Der Homo Sovieticus und der Zerfall des Sowjetimperiums

Jurij Levadas unliebsame Sozialdiagnosen

Anmerkungen



Jurij Levada, Sovetskij prostoj čelovek. Opyt social’nogo portreta na rubeže 90-ch godach [Der einfache Sowjetmensch. Versuch des sozialen Porträts an der Wende zu den 90er Jahren], Moskau: Mirovoj Okean 1993; dt. Ausg.: Die Sowjetmenschen 1989–1991. Soziogramm eines Zerfalls. Aus dem Russischen übersetzt von Ulrike Amtmann, Elke Brain, Luzie Cames-Komov, Sabine Konrad und Barbara Schweizerfolg, Berlin: Argon 1992, Tb.-Ausg.: München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1993. Die Zitate folgen der letztgenannten Ausgabe.
 

Der Mythos vom „neuen Menschen“ ist keine sowjetische Erfindung, sondern Teil der europäischen Ideengeschichte seit dem 18. Jahrhundert. Er nahm unterschiedliche Formen und Gestalten an, um zahlreichen politischen Ideologien zu überwältigenden Zielen und damit zu gesellschaftlichem Zuspruch zu verhelfen. In keinem anderen Land hatte der Mythos vom „neuen Menschen“ aber einen so starken Einfluss auf soziale Identitäten und politisches Handeln wie in der Sowjetunion. Die in den 1930er-Jahren zementierte Konzeption vom „Homo Sovieticus“ war zentral für die triumphale Selbstdarstellung des ersten sozialistischen Staats. Sie brachte eine historische Mission der Weltbefreiung und -eroberung und damit einen kollektiven Erlösungsglauben eindrucksvoll zur Anschauung. Darin ging sowohl das klassische marxistische Bild vom kämpferischen, siegreichen Proletariat ein als auch die überlieferte Vision von einer besonderen historischen Bestimmung des russischen Volks. Das sich aus den „neuen Sowjetmenschen“ bildende „Sowjetvolk“ werde aller Ausbeutung und Unterdrückung ein Ende bereiten und neben der Freiheit auch den hehren revolutionären Idealen der Gleichheit und Brüderlichkeit den Weg in die Wirklichkeit ebnen.

So sehr die Moskauer Propagandamaschine die titanischen Phantasien vom „Sowjetmenschen“ als triumphierendem „Erbauer des Kommunismus“ auch zelebrierte: Vielen blieb nicht verborgen, dass es sich dabei um einen fortgesetzten gesellschaftlichen Selbstbetrug handelte. In seinem 1958 zum ersten Mal veröffentlichten internationalen Bestseller „Der Sowjetmensch. Versuch eines Porträts nach zwölf Reisen in die Sowjetunion 1929–1957“ stellte der deutsche Publizist und Russlandexperte Klaus Mehnert fest, dass sich trotz aller parteistaatlichen Bildungs- und Mobilisierungskampagnen die „Russen“ nicht so ohne Weiteres sowjetisieren ließen. Er sah in der großen Mehrheit der Sowjetbürger weitgehend apolitische Menschen, denen es mehr um ihr Auskommen als um den Kommunismus gehe. Die verheißene „klassenlose Gesellschaft“ habe sich keineswegs ausgebildet. Während die Nomenklatura als neue Oberschicht des Moskauer Parteistaats besondere Versorgungsleistungen genieße und sich an einem weit überdurchschnittlichen Lebensstandard erfreue, müssten die Millionen von Arbeitern und Kolchosbauern, in deren Namen der Sozialismus eigentlich aufgebaut worden sei, weiterhin viele Entbehrungen hinnehmen. Die ambitionierte sowjetische Gesellschaftsutopie sei an den sozialen Realitäten zerplatzt.1

Ein ähnliches, international gleichermaßen viel beachtetes Bild von den eklatanten Widersprüchen des Sozialismus zeichneten in den 1980er-Jahren die sowjetischen Dissidenten Michail Voslenskij und Alexander Sinov’ev. Voslenskij arbeitete heraus, wie gut sich die Führungskader des Parteistaats als privilegierte Klasse in der rigiden, ewig defizitären Sowjetstruktur eingerichtet hätten. Die realsozialistische Klassengesellschaft beruhe auf einer Mischung aus erkaufter und erzwungener Zustimmung.2 Die Partei halte sich nicht wegen des Sozialismus an der Macht, sondern allein dank der gewährten Privilegien und der von der Geheimpolizei verbreiteten Angst. In seinem autobiographischen Collagenroman verwandte Sinov’ev darum den Begriff des „Homo Sovieticus“ explizit als Signum einer negativen Identität. Statt der ersehnten „Übermenschen“ habe der Moskauer Parteistaat ein Volk von Opportunisten geschaffen, die keine Mittel scheuten, um sich materielle Wünsche zu erfüllen und sich allen Zumutungen des Sozialismus so weit wie möglich zu entziehen.3

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In der Sowjetunion selbst mutierte der als Erlöserfigur gefeierte „Homo Sovieticus“ Ende der 1980er-Jahre in einem rasanten Prozess um sich greifender Frustration zu einem sovok. Dieser populäre Begriff bedeutet als Diminutiv (sov-ok) zum einen „Sowjetchen“, zum anderen im üblichen russischen Sprachgebrauch „Kehrblech“. Mit seiner doppelten Bedeutung zog der Begriff die Identität der Sowjetbürger buchstäblich in den Schmutz. Auf der Suche nach den Ursachen und Folgen dieser rasanten Entwertung überlieferter kollektiver Selbstbilder können Historiker kaum am faszinierenden Soziogramm des „Sowjetmenschen“ vorbeigehen, das eine Gruppe Moskauer Sozialwissenschaftler unter der Leitung von Jurij Levada in der Endphase des Sowjetimperiums erstellte.

Die empirische Grundlage dieser in ihrer Form einzigartigen historischen Quelle ist eine umfangreiche repräsentative Meinungsumfrage, die vom neu eingerichteten „Allunions-Zentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung“ (VCIOM) anhand standardisierter Fragebögen zwischen 1989 und 1991 durchgeführt wurde.4 In vielen Regionen der Sowjetunion antworteten insgesamt 2.700 Personen auf mehr als 100 Fragen, die sowohl alltägliche Lebenseinstellungen zu Arbeit und Familie, zu Religion und Tradition, zu Liebe und Gewalt umfassten als auch politische Ansichten, Meinungen und Erwartungen.

Mit der Gründung des VCIOM und dem Aufschwung der wissenschaftlichen Meinungsforschung kam es Ende der 1980er-Jahre zu einer späten Blüte der sowjetischen Soziologie, die in stalinistischer Zeit als Wissenschaft der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung jahrzehntelang verbannt worden war.5 Mit der Etablierung seiner Gewaltherrschaft hatte Stalin 1931 eine neue „marxistisch-leninistische Gesellschaftswissenschaft“ durchgesetzt. Er gelangte – zusammen mit den anderen, ihm ergebenen Parteiführern – zur festen Überzeugung, aus dem politisch instrumentalisierten Dialektischen und Historischen Materialismus ließen sich soziale Gesetzmäßigkeiten ableiten. Die kritische sozialwissenschaftliche Analyse gesellschaftlicher Transformationsprozesse schien mit dem proklamierten Aufbau des Sozialismus überflüssig geworden zu sein. Die Soziologie galt fortan als bürgerliche Pseudowissenschaft, für die es im sowjetischen Forschungs- und Lehrbetrieb keinen Platz gab.

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Erst drei Jahrzehnte später kam es unter den Vorzeichen von Entstalinisierung und Tauwetter zu einer ersten zaghaften Reaktivierung der empirischen Sozialforschung. Die Parteiführung unter Chruščev hatte erkennen müssen, dass sich der industriegesellschaftliche Wandel mit dem herkömmlichen, stark ideologiegeleiteten Wissenschaftskonzept weder angemessen diagnostizieren noch prognostizieren ließ. Die politisch kaum mehr zu kontrollierende Mobilität der Bevölkerung sowie die Entstehung neuer Konsum- und Freizeitbedürfnisse warfen immer größere Steuerungsprobleme auf. Die Führung hatte einen enormen Informationsbedarf. Die praktische Verwertbarkeit der soziologischen Forschung und ihr politischer Nutzen fanden nunmehr neue Aufmerksamkeit.

Die Ende der 1950er-Jahre beginnende vorsichtige Rehabilitierung der Sozialwissenschaften lässt sich an der Karriere von Jurij Levada gut nachzeichnen.6 1930 geboren, habilitierte sich Levada 1966 mit einer Arbeit über die soziologischen Probleme von Religion. Als Hochschullehrer und Forscher trug er viel zur Anerkennung der Soziologie als Wissenschaftsdisziplin und Studienfach bei. Im damals größten sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum des Landes, dem 1968 an der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften gegründeten Institut für Konkrete Sozialforschung (IKSI), leitete er die Sektion für Theorie und Methodik. Dort versammelte er einen Kreis engagierter junger Forscher um sich.

Diese akademische Aufbruchstimmung verlor jedoch schon 1969 an Dynamik. Ein Jahr nach der Niederschlagung des Prager Frühlings kam es wegen angeblich unliebsamer Aussagen Levadas zu einer kampagnenartigen Entrüstung im sowjetischen Wissenschafts- und Universitätssystem. In der Folgezeit verlor der führende theoretische Sozialwissenschaftler des Landes seine Lehrerlaubnis und seine Ämter; er wurde zum einfachen akademischen Mitarbeiter in einem wirtschaftswissenschaftlichen Institut degradiert. Seine weiteren Studien waren nur einem kleinen Kreis von Lesern zugänglich; sie wurden erst 1993 angemessen publiziert.7

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Seit den frühen 1970er-Jahren war Levada zwar wissenschaftlich marginalisiert; er unterhielt aber weiter engen Kontakt zu seinen früheren Wegbegleitern. Hinter den Kulissen des offiziellen Forschungs- und Lehrbetriebs blieben die akademischen Netzwerke intakt. Diese „Levada-Seminare“ bildeten ein informelles Forum reflektierender gesellschaftlicher Selbsterkenntnis und gewährleisteten, dass die sowjetische Sozialwissenschaft nicht der Stagnation anheimfiel.

Sein großes akademisches Comeback feierte Levada 1988. Ein Jahr zuvor hatte Tatjana Saslavskaja, die Präsidentin der Sowjetischen Gesellschaft für Soziologie, in einer aufsehenerregenden Rede gefordert, die unterfinanzierte und schlecht ausgestattete Sozialforschung endlich zu einem wissenschaftlichen Informationsinstrument für die Reformpolitik Michail Gorbačevs zu machen. Saslavskaja gehörte als kritische Sozialexpertin zu den Vordenkern der Perestrojka. Mit dem Aufstieg Gorbačevs erlangte sie im Zentrum der Sowjetmacht immer größeres Ansehen und konnte schließlich ein Aktionsprogramm zur Förderung der Sozialwissenschaft durchsetzen. Unter ihrer Leitung wurde 1988 das VCIOM gegründet. Levada übernahm die Position des Leiters der theoretischen Abteilung. Als Direktorin des VCIOM sorgte Saslavskaja dafür, dass das Levada-Team unabhängig von parteistaatlichen Vorgaben forschen und publizieren durfte. Dieser lang ersehnte intellektuelle Freiraum und die neuen Ressourcen ermöglichten den Mitarbeitern des VCIOM eine enorme wissenschaftliche Produktivität.

Über die Dokumentation des Meinungsspektrums hinaus verfolgte die großangelegte Umfrageforschung das Ziel, Sozialdiagnosen zu erstellen, um Aufschluss darüber zu erhalten, wie groß die Bereitschaft der Sowjetgesellschaft zum demokratischen Wandel war, nachdem es in den 70 Jahren zuvor zu einer „Zwangssozialisierung von drei Generationen unter Bedingungen einer fast völligen gesellschaftlichen Nachrichtensperre“ und „strenger Kontrolle der Aufstiegskanäle“ gekommen sei (S. 8). Levada und sein Forscherteam verstanden Perestrojka und Glasnost’ als ein gesellschaftliches Experiment von historischem Ausmaß, an dem sie als kommentierende Beobachter teilnehmen wollten, um mit ihren oftmals unliebsamen Befunden und Prognosen die Mächtigen für bestimmte Probleme des eingeschlagenen Reformkurses zu sensibilisieren.

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Als es im August 1991 zum Staatsstreich kam, dessen Niederschlagung den Zerfall des Sowjetimperiums beschleunigte, waren die Arbeiten am in Buchform verfassten Soziogramm des „einfachen Sowjetmenschen“ gerade abgeschlossen. Unter Levadas Leitung hatte ein achtköpfiges Autorenkollektiv des VCIOM die Früchte der dreijährigen Meinungsforschungsarbeit zu einem profunden Werk zusammengeführt. Dieses Buch stand einerseits im Brennpunkt der öffentlichen Auseinandersetzung um Zustand und Perspektiven der postsowjetischen Gesellschaft; zum anderen erhielten Levada und seine Mitstreiter damit in Fachkreisen große internationale Aufmerksamkeit.

Ihre Sprache war nüchtern und akademisch gehalten; sie griff ausgiebig Begriffe der damals international gebräuchlichen Sozialtheorien auf. Bewusst wahrten die Autoren Distanz zum sowjetischen Parteijargon und zur sozialistischen Revolutionsphraseologie, der sich Gorbačev und seine Ratgeber bedienten, um die neue Politik der Perestrojka öffentlichkeitswirksam zu vermitteln. Eine politische Agenda oder ein neuer Gesellschaftsentwurf lassen sich aus dem sozialen Porträt des „Sowjetmenschen“ kaum herauslesen. Aber die Beobachtungen und Schlussfolgerungen Levadas und seines Forscherteams deuten klar darauf hin, dass sie das Ende des überlieferten Bevormundungssozialismus herbeisehnten. Verbesserte Partizipationsmöglichkeiten und Kommunikationsformen sollten den Sowjetbürgern endlich die Chance geben, den politischen Wandel mitzugestalten. Auch als Publizisten traten Levada und seine Mitstreiter wiederholt in Erscheinung. Sie fassten ihre Umfrageergebnisse in Form eines interpretierenden Monitorings sachkundig zusammen. Unverblümt sprachen sie die fatalen politischen Versäumnisse der Brežnev-Zeit an, legten die Turbulenzen der Perestrojka-Politik offen und machten ihrer Leserschaft deutlich, dass es ungeachtet aller aktuellen Probleme zu einem Mehr an Demokratie, Toleranz und Emanzipation keine Alternative gebe.

Die große, 1991 zusammengestellte VCIOM-Studie untersuchte den „Sowjetmenschen“ in seiner politischen und kulturellen Funktion als sozialen Mythos. Das Autorenkollektiv nahm an, dass die unentwegte Mythologisierung zur Ausprägung bedeutsamer Persönlichkeitsmerkmale geführt habe, die die Verhaltens- und Denkweisen eines großen Teils der Bevölkerung beeinflussten. Die Studie definierte vier Schlüsselmerkmale: „erzwungene Selbstisolation, staatlicher Paternalismus, egalitaristische Hierarchie, imperiales Syndrom“ (S. 26). Ihre Verfasser sahen darin „Antinomien“, weil die Entwicklung jedes dieser vier Charakterzüge und der damit verbundenen gesellschaftlichen Prozesse auch ihre eigene Negation enthalte. Mit dem sperrigen philosophischen Begriff der „Antinomie“ versuchte die Forschergruppe, das komplexe Wechselspiel von Stabilität und Fragilität zu fassen. Für den gleichen Sachverhalt prägte später Detlef Pollack (bezogen auf die DDR) den Begriff der „konstitutiven Widersprüchlichkeit“ des sozialistischen Systems.8 Gemeint ist dabei, dass mit dem fortgeschrittenen industriegesellschaftlichen Wandel Bestandsgarantien zunehmend akute Bestandsprobleme heraufbeschworen. Die scheinbaren systemischen Stärken schlugen in Schwächen und Defizite um. Die Sowjetunion geriet weniger durch äußere Entwicklungen und Faktoren ins Taumeln; vielmehr bildeten sich in ihrem systemischen Kern gefährliche Bruchstellen.9

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Die erste Antinomie, die lange Zeit die Stabilität des Sowjetsystems sicherte und sodann zum rasanten Zusammenbruch beitrug, war die „erzwungene Selbst-isolation“ der Sowjetgesellschaft. Sie war eng mit der von der Propaganda suggerierten Vorstellung von der Überlegenheit des „Sowjetmenschen“ verbunden. Die „Mentalität der Einzigartigkeit“ sowie die Dichotomie zwischen dem glorifizierten „Eigenen“ und dem bedrohlichen „Fremden“ boten ein universelles und zugleich simples Muster, um komplizierte Wirklichkeiten zu strukturieren (S. 17). Das Spiel mit den klar definierten Höher- und Minderwertigkeiten erwies sich aber als äußerst brisant, sobald die politische Führung einräumen musste, was viele schon gemutmaßt hatten: dass die unermüdlich propagierte Überlegenheit des Sowjetsystems eine Chimäre war und der Westen in vielen Parametern den ersten sozialistischen Staat weit hinter sich gelassen hatte. Der maßstabsetzenden Attraktivität des westlichen Systems konnten sich in der Sowjetunion bald immer weniger Menschen entziehen. Es wunderte das Forscherteam um Levada daher nicht, dass sich „die Intelligenz von einer Regimestütze in den Träger eines westlichen Vorbilds verwandelte“ (S. 32f.).

Die zweite Antinomie sahen die Forscher in der starken staatlich-paternalistischen Orientierung des „Sowjetmenschen“. Dieser nehme den Parteistaat als „eine Art Super-Institution“ wahr, die sowohl als Instanz der väterlichen Fürsorge und Garant der sozialen Ordnung auftrete wie auch als einheitsstiftendes und gesellschaftsorganisierendes Prinzip. „Die Fürsorge der Oberen muß auf die Dankbarkeit der Unteren stoßen – so lautet die Hauptformel des paternalistischen Aufbaus der Gesellschaft und der sozialen Persönlichkeit.“ (S. 19) Rund 60 Prozent der Befragten hatten angegeben, die meisten Sowjetbürger könnten „ohne ständige Fürsorge und Obhut seitens des Staates nicht überleben“ (S. 20). Als aber deutlich wurde, dass der sowjetische Parteistaat nicht in der Lage war, die „Fürsorgediktatur“ (Konrad H. Jarausch) weiter zu gewährleisten, breitete sich in der Gesellschaft das Gefühl der „sozialen Schutzlosigkeit“ (S. 152f.) immer stärker aus.

Die dritte Antinomie erwuchs aus der mit dem paternalistischen Staatsverständnis verbundenen Hinnahme hierarchischer Strukturen und dem sich daraus ergebenden sozialmoralischen Referenzrahmen. Der sowjetische Parteistaat habe eine „egalitaristische Hierarchie“ geschaffen, die zum einen den Anspruch erhob, die Gleichheit aller „Sowjetmenschen“ zu gewährleisten, zum anderen aber denjenigen, die wichtige Ämter und Positionen übernahmen, Autorität und Privilegien zuwies. Im Zuge der Kaderpolitik entstand bald eine Nomenklatura, deren soziale Position als neue Machtelite sich nicht zuletzt daraus ergab, dass sie einen bevorzugten Zugang zu Informationen und Kulturgütern, Konsumwaren und Versorgungsleistungen erhielt. Das „Kollektiv der Gleichen und die Hierarchie der Verwaltenden“ (S. 71) ließen auch in der Sowjetunion eine stratifizierte, binnendifferenzierte Gesellschaft entstehen. Die politisch-bürokratischen Verteilungsverfahren und die daraus erwachsenden Vorteilseffekte für die realsozialistische Ober- und Dienstklasse wurden lange Zeit hingenommen und öffentlich kaum problematisiert. Der in dieser „egalitaristischen Hierarchie“ angelegte Widerspruch wirkte sich aber zerstörerisch auf die sowjetische Machtpyramide aus, als die herkömmlichen Eliten durch das Versagen des bisherigen Arrangements zur Zielscheibe der Kritik wurden und sich in der zerfallenden Sowjetgesellschaft zugleich soziale Gruppen herausbildeten, die es oftmals im Grenzbereich zur Kriminalität verstanden, dank ihrer Beziehungsnetze, neuer Geschäftsideen oder auch durch Gewalt einen gewissen Reichtum zu erwerben. Die „Parteibonzen“ erhielten genauso wie legal arbeitende Kleinunternehmer und in der Schattenwirtschaft tätige Händler ein ausgesprochen negatives Sozialimage. Ihnen wurden Korruption, Gemeinheit und Herzlosigkeit vorgeworfen und eine „diffuse Aggressivität“ entgegengebracht (vgl. S. 22f.).

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Weithin geteilt wurde die Vorstellung, zwischen der alten Sowjetnomenklatura und der neuen kriminellen Welt beständen mafiaähnliche Verbindungen, die dazu führten, dass die höhere Staats- und Parteibürokratie die Umgestaltung der Eigentums- und Wirtschaftsverhältnisse bedenkenlos zu ihrer Selbstbereicherung nutzen könne. Die seit langem existierenden Ungleichheitsdimensionen würden dadurch immer sichtbarer. Zwischen den alten Vorteilsstrukturen und den transformationsbedingten neuen Ungleichheiten gab es daher schon in der Wahrnehmung der Zeitgenossen einen eindeutigen Zusammenhang. Zugleich belegten die Umfrageergebnisse des VCIOM-Teams, dass in der Endphase der Sowjetgeschichte der Marxismus-Leninismus als ideologischer Überbau kaum mehr Akzeptanz fand, die überlieferte sozialistische Programmatik einer egalitären Gesellschaft aber weiterhin populär war.

Die Ursache der schärfsten Spannungen im gesamten Sowjetsystem sah das Forscherteam viertens in den „Antinomien des Nationalen und Internationalen“. Die Umfrageergebnisse belegten eindeutig die „Explosion des Ethnischen“,10 die sich Ende der 1980er-Jahre in der Sowjetunion ereignete. Das Selbstverständnis vieler Sowjetbürger richtete sich zunehmend auf die eigene Herkunft, die durch den Punkt „Nationalität“ im sowjetischen Pass offiziell dokumentiert wurde. Die Verstaatlichung der Identität im Rahmen der überethnischen Zugehörigkeit zum Sowjetimperium geriet in Widerstreit mit dem überall erwachenden Nationalbewusstsein, in dem das Streben nach mehr Unabhängigkeit vom Diktat Moskaus zum Ausdruck kam. Angesichts dieser zentrifugalen Tendenzen zerplatzte die schöne, aber verlogene Vision von der „brüderlichen Einheit des Sowjetvolks“. Nur knapp ein Viertel der in der VCIOM-Studie Befragten gaben Ende 1989 noch an, sich mit Stolz „als sowjetischer Mensch“ zu bezeichnen (S. 37), und 54 Prozent erklärten ein Jahr später, dass die Sowjetunion niemandem als positives Beispiel dienen könne (S. 307).

In ihrem Soziogramm stellten die Forscher der Reformpolitik Gorbačevs deshalb kein gutes Zeugnis aus. Sie sei kaum mehr in der Lage, den „Prozess des lawinenartig anwachsenden Zusammenbruchs der sozialen Institutionen und des Einstürzens menschlicher Vorbilder der vergangenen Epoche aufzuhalten“ (S. 298). Der allgemeine Vertrauens- und Autoritätsverlust ließ sich besonders an der schwindenden Popularität Gorbačevs ablesen. Seit 1988 und noch rasanter 1989 verlor er mit seiner Reformpolitik an gesellschaftlichem Zuspruch. Als Gorbačev 1990 den Friedensnobelpreis erhielt und er im Ausland im Zenit seines Ansehens stand, sprach die Mehrzahl der Sowjetbürger nicht mehr ihm das Vertrauen aus, sondern seinem Widersacher Boris Elʼcin (S. 231f.).

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1992, schon nach dem Zerfall des Sowjetimperiums, erschien das Soziogramm des „Sowjetmenschen“ in Buchform. Das Forscherteam um Levada sprach noch von einer demokratischen Entwicklung, deren Ausgang offen sei. In den Prognosen überwog aber bereits die Skepsis, denn „die offiziellen Strukturen […] ändern sich schneller als ihr Fundament“ (S. 300). Der bei den Massenumfragen betrachtete Menschentyp werde auch ohne die sowjetischen Etiketten noch lange Zeit versuchen, mit sowjetischen Lebens- und Denkweisen seinen Platz in der sich rasch wandelnden Welt zu finden. Mittlerweile akzeptiere die Mehrheit der Bevölkerung die „Aufhebung der Gegenüberstellung von eigener und westlicher Welt“; sie hänge aber zugleich einer „primitiv-fordernde[n] Erwartung eines westlichen Wunders“ an (S. 295). Daraus ergebe sich unweigerlich ein Stimmungsumschwung – von großer Hoffnung zu tiefer Verzweiflung. Es drohe das Zurückfallen in einen aggressiven Isolationismus. Der „Homo Sovieticus“ der Umbruchphase sei „ein tief frustriertes Wesen“, das zwar „mit freudiger Bereitwilligkeit die sozialistische Phraseologie“ verwerfe, aber in seiner Vorliebe für eine „paternalistisch-totalitäre Ordnung“ beharrlich daran glaube, „den Führern der neuen politischen Strömungen die Mission der Errettung des Volkes aufbürden“ zu können (S. 300).

Auch nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums blieben Levada und das VCIOM seriöse Chronisten. Sie mussten feststellen, dass sich nicht wenige ihrer skeptischen Prognosen bewahrheiteten. Im April 2004 formulierte Levada: „Als man den [Sowjet-]Menschen freigelassen hatte, begann er rückwärts zu laufen – nicht mal in den vergangenen, sondern in den vorgestrigen Tag hinein.“11 Levadas kritische Reflexion gesellschaftlicher Prozesse vermittelte auch denjenigen, die Gorbačev im Kreml gefolgt waren, oftmals unliebsame Botschaften. Im Spätsommer 2003 musste Levada nach politischen Intrigen das VCIOM verlassen. Sein Ruf als Russlands hervorragendster Sozialforscher und auch seine moralische Autorität litten darunter keineswegs. Levada wurde als Repräsentant der regierungskritischen russischen Intelligencija gefeiert, der sich politischem Druck nicht gebeugt habe. Der komplette Forscherstab des VCIOM folgte Levada bei seiner Entlassung, um gemeinsam mit ihm ein neues Meinungsforschungszentrum aufzubauen, das seinen Namen erhielt.12

Als Levada 2006 starb, übernahm Lev Gudkov die Leitung dieses Zentrums, das auftragsgebundene und finanziell einträgliche demoskopische Studien durchführte, um dank dieser Mittel die sozialwissenschaftliche Arbeit fortführen zu können. Die vom Levada-Zentrum herausgegebene Zeitschrift „Vestnik obščest-vennogo mnenija“ (Bote der öffentlichen Meinung) ist heute eines der führenden sozialwissenschaftlichen Fachperiodika Russlands. Die große Reputation des Levada-Zentrums führt dazu, dass auch ausländische Institutionen Mittel für Meinungsumfragen bereitstellen, um mehr über die Stimmung in Russland zu erfahren. Dieser Erfolg bei der Mitteleinwerbung gefährdet aktuell die Existenz des Zentrums. Es ist im Mai 2013 von der Moskauer Staatsanwaltschaft beschuldigt worden, die Publikation der sozialwissenschaftlichen Befunde ziele darauf, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Es handle sich bei den demoskopischen Studien daher nicht um wissenschaftliche, sondern um politische Tätigkeiten, die zudem mit internationalen Mitteln finanziert würden. Nach russischem Recht erfülle das Levada-Zentrum damit die „Funktion eines ausländischen Agenten“. Dies ist ein Angriff auf die Freiheit der Wissenschaft und im Zusammenhang mit der repressiven Politik der Putin-Administration zu sehen. Gegen die Stigmatisierung des Levada-Zentrums hat die Fachzeitschrift „Osteuropa“ am 25. Mai 2013 eine internationale Solidaritätsaktion gestartet.13

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Ungeachtet der großen Unterstützung ist zu beobachten, dass die Studien sowohl Levadas als auch seiner Kollegen Boris Dubin, Lev Gudkov, Alexej Levinson und Boris Grušin in der deutschen Forschung noch zu selten herangezogen werden. Manfred Sapper beklagte 2007, dass „[d]ie Zerstörung der sozialwissenschaftlichen Russlandexpertise an den deutschen Hochschulen den wissenschaftlichen und kulturellen Dialog mit russischen Denkern in fundamentaler Weise erschwert“.14 Diese fachinterne „Dialogstörung“ eröffnet der Geschichtswissenschaft, die sich seit einigen Jahren verstärkt für das letzte Drittel der Sowjetgeschichte interessiert, die Möglichkeit, das Werk Levadas und seiner Kollegen für die deutsche Forschung neu zu erschließen.

Nach dem „Cultural Turn“ fällt es Historikerinnen und Historikern indes schwer, mit dem recht starren Konzept des Soziogramms vom „Sowjetmenschen“ zu operieren. Hinzu kommt, dass die in der VCIOM-Studie dokumentierte Meinungsvielfalt und ihre Widersprüchlichkeiten mit dem Entwurf des Menschentypus „Homo Sovieticus“ demoskopisch eingeebnet werden. An vielen Stellen wünscht sich der Historiker heute, das Forscherteam um Levada hätte seine Primärdaten differenzierter nach Region, Alter, Beruf und anderen wichtigen Parametern aufgeschlüsselt und nicht nur aggregierte Gesamtergebnisse publiziert.

Eine Herausforderung besteht zudem darin, den Aussagewert der VCIOM-Studie in einem größeren Korpus von Quellen näher zu bestimmen. Das von 1989 bis 1991 gesammelte Material ist in seiner Art als repräsentative Massenumfrage sicher einzigartig und kaum mit den Meinungsumfragen zu vergleichen, die Boris Grušin schon in der Regierungszeit Chruščevs und Brežnevs durchgeführt hatte.15 Für eine umfassendere zeithistorische Interpretation wäre es aber interessant, die Entwicklung der öffentlichen Meinungen über mehrere Jahrzehnte in ihren Brüchen und Kontinuitäten darzustellen. Gleichfalls steht es noch aus, die VCIOM-Umfrageergebnisse mit anderen aussagekräftigen Quellen der Zeit abzugleichen, wie zum Beispiel den zahlreichen Leserbriefen oder den vielen Eingaben an Partei- und Staatsstellen.16

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Die Lektüre des mittlerweile gut 20 Jahre alten Buchs erinnert schließlich daran, dass eine Wissenschaftsgeschichte der sowjetischen Soziologie noch aussteht. Ihre Befunde könnten aufschlussreiche Einblicke in das wechselhafte Verhältnis zwischen politischer Macht sowie sozial- und wirtschaftswissenschaftlichem Wissen eröffnen und damit eine Antwort auf die Frage geben, was die Macht- und Facheliten über die Entwicklung des Sowjetsystems in den 1970er- und 1980er-Jahren eigentlich gewusst und gedacht haben.

Anmerkungen: 

1 Vgl. Ulrich Schmid, Wie bolschewistisch ist der „Sowjetmensch“? Klaus Mehnert erkundet die russische Mentalität, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 4 (2007), S. 466-471.

2 Michail Voslenskij, Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion, Wien 1980. Ähnlich schon zuvor der jugoslawische Dissident Milovan Đilas, Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems, München 1958.

3 Alexander Sinowjew, Homo Sovieticus, Zürich 1984.

4 In seinem Beitrag für dieses Themenheft stellt Klaus Bachmann dar, dass es in Polen schon seit Ende der 1950er-Jahre große Meinungsumfragen gab. Die sowjetischen Sozialwissenschaftler suchten stets den engen Kontakt zu ihren polnischen Kolleginnen und Kollegen, um von ihnen neue Methoden zu erlernen.

5 René Ahlberg, Sowjetgesellschaft im Epochenwandel. Studien zur Selbstaufklärung der sowjetischen Gesellschaft in der Zeit der Perestroika, 1985–1990, Frankfurt a.M. 1992; Elizabeth Weinberg, Sociology in the Soviet Union and Beyond. Social Inquiry and Social Change, London 2004.

6 Vgl. Rafael Mrowczynski, Zum Tod von Juri Alexandrowitsch Lewada, in: Russland-Analysen Nr. 119, 24.11.2006, S. 15f.; Aleksej Levinson, Das „Phänomen L“. Zum ersten Todestag von Jurij Levada, in: Osteuropa 57 (2007) H. 10, S. 85-94.

7 Jurij Levada, Stat’i po sociologii [Artikel zur Soziologie], Moskau 1993.

8 Detlef Pollack, Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. Oder: War die DDR-Gesellschaft homogen?, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 110-131.

9 Zum Begriff der Antinomie vgl. auch Boris V. Dubin, Late Soviet Society in the Sociological Writings of Yuri Levada from the 1970s, in: Sociological Research 51 (2012) H. 4, S. 28-43.

10 Uwe Halbach, Nationalitätenfrage und Föderation. Die „Explosion des Ethnischen“ in der Sowjetunion, in: Osteuropa 40 (1990), S. 1011-1024.

11 Zit. nach Mrowczynski, Zum Tod von Lewada (Anm. 6), S. 16.

12 Ebd.; Levinson, „Phänomen L“ (Anm. 6), S. 92ff.

13 Die Petition findet sich unter <...> [Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar]. Dort gibt es auch weiterführende Informationen zur aktuellen Situation des Levada-Zentrums.

14 Manfred Sapper, Dialogstörung. Warum Levada & Co. nicht gelesen werden, in: Osteuropa 57 (2007) H. 10, S. 95-102, hier S. 95.

15 Boris Grušin, Četyre žizni Rossii v zerkale oprosov obščestvennogo mnenija. Očerki massovogo soznanija rossijan vremen Chruščeva, Brežneva, Gorbačeva i El’cina v 4-ch knigach [Vier Leben Russlands im Spiegel der öffentlichen Meinungsumfragen. Skizzen zum Massenbewusstsein der Russen in den Zeiten von Chruščev, Brežnev, Gorbačev und El’cin in vier Bänden], Moskau 2001–2006. Vgl. ders., Die freie Zeit als Problem. Soziologische Untersuchungen in Bulgarien, Polen, Ungarn und der Sowjetunion, Berlin (West) 1970; ders., M assovaja informacija v sovetskom promyšlen-nom gorode. Opyt kompleksnogo sociologičeskogo issledovanija [Masseninformation in der sowjetischen Industriestadt. Die Erfahrung einer komplexen soziologischen Untersuchung], Moskau 1980. Zudem bietet die Website <http://sophist.hse.ru> der Moscow Higher School of Economics in ihrem Archivteil eine Datenbank zu den im postkommunistischen Russland, aber auch in der Sowjetunion durchgeführten Umfragen. Diesen Hinweis verdanke ich Corinna Kuhr-Korolev.

16 Vgl. dazu den Beitrag von Corinna Kuhr-Korolev in diesem Themenheft.

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