den 1970er-Jahren verfochten hatte. Bei dieser Protestkundgebung vor der Berliner Treuhand-Zentrale im Juni 1992, abgehalten von der »Konferenz ostdeutscher und Berliner Betriebsräte«, warb Breuel gegenüber Journalisten offensiv für den von der Treuhand eingeschlagenen Kurs forcierter Massenprivatisierungen. Generell war der Platz vor der Treuhand-Zentrale (dem früheren Reichsluftfahrtministerium der NS-Zeit bzw. dem ehemaligen Haus der Ministerien der DDR) Anfang der 1990er-Jahre ein beliebter Ort für Demonstrationen.
(ddrbildarchiv.de, Foto: Burkhard Lange)

Innerhalb der Treuhand warb Breuel seit ihrem Amtsantritt nachdrücklicher als Rohwedder um die Unterstützung ihrer nun fast 3.000 Mitarbeiter/innen, besonders in einem am 23. November 1991 gehaltenen »Grundsatzreferat« bei einer großangelegten Mitarbeiterversammlung in Berlin, in dem sie ausführlich auf das »Selbstverständnis« der Treuhand einging: Im Sommer 1990 habe diese einerseits die Aufgabe übertragen bekommen, »40 Jahre Kommandowirtschaft, die jeglichen Wettbewerb im Keim erstickte«, abzuschütteln; andererseits sollte sie den »Neuaufbau zu einer funktionierenden Sozialen Marktwirtschaft« einleiten, »für die der Wettbewerb als Ideen-, Handlungs- und Leistungsstimulanz unverzichtbar« sei. Nach fast anderthalb Jahren praktischen Wirtschaftsumbaus zog Breuel eine erste, resignative Bilanz der deutsch-deutschen »Schocktherapie« und ihrer von der Treuhand zu bewältigenden Folgen: »Eine Volkswirtschaft, die 40 Jahre auf dirigistische Planwirtschaft eingeschworen war, läßt sich nicht mit einer Art ›Urknall-Zündung‹ auf einen anhaltenden marktwirtschaftlichen Expansionskurs schicken. So reibungslos läßt sich die wirtschaftliche, ökologische und soziale Zukunft in den neuen Bundesländern nicht gestalten.«[44]

Im »Interesse der Menschen« bedürfe es einer »Übergangszeit«, die aber »befristet« sein müsse. Die Arbeit der Treuhand liege hierbei im »Vorfeld« der angestrebten neuen Wirtschaftsordnung, weshalb man auch nicht zu denjenigen gehöre, die später »die Ernte einfahren« würden. Dennoch motiviere es, zu wissen, dass »die Saat« bald aufgehen werde: »Wir dynamisieren die Wirtschaft im Osten.« Die Treuhand und ihr Personal müssten sich selbst einerseits als »Dienstleister« für ihre eigenen Betriebe und mögliche Investoren begreifen; zugleich agiere man aber auch als Baumeister an der Statik einer völlig neuen, zukünftigen Marktordnung: »Jedes Unternehmen, das wir erfolgreich in den Wettbewerb führen, festigt die Strukturen der Marktwirtschaft in Ostdeutschland. Hier sind wir Architekt.« Das außergewöhnliche Interregnum der Treuhand zwischen Staat und Markt müsse schließlich dann enden, »wenn die Marktwirtschaft in Ostdeutschland« beginne, »sich selbst zu tragen« – doch bis dahin schwor die Präsidentin ihre Mitarbeiter energisch darauf ein, sich durch nichts von »unserem Kerngeschäft ›Privatisierung‹ abhalten« zu lassen.[45]

In Breuels »Grundsatzreferat« vom Herbst 1991 zeichnete sich der beträchtliche konzeptionelle Spagat ab, den eine profiliert marktliberale Ordnungspolitikerin beim praktischen Umbau der ostdeutschen Wirtschaft zu bewältigen hatte. Für Breuel schien es die am wenigsten schmerzhafte Lösung zu sein, die nötigen Eingriffe und Entscheidungen bei der Etablierung einer neuen Marktordnung durch ein unternehmerisch wie betriebswirtschaftlich ausgerichtetes, von westlichen Managern und Unternehmern geführtes, zeitlich befristetes Sonderregime vornehmen zu lassen – und nicht etwa durch ein von Beamten und Politikern geleitetes Ministerium oder eine neuartige Staatsholding, wie sie die politische Linke und Gewerkschaftler seit Mitte 1991 mit wachsender Vehemenz forderten.[46] Eine radikale Entstaatlichung durch umfassende Vermarktlichung erschien damit als erklärtes Ziel der Treuhand-Spitze.

Rund ein Jahr später, im Dezember 1992, war Breuels Tonfall bereits merklich defensiver. Die Treuhand sah sich nunmehr, nach beschleunigten Privatisierungen und forcierten Abwicklungen nebst massiven Entlassungen und entsprechenden Protesten, abermals mit heftigen Forderungen nach einer staatlichen Industriepolitik konfrontiert, um so »industrielle Kerne« im Osten zu bewahren und die drohende »Deindustrialisierung« der ehemaligen DDR zu verhindern. Die vielstimmige Kritikerschar vereinte neben der linken Opposition, die eine stärkere Rolle des Staates einforderte, auch marktliberale Politiker, Ökonomen und Unternehmer, denen die Treuhand als staatliche und damit bremsende »Mammutbehörde« ein Dorn im Auge war. Für die einen konnte die neue Marktwirtschaft im Osten ohne politische Steuerung und Planung gar nicht funktionieren; für die anderen funktionierte sie gerade deshalb nicht, weil sie noch viel zu sehr durch die »zentralistische« Treuhand reguliert werde.[47]

Im Dezember 1992 zeigte dieser Demonstrant ein aufwendig gestaltetes, treuhandkritisches Protestbanner mit charakteristischer (Treu-)Hand-Ikonographie nebst Anzug und Manschettenknöpfen, welches den Untergang der einstigen DDR-Automobilindustrie anprangerte. Deren weitgehende »Abwicklung« hatte der Treuhand-Vorstand um Detlev Rohwedder im Frühjahr 1991 beschlossen, mit Verweis auf die desolate Markt- und Wettbewerbssituation. Die bundesdeutschen Fahrzeugbauer hatten eine Übernahme der alten Produktionsstätten in Zwickau (Trabant) oder Eisenach (Wartburg) verworfen und sich stattdessen für Neuansiedlungen entschieden
(ddrbildarchiv.de, Foto: Burkhard Lange)

Breuel reagierte auf die politischen Anwürfe verschiedener Couleur, die jeweils zu viel oder zu wenig Marktdynamik beklagten, mit einem Essay, in dem sie auch intensiv auf ihr eigenes Marktverständnis ex negativo rekurrierte. Die »Soziale Marktwirtschaft« sei eine grundlegende »Ordnungsform«, jedoch »keine praktische Lebenshilfe für Einzelfälle«: »Sie sagt eher, was man nicht tun sollte, als was man tun muß, um auf jeden Fall Erfolg zu haben.« Wegen der in der ostdeutschen Gesellschaft aufwallenden »Enttäuschung« beginne bei »engagierten Politikern« nun eine »umtriebige Suche nach einer Industriepolitik«: »Wenn es mit der Ordnung der Marktwirtschaft nicht schnell und einfach genug« gehe und »vor allem, wenn es weh« tue, dann komme schnell »das Heftpflaster der Industriepolitik« ins Gespräch. Demgegenüber sollten Politik, Ökonomie und Öffentlichkeit der massiv angefeindeten Treuhand und ihrem Personal »die Freiheit« lassen, die eingeschlagene Privatisierungspraxis zu einem schnellen Ende zu führen. Das massenhafte und konkrete Alltagsgeschäft des Wirtschaftsumbaus sei eine Art »Säurebad der deutschen Einheit«, das »alle Patentrezepte« erst einmal durchlaufen müssten – die ökonomische Theorie mit ihren Zahlen und Modellen sei das eine, die »operative« Praxis der Einführung einer Marktwirtschaft etwas völlig anderes.[48]

Noch grundsätzlicher reflektierte Breuel im März 1993 über ihr Verständnis von Marktwirtschaft, als ihre Organisation gerade durch eine Reihe schwerer Korruptionsskandale erschüttert wurde. In »einer pluralistischen[,] dezentralen und heterogenen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung« erschien es ihr als fataler Irrglaube, eine »Steuer- und Regelbarkeit der Prozesse durch zentrale Instanzen« vorzutäuschen: »Die Wirklichkeit ist durch das Miteinander von hunderttausenden mehr oder weniger autonomen Akteuren geprägt, die miteinander kommunizieren, sich gegenseitig beobachten, auch belauern, freundlich miteinander reden, aber beinhart miteinander im Wettbewerb stehen. Wer da vorgibt, die großen Räder drehen zu können und eine Entwicklung steuern zu können, der ist naiv. Allerdings wird es immer wieder versucht.« Gerade mit Blick auf den massiven postsozialistischen »Strukturwandel« bewertete Breuel die Interventionsversuche als völlig aussichtslos – und wählte dafür ein eindrucksvolles Sprachbild: »Die Eingriffsmöglichkeiten sind so begrenzt wie die eines Schleusenwärters, dem man das Schleusentor weggesprengt hat.« Die Treuhand könne nur versuchen, jedem einzelnen ihrer Betriebe vom Ufer aus Rettungsringe zuzuwerfen, damit diese Betriebe im reißenden Strom des marktwirtschaftlichen Wandels nicht hoffnungslos abgetrieben und sinken würden – doch das Schwimmen in solchen Gewässern müssten diese selbst erlernen oder aber hierfür einen erfahrenen Steuermann aufspüren: eben durch eine zügige Privatisierung, um so »neue Chancen für das Unternehmen einzukaufen, Markt, Know-how, Technologie, Management, Kapital usw.« Es waren dies allesamt marktbezogene Aufgaben, die die Treuhand als eine zentrale Instanz aus Sicht der Präsidentin keineswegs erfüllen konnte.[49]

5. Die individuellen Märkte der Praktiker

Gerade im Kontrast zu den noch vor Beginn des Wirtschaftsumbaus von Ökonomen und Politikern diskutierten Konzeptionen, die den Markt Anfang 1990 entweder als Idealzustand oder als dynamischen Prozess begriffen, verwiesen die von Spitzenkräften des Wirtschaftsumbaus formulierten und sich stark wandelnden, praxisbezogenen Marktkonzeptionen auf einen im Zuge des Umbaugeschehens rapide verfallenden Glauben an die prinzipielle Formbarkeit der als chaotisch empfundenen postsozialistischen Transformationsprozesse. Doch wie gestalteten sich gegenüber diesen Reflexionen auf der Spitzenebene des ostdeutschen Wirtschaftsumbaus die Perspektiven der Praktiker in den Reihen der Treuhand, die sich mit der konkreten Alltagssituation der ostdeutschen Betriebe befassten, indem sie deren Zukunftschancen analysierten und bewerteten, deren Betriebsleitungen bei Restrukturierungen und Investitionen begleiteten, nach möglichen Investoren suchten oder aber ihre endgültige »Abwicklung« einleiteten? Die individuellen Beschreibungen und Deutungen dieser Manager wurden im Rahmen des ethnologisch-sozialwissenschaftlichen Interviewprojekts von 1992/93 systematisch eingefangen, das die Treuhand-Spitze Ende 1991 selbst in Auftrag gegeben hatte, um so subjektive »Innenansichten« des eigenen Personals zu sammeln. Im Rahmen dieser Interviewstudie wurden insgesamt 50 Treuhand-Mitarbeiter aus der zweiten Führungsreihe ausführlich befragt – häufig an ihren Arbeitsplätzen, in halboffenen und teilstandardisierten Interviews. Diese Gespräche wurden auf Tonband aufgezeichnet und in Protokollform (auf Umwegen) überliefert.[50]

Die Interviews bieten einen exklusiven Einblick in die Reflexionen der »Praktiker«, der eine Analyse subjektiver Marktvorstellungen zulässt – analog etwa zu dem, was Philipp Ther am Beispiel polnischer Unternehmer und Selbstständiger nach 1989 als »Transformationen von unten« beschrieben hat.[51] Und diese zeitgenössischen Stimmen fallen gleichermaßen überraschend wie vielseitig aus. Mit der marktoptimistischen »Schocktherapie« von 1990 etwa zeigten sich mitnichten alle Treuhand-Manager zufrieden. So berichtete ein von der US-Tochter eines bundesdeutschen Großunternehmens aus patriotischen Erwägungen heraus spontan Ende 1990 zur Treuhand gewechselter Manager, der dort ein eigenes Branchen-Direktorat aufgebaut hatte, im Herbst 1992: »[D]er ENTTÄUSCHUNGSprozeß im Osten, der ist – in einem AUSMASS eskaliert, daß ich nicht glaube, daß man den wieder einfangen kann. Das sind sehr sehr nachhaltige Enttäuschungen über das, was Kapitalismus und Marktwirtschaft bedeutet. […] Ich möchte so sagen, die Soziale Marktwirtschaft und der Kapitalismus haben sich hier in Ostdeutschland NICHT geschickt etabliert. Um nicht zu sagen, es war aus meiner Sicht ein Fehler, – nicht SEHR frühzeitig doch systematische Strukturpolitik anzusetzen, der Treuhandanstalt diese Aufgabe zu geben. Das hat man NICHT getan, das hätte man tun müssen. […] Es dem freien Spiel der Kräfte auszusetzen und darin die Lösung zu sehen, nur weil unser Wirtschaftssystem normalerweise so funktioniert, das konnte nicht gut gehen. Nur läßt sich das jetzt nicht mehr zurückdrehen.«[52]

Später im Gespräch konkretisierte der Treuhand-Direktor seine Vorbehalte nochmals – und ging dabei auch auf die Etablierung der bundesdeutschen Marktwirtschaft in den 1940er- und 1950er-Jahren ein, die in einem längeren »Übergangsprozeß« erfolgt sei. Das Vertrauen in die Selbstregulierung durch die Märkte teilte der Praktiker mitnichten; vielmehr schienen er und seine Treuhand-Kollegen damit beschäftigt zu sein, diesen (wirtschafts)politischen Kardinalfehler einer ruckartigen Markteinführung ohne Schutzmaßnahmen Mitte 1990 und deren Konsequenzen nach Kräften im Alltagsgeschäft zu überbrücken: »Hier ist mit SICHERHEIT eine Erfahrung die, daß es ein völliger Fehler ist, zu meinen, man müßte die […] Fabriken nur in die freie Marktwirtschaft entlassen, und es regelte sich von selbst. Es regelt sich überhaupt nichts von selbst. Und so ist auch die Marktwirtschaft in Deutschland gar nicht entstanden. Die Marktwirtschaft in Westdeutschland nach dem Kriege ist entstanden aus einem Übergangsprozeß, der durch Devisenkontrolle, durch Reglementierungen noch und nöcher geprägt war, und wo man SUKZESSIVE die freie Marktwirtschaft mit ihren neuen sozialen Gesetzgebungen aufgebaut hat. Sehr feinsinnig, und über mehr als zehn Jahre. Daß man das hier im Osten nicht gemacht hat, war ein Fehler. Wir haben uns so gut geschlagen mit Bordmitteln, wie wir konnten.«[53]

Auch ein anderer Treuhand-Manager, der im Herbst 1990 aus einer Software-Firma nach Ost-Berlin gewechselt war und sich dort eine neue professionelle »Challenge« jenseits eingespielter Unternehmensroutinen erhofft hatte, erregte sich in seinem Interview vom Januar 1993 über den »absurden« Marktglauben vor allem der westdeutschen Ökonomen, deren theoretische Schriften ihm und seinen Kollegen keinerlei Hinweise für die praktische Ausgestaltung beim Umbau einer Plan- in eine Marktwirtschaft geboten hätten: »[W]enn Sie mal die Sachverständigengutachten der sogenannten WIRKLICHEN Leute, die sich mit sowas beschäftigen, die auch ZEIT haben, ich meine, die in der Treuhandanstalt haben den Hut voll gehabt bis oben, ich sage das jetzt mal ein bißchen aggressiv, die anderen sitzen rum und schreiben Sachverständigengutachten, und wenn Sie die LESEN, da steht NICHTS drin, außer ganz rasch, ganz schnell, alles völlig dem Markt aussetzen, der Markt wird es schon schaffen. Ich glaube, das ist dann ABSURD, nun ausgerechnet denjenigen, die mitten in der täglichen Arbeit drinstecken, zu sagen, sie hätten merken sollen, daß diese ganzen Sachverständigengutachten der reine Hohn sind.«[54]

Ende 1991 lancierte der Vorstand der in Ost und West beständig kritisierten Treuhandanstalt eine interne Kampagne unter dem Motto »Miteinander. Arbeiten für die Soziale Marktwirtschaft«. Zur Festigung der nachlassenden Motivation des Personals gedacht, fanden die identitätsstiftenden Bemühungen bei den Adressaten jedoch eine eher gemischte Aufnahme: Mitarbeiter der Dresdner Treuhand-Zweigstelle ließen sich 1992 T-Shirts mit dem Schriftzug »Durcheinander« anfertigen. Die Fotos zeigen die Vorder- und Rückseite des Kleidungsstücks.
(Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn)

Diese beiden Treuhand-Experten gaben sich in ihren zeitgenössischen Gesprächen sehr offen marktskeptisch und gingen dabei auch auf Konfrontationskurs gegenüber der ursprünglichen Generallinie des im Sommer 1990 etablierten deutsch-deutschen Modells – vor allem was dessen (theoretische) Grundüberlegung anbelangte, der bzw. ein Markt könne oder müsse ohne weiteres Zutun das Transformationsgeschehen quasi eigenständig regulieren. Einer ihrer Abteilungsleiter-Kollegen, der als Jurist vor 1990 als politischer Karrierebeamter in einer christlich-liberalen Landesregierung tätig gewesen war, kam in seinem Interview vom Juli 1992 auch auf die Schwierigkeiten zu sprechen, die sich aus seiner Sicht bei der Etablierung von Marktwirtschaften im ganzen postsozialistischen Raum Ost(mittel)europas zeigten – dort fehlten den Menschen aus seiner Sicht nämlich jegliche »Erfahrungen« mit Marktprozessen: »[E]s kann eigentlich auch gar nicht anders sein, weil die [Osteuropäer] eben seit 1917 [sic!] unter dem Joch des Sozialismus gelitten haben, wenn Sie so wollen, und eben keinerlei Erfahrungen, auch keine rudimentären, mit Marktwirtschaft oder überhaupt mit irgendeiner anderen Art von wirtschaftlicher Ordnung haben, und deswegen fehlt denen bei vielen Begriffen auch einfach das Verständnis.«[55] Es erschien dem Abteilungsleiter gerade als ein »mentales Problem«, dass man sich in den postsozialistischen Gesellschaften nun sehr schwer tue, die Marktwirtschaft anzunehmen: »Es ist ja eine wirkliche Gegenkonzeption, […] aus der man sozusagen die besten Kräfte, kontrolliert und gelenkt, auch die, die man menschlich manchmal verachten mag, nämlich Neid, Mißgunst und Ehrgeiz und Egoismus, steuernd einsetzen kann, indem man sozusagen das zum Guten wendet und einen Output für die Gesellschaft dabei erzielt, den keine andere Gesellschaftsform zustandebringt. […] Das wird ein Lernprozeß, der dauert mindestens eine Generation.«[56]

Bei allen drei bislang vorgestellten Experten-Erzählungen erschien der Markt bzw. die Marktwirtschaft nicht als universell übertragbares, selbstregulatives Prinzip, sondern als jeweils strukturell bzw. kulturell voraussetzungsreiches Ordnungs- und Organisationsmodell – weshalb die Befragten vor dem Hintergrund der selbst erfahrenen Alltagspraxis des krisenhaften Wirtschaftsumbaus mit der beschleunigten Übertragung von Marktprinzipien in den postsozialistischen Raum bemerkenswert offen haderten. Doch nicht alle Treuhand-Manager gaben sich 1992/93 als marktskeptische Pragmatiker, im Gegenteil: Ein Treuhand-Abteilungsleiter, der zuvor mehrere Jahre als selbstständiger Industrieberater tätig gewesen war und sich seinem Interviewpartner selbstbewusst als »freischaffender Künstler« vorstellte,begriff sich als »überzeugte[n] Marktwirtschaftler«, dessen im November 1990 übernommene Aufgabe bei der Treuhand es ihm ermöglicht habe, endlich auch in Ostdeutschland durch zügige Privatisierungen den »Markt sprechen zu lassen«: »[A]ber die Privatisierung verhaftet [d.h. zwingt] zur Beschleunigung der Privatisierung, zur Beschleunigung der Einführung der Marktwirtschaft, zur Beschleunigung der Schaffung eines privaten Mittelstandes, – und ich muß gestehen, daß ich darauf besonders stolz bin, weil ich hier meine wirtschaftspolitische Überzeugung an einem praktischen Beispiel ERFOLGreich habe durchsetzen können, GEGEN alle Besserwisser.« Dieser Abteilungsleiter zeigte ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein und verhehlte im Gespräch nicht die eigene Freude darüber, dass der »Zusammenbruch« der »weltweite[n] Krankheit« Sozialismus nun auch dazu geführt habe, dass endlich »alle Welt« verstanden habe, dass »Staatsunternehmen nicht gut« seien: »[J]etzt auf einmal ist das Pendel umgeschlagen, und alle Welt will von ihren Staatsunternehmen, sei es staatlich gegründeten oder verstaatlichten Unternehmen wegkommen, weil sie gemerkt haben, das ist schlecht.«[57]

Einen anderen Treuhand-Abteilungsleiter, der zuvor im Management diverser mittlerer und größerer Unternehmen aktiv gewesen war, bevor er Anfang 1991 in die Dienste der Treuhand trat, reizte besonders der Gedanke, in Ostdeutschland »etwas mit schaffen« zu können und dort als Wirtschaftsexperte selbst zu einem »Architekt[en] einer neuen Industrie- und Wirtschaftslandschaft« aufsteigen zu können. Es war dabei vor allem der Glaube an die Unfehlbarkeit objektiver Marktprozesse, der ihm in seinem Gespräch vom April 1993 als grundlegende Richtschnur der professionellen Selbstreflexion diente – so kritisierte er die stetigen Proteste linker Politiker oder Gewerkschaftler, wenn es um die Schließung hochdefizitärer Betriebe ging: »[I]ch halte es für verkehrt, hier starr an existierenden [Betrieben und deren Produkten] festzuhalten, wo einem der Markt bewiesen hat, daß kein Platz dafür ist. Daß einem der Markt das zum Teil sehr hart und sehr brutal beigebracht hat, das ist nunmal der freie Markt […], damit muß man leben, und dafür waren wir ja da, um Alternativen zu finden.« Etwas später im Gespräch brachte der Abteilungsleiter seine Überlegungen auf die einprägsame Formel, dass »überhaupt der Markt« als universelles gesellschaftliches »Regulans« anzuerkennen sei: »[D]as sind eben Mechanismen, die können wir hier gar nicht von vornherein beeinflussen, die diktiert der Markt. So wie ich der Meinung bin, daß überhaupt der Markt das Regulans unseres Lebens ist. Man kann den Markt BEGRENZT steuern, stimulieren. Aber in Hinsicht auf den Gesamtmarkt der Investitionen und der Kaufkraft hat der Markt seine eigenen Mechanismen und kann nicht endlos stimuliert werden.«[58]

Dieser knappe Streifzug durch zeitgenössische Wahrnehmungen und Deutungen von Märkten bzw. Marktprozessen durch einzelne Praktiker des ostdeutschen Wirtschaftsumbaus zeigt, dass sich in den 1992/93 aufgezeichneten Gesprächen verschiedene Marktreflexionen herauskristallisierten. Zwar schienen alle Befragten von der prinzipiellen Überlegenheit marktwirtschaftlicher Ordnungsmuster überzeugt zu sein; doch blieb die zentrale Frage offen, wie diese Konzeptionen im spezifischen Kontext der alltäglichen Übergänge von der Plan- zur Marktwirtschaft praktisch umzusetzen seien. Auf den operativen Führungsebenen der Treuhand fanden sich neben »überzeugten Marktwirtschaftlern« auch erklärte Skeptiker, die einen »blinden Marktglauben« mit Blick auf strukturelle wie kulturelle Voraussetzungen von komplizierten Marktbildungsprozessen zurückwiesen. Unter den westlichen Managern der ökonomischen Transformation gab es damit, konträr zu bis in die jüngste Gegenwart sorgsam gepflegten Vorurteilen über bloße neoliberale Exekutoren,[59] also durchaus Marktskeptiker, Marktpragmatiker sowie Markteuphoriker – und alle leiteten ihre Reflexionen über das (Nicht-)Funktionieren des Marktes aus ihren Erfahrungen im Alltag des postsozialistischen Wirtschaftsumbaus her: Während die einen Märkte als sehr fragile Arrangements betrachteten, überhöhten andere Zeitgenossen das Marktprinzip zu einem überzeitlich gültigen, quasi-naturgesetzlichen »Regulans«.

6. Fazit: »Marktwirtschaft ist ein schwieriges Ding«

Ein weiterer Treuhand-Direktor, der im April 1991 als Spitzenbeamter aus der Bonner Steuerverwaltung nach Berlin gewechselt war, deutete die eigene Organisation als den gezielten Versuch, eine an sich staatliche bzw. politische Aufgabe »unternehmerisch« anzugehen. Märkte sollten gewissermaßen mit Markt-Instrumenten und Markt-Experten in wettbewerblichen Verfahren erschaffen werden.[60] Einer seiner Direktoren-Kollegen, ein erfahrener süddeutscher Versicherungsmanager, gestand demgegenüber freimütig zu, dass ihn die oft störanfällige Alltagspraxis nach 1990 gelehrt habe, dass »Marktwirtschaft […] schon ein schwieriges Ding« sei, ihre sachgerechte Etablierung eben einiger Zeit, aber auch entsprechender (staatlicher) Eingriffe und Kontrollen bedürfe.[61]

In beiden Äußerungen scheinen die eingangs herausgearbeiteten Pole wieder auf, den Markt entweder als (idealen) Zustand im Gleichgewicht oder als (eigendynamischen) Prozess mit vielfältigen Einflussfaktoren zu beschreiben. Die Analyse der verschiedenen Marktkonzeptionen von Ökonomen, Politikern, Spitzenmanagern und operativen Führungskräften des ostdeutschen Wirtschaftsumbaus in den frühen 1990er-Jahren hat ein facettenreiches Mosaik an Marktordnungsvorstellungen freigelegt. Dies ermutigt dazu, das bisweilen stereotype Bild eines »neoliberalen Zeitalters« auszudifferenzieren, das insbesondere im postsozialistischen Ost(mittel)europa sein »Experimentierfeld« gefunden habe.[62] Zwar lassen sich in dieser Zeit unter den westlichen Experten und Praktikern der Wirtschaftstransformation sehr wohl inniger Marktglaube, ja bisweilen sogar triumphalistischer Marktradikalismus leicht ausfindig machen; aber zugleich verschafften sich unter ihnen auch marktskeptische bis -kritische Stimmen Gehör, die sich in ihrer reservierten Haltung durch manche krisenhaften Entwicklungen in den postsozialistischen Umbruchs- und Übergangsgesellschaften bestätigt sahen oder durch die erlebte Praxis erst zu solcher Skepsis gelangten.

Der Blick auf verschiedene, teils konkurrierende Marktkonzeptionen und -vorstellungen hat verdeutlicht, dass es auch für die hier betrachteten Akteure mitnichten selbstverständlich war, was denn ein Markt genau sein sollte, wer dort auf welche Weise agierte und zu welchem Zweck. Im Gefolge des unverhofften Zusammenbruchs der realsozialistischen Planwirtschaften und deren Verwandlungen in Marktwirtschaften lassen sich mindestens vier verschiedene Deutungsmuster bzw. Verwendungsweisen des Markt-Begriffs klassifizieren: Während erstens einige Ökonomen, wie die »Wirtschaftsweisen« im Januar 1990, eine Marktordnung als theoretischen Ziel- bzw. Idealzustand beschrieben, erschien er anderen Protagonisten zweitens als Prozess- bzw. Stromgröße sui generis – eine Vorstellung, die letztlich auch die konzeptionelle Grundlage der abrupten Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion bildete, für die bezeichnenderweise nicht Milton Friedman, sondern Ludwig Erhard Pate stand. Die veränderlichen Marktkonzeptionen des Spitzenpersonals des Wirtschaftsumbaus zeigten drittens die massive Tendenz eines abnehmenden Glaubens an die prinzipielle Steuerbarkeit des Übergangs von der Plan- zur Marktwirtschaft. Hatte etwa Treuhand-Präsident Detlev Rohwedder im Herbst 1990 noch selbstbewusst eine zielgerichtete Gestaltung der künftigen Wirtschaftsordnung durch von Wirtschaftsexperten arrangierte Privatisierungen erwartet, erschien die Marktwirtschaft bzw. deren konfliktreiche Etablierung in der ehemaligen DDR seiner Nachfolgerin Birgit Breuel in den frühen 1990er-Jahren bald als unendlich komplexes, »von oben« quasi unregulierbares Praxisfeld. Schließlich zeigte viertens die Betrachtung individueller Markt-Reflexionen »von unten«, dass auch die Treuhand-Manager der mittleren Führungsebenen über das jeweilige (Nicht-)Funktionieren postsozialistischer Marktbildungsprozesse teils intensiv nachdachten und dabei zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen gelangten.

Einige wichtige Schnittstellen konnten hier nicht näher betrachtet werden – etwa die Einbettung verschiedener Marktideen in weitere Strömungen des Liberalismus oder die für den deutsch-deutschen (Sonder-)Weg vom Plan zum Markt nach 1990 charakteristische Dialektik zwischen forciertem Umbau der Planwirtschaft und der massiven sozialstaatlichen Abfederung der gesellschaftlichen Folgewirkungen durch die »Soziale Marktwirtschaft«. [63] Dennoch macht die Analyse verschiedener Vorstellungen von Märkten bzw. Marktordnungen auf der konzeptionellen Makro- wie auf der individuellen Mikroebene bereits deutlich, dass die nunmehr einsetzende, zeithistorische Erforschung der postsozialistischen Umbruchs- und Übergangsepoche in Europa nach 1989 ihren Fokus stärker differenzierend auf die konkreten Akteure, Konzepte, Konstellationen, Prozesse sowie deren zeitgenössische (Selbst-)Reflexionen richten sollte. Dies dürfte vor allem dabei helfen, sich von den ideen- bzw. dogmengeschichtlichen Höhenkämmen[64] hinab in die praxisgeschichtlichen Täler zu bewegen und dadurch neue Erkenntnisse zu gewinnen. Gleichermaßen wird man die oft affirmative und funktionalistische Vogelperspektive der zeitgenössischen Transformationsforschungen noch konsequenter historisieren müssen.[65] Ferner gilt es aber auch, eine undifferenzierte Kritik »des« Neoliberalismus zu vermeiden, die diesen – und gerade auch die hier anzutreffenden Marktvorstellungen – zumeist als kaum konturiertes Gegenüber, als »Black Box« attackiert hat. Galten die in der Transformationszeit beschrittenen Wege lange Zeit als »alternativlos«, scheint das diskursive Pendel im Gefolge der nach 2007/08 erschütterten ökonomischen (Markt-)Gewissheiten endgültig umgeschlagen zu sein. Doch ein näherer zeithistorischer Blick offenbart, dass sich schon die Manager und Praktiker im umkämpften Alltag des ostdeutschen Wirtschaftsumbaus die Frage stellten, ob der »freie« Markt wirklich die ultimative Lösung sei – oder aber ein Teil des Problems.

Anmerkungen:

[1] Christa Luft, Zwischen WEnde und Ende. Reminiszenzen einer Zeitzeugin, 3., erweiterte Aufl. Berlin 1999, S. 93f.

[2] Ebd., S. 91.

[3] André Steiner, Die DDR-Volkswirtschaft am Ende, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Revolution und Vereinigung. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 113-129; Wolfgang Seibel, Wenn ein Staat zusammenbricht. Über die Frühgeschichte und Funktion der Treuhandanstalt, in: Norbert Frei/Dietmar Süß (Hg.), Privatisierung. Idee und Praxis seit den 1970er Jahren, Göttingen 2012, S. 184-207.

[4] Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005.

[5] Vgl. als Ausnahme Thomas Buchner, Arbeitsvermittlung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. (Selbst-)Regulierung als Marktkonstruktion, in: Peter Collin (Hg.), Regulierte Selbstregulierung im frühen Interventions- und Sozialstaat, Frankfurt a.M. 2012, S. 217-238.

[6] Dazu die verschiedenen Entwürfe bei Hartmut Berghoff/Jakob Vogel (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a.M. 2004; Susanne Hilger/Achim Landwehr (Hg.), Wirtschaft – Kultur – Geschichte. Positionen und Perspektiven, Stuttgart 2011; Christof Dejung/Monika Dommann/Daniel Speich Chassé (Hg.), Auf der Suche nach der Ökonomie. Historische Annäherungen, Tübingen 2014.

[7] Dazu einschlägig: Hans Günter Hockerts, Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 51 (2001) H. 28, S. 15-30; Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, 3. Aufl. 2012; Andreas Rödder, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, München 2015.

[8] Vgl. dazu Dieter Bingen/Maria Jarosz/Peter Oliver Loew (Hg.), Legitimation und Protest. Gesellschaftliche Unruhe in Polen, Ostdeutschland und anderen Transformationsländern nach 1989, Wiesbaden 2012, sowie spezifischer Ulla Plener (Hg.), Die Treuhand, der Widerstand in den Betrieben der DDR, die Gewerkschaften (1990–1994), Berlin 2011.

[9] Vgl. etwa Christopher J. Schwarzer, Inside Ost. Vom West-Berater zum Ost-Unternehmer, München 2014; Friedrich Thießen (Hg.), Die Wessis. Westdeutsche Führungskräfte beim Aufbau Ost, Köln 2009.

[10] Die Resultate dieses Großprojektes, das zwei Dutzend namhafte bundesdeutsche Ökonomen, Juristen und Sozialwissenschaftler versammelte, wurden bereits zeitgenössisch publiziert: Wolfram Fischer/Herbert Hax/Hans Karl Schneider (Hg.), Treuhandanstalt. Das Unmögliche wagen, Berlin 1993.

[11] Vgl. Dietmar Rost, Innenansichten der Treuhandanstalt. Ergebnisse einer qualitativen Befragung von Führungskräften, Freie Universität Berlin 1994 (Forschungsgruppe Altern und Leben [FALL], Forschungsbericht 43, Mai 1994). Diese zeitgenössischen Interviews, die sich methodisch explizit an der von Lutz Niethammer geprägten »Oral History« orientierten, gerieten nach dem Ende der Treuhandanstalt im Jahr 1994 weitgehend in Vergessenheit und wurden nicht mehr systematisch bearbeitet. Die Originaltonbänder bzw. Transkripte waren im schwer bzw. gar nicht zugänglichen »Archiv« der Treuhandanstalt bzw. ihrer Nachfolgebehörden trotz intensiver Bemühungen nicht mehr auffindbar. Die hier ausgewerteten und verwendeten Textprotokolle der Interviews habe ich im Zuge meiner eigenen Recherchen in einem abseitigen Privatbestand entdeckt, wo sie eher zufällig in einer Diskettenbox lagerten. Ein Großteil der Datenträger war auch nach zwei Jahrzehnten noch lesbar.

[12] Vgl. hierzu Tim Schanetzky, Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik, 1966 bis 1982, Berlin 2007.

[13] Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Zur Unterstützung der Wirtschaftsreform in der DDR: Voraussetzungen und Möglichkeiten. Sondergutachten vom 20. Januar 1990; abgedruckt in: Treuhandanstalt (Hg.), Dokumentation 1990–1994, 15 Bde., Berlin 1994, hier Bd. 1, S. 852-864 (Zitate S. 852), und Bd. 2, S. 17-67.

[14] Ebd., S. 854.

[15] Ebd., S. 857.

[16] Ebd.

[17] Ebd., S. 858.

[18] Ebd.

[19] Vgl. dazu Dieter Grosser, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998.

[20] Vgl. dazu die verschiedenen Schilderungen im offiziellen Erinnerungsband des Bundesfinanzministeriums: Theo Waigel/Manfred Schell (Hg.). Tage, die Deutschland und die Welt veränderten. Vom Mauerfall zum Kaukasus. Die deutsche Währungsunion, München 1994.

[21] Ludwig Erhard, Wirtschaftliche Probleme der Wiedervereinigung [1953], in: Karl Hohmann (Hg.), Ludwig Erhard. Gedanken aus fünf Jahrzehnten, Düsseldorf 1988, S. 381-386, hier S. 381f.

[22] Ebd., S. 381.

[23] Ebd., S. 383.

[24] Ebd., S. 382.

[25] Ebd., S. 383.

[26] Ebd., S. 385.

[27] Ebd., S. 384.

[28] Ebd., S. 386.

[29] Vgl. dazu Markus Gloe, Planung für die deutsche Einheit. Der Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands, 1952–1975, Wiesbaden 2005; Dirk van Laak, Der Tag X: Vorbereitungen für die deutsche Wiedervereinigung vor 1989, in: Enno Bünz/Rainer Gries/Frank Möller (Hg.), Der Tag X in der Geschichte. Erwartungen und Enttäuschungen seit tausend Jahren, Stuttgart 1997, S. 256-286; Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 402-407.

[30] André Steiner, Der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion vom 1. Juli 1990, in: Henke, Revolution und Vereinigung (Anm. 3), S. 441-455.

[31] Schreiben des Vorsitzenden des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Schneider, an Bundeskanzler Kohl, Wiesbaden, 9. Februar 1990; abgedruckt in: Bundesministerium des Innern (Hg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, München 1998, S. 779ff.

[32] Zur Gleichsetzung von »1948« und »1990« vgl. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte (Anm. 29), S. 402-407.

[33] Exemplarisch Rudolf Hickel/Jan Priewe, Nach dem Fehlstart. Ökonomische Perspektiven der deutschen Einigung, Frankfurt a.M. 1994.

[34] Vgl. im Überblick: Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009, v.a. S. 279-365.

[35] Bericht des Vorstandes der Treuhandanstalt über den Abschluß der Arbeiten zum 31.12.1994, in: Treuhandanstalt (Hg.), Dokumentation, Register-Band, Berlin 1994, S. 3-18. Nach DDR-Zählung waren es rund 8.000 VEBs; durch Aufspaltungen wurden hieraus rund 14.000 »Betriebseinheiten« nach Treuhand-Zählung.

[36] Hierzu die frühen Standardwerke zur Treuhand-Geschichte: Marc Kemmler, Die Entstehung der Treuhandanstalt. Von der Wahrung zur Privatisierung des DDR-Volkseigentums, Frankfurt a.M. 1994; Wolfgang Seibel, Verwaltete Illusionen. Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhandanstalt und ihre Nachfolger 1990–2000, Frankfurt a.M. 2005.

[37] Stenographische Niederschrift der Volkskammersitzung vom 13.9.1990; abgedruckt in: Treuhandanstalt, Dokumentation, Bd. 2 (Anm. 13), S. 155.

[38] »Das wird lange dauern«, Wirtschaftswoche, 23.11.1990; abgedruckt in: Treuhandanstalt, Dokumentation, Bd. 1 (Anm. 13), A39.

[39] Ebd.

[40] Vgl. dazu ausführlich Marcus Böick, »Aufstand im Osten«? Sozialer und betrieblicher Protest gegen Treuhandanstalt und Wirtschaftsumbau in den frühen 1990er Jahren, in: Bingen/Jarosz/Loew, Legitimation und Protest (Anm. 8), S. 167-185.

[41] »Eine reinrassige Marktwirtschaft ist im Osten nicht denkbar«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.3.1991; abgedruckt in: Treuhandanstalt, Dokumentation, Bd. 1 (Anm. 13), A71.

[42] Rundschreiben Detlev Rohwedder an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Treuhandanstalt vom 27.3.1991; abgedruckt in: Treuhandanstalt, Dokumentation, Bd. 1 (Anm. 13), A72-A74.

[43] Birgit Breuel, Es gibt kein Butterbrot umsonst. Gedanken zur Krise, den Problemen und Chancen unserer Wirtschaft, Düsseldorf 1976; dies., Den Amtsschimmel absatteln. Weniger Bürokratie – mehr Bürgernähe, Düsseldorf 1979; dies., Perspektiven des Aufbruchs. Aus Fehlern lernen, Düsseldorf 1983.

[44] Dies., Miteinander. Arbeiten für die Soziale Marktwirtschaft, Grundsatzreferat, gehalten an den Mitarbeiter-Tagen 23. und 30. November 1991; abgedruckt in: Treuhandanstalt, Dokumentation (Anm. 13), Bd. 12, S. 917-936, hier S. 919.

[45] Ebd., S. 920ff.

[46] Vgl. Jörg Roesler, Die Treuhandpolitik. Verkauf und Abwicklung statt Sanierung und Umwandlung mit dem Ergebnis einer weitgehenden Deindustrialisierung des Ostens, in: Hannes Bahrmann/Christoph Links (Hg.), Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit – eine Zwischenbilanz, Berlin 2005, S. 93-106; sowie den generellen Debattenüberblick bei Marcus Böick, Im »Säurebad der Einheit«. Die Treuhandanstalt in den medienöffentlichen Debatten der frühen 1990er-Jahre, in: Deutschland Archiv 43 (2010), S. 425-432.

[47] Exemplarisch dazu Hans-Werner Sinn/Gerlinde Sinn, Kaltstart. Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung, Tübingen 1991, 3., überarb. Aufl. München 1993.

[48] »Der Winter kommt«, in: Treuhandanstalt Informationen Nr. 17 (Dezember 1992), S. 4f.

[49] »Industrielle Kerne – Was wir damit meinen«, in: Treuhandanstalt Informationen Nr. 18 (März 1993), S. 10f.

[50] Siehe oben, Anm. 11.

[51] Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014.

[52] Dietmar Rost, Interview Nr. 22 vom 1.10.1992; alle Hervorhebungen usw. im Original.

[53] Ebd.

[54] Rost, Interview Nr. 35 vom 7.1.1993.

[55] Rost, Interview Nr. 2 vom 22.7.1992.

[56] Ebd.

[57] Rost, Interview Nr. 10 vom 31.7.1992.

[58] Rost, Interview Nr. 49 vom 16.4.1993.

[59] Siehe auch die jüngste Debatte um die Treuhandanstalt anlässlich des 25. Jahrestages ihrer Gründung, als Verteidiger und Kritiker der Treuhand erneut hart aneinandergerieten; vgl. die kurze Übersicht bei Marcus Böick, »Not as Grimm as it looks«? Transatlantische Medienperspektiven auf die Treuhandanstalt und den deutschen Wirtschaftsumbau nach 1990, in: Deutschland Archiv, 8.7.2015, URL: <http://www.bpb.de/209190>.

[60] Rost, Interview Nr. 43 vom 29.1.1993.

[61] Rost, Interview Nr. 45 vom 5.2.1993.

[62] Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom (Anm. 7), v.a. S. 84, sowie Ther, Die neue Ordnung (Anm. 51).

[63] Vgl. dazu Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats, München 2006, 2., erweiterte Aufl. 2007.

[64] Etwa Daniel Stedman Jones, Masters of the Universe. Hayek, Friedman, and the Birth of Neoliberal Politics, Princeton 2012.

[65] Weiterführend hierzu: Kiran Klaus Patel, Zeitgeschichte im digitalen Zeitalter. Neue und alte Herausforderungen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 331-351; Philipp Ther, Das »neue Europa« seit 1989. Überlegungen zu einer Geschichte der Transformationszeit, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 6 (2009), S. 111-120; Marcus Böick/Angela Siebold, Die Jüngste als Sorgenkind? Plädoyer für eine jüngste Zeitgeschichte als Varianz- und Kontextgeschichte von Übergängen, in: Deutschland Archiv 44 (2011), S. 105-113.

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