Zwischen Popkultur, Politik und Zeitgeschichte

Von der Schwierigkeit, die RAF zu historisieren

Anmerkungen

1. Der Streit um die RAF-Ausstellung
 

Debatte, Konflikt, Affäre, Gesinnungsstreit - noch immer gibt es keinen allseits akzeptierten Begriff zur Kennzeichnung dessen, was im Sommer 2003 mehr als nur die Feuilletons in Aufregung versetzt hat. Die „Bild“-Zeitung hatte eines Morgens „Skandal“ gerufen,1 und (beinahe) alle folgten. Was am ersten Tag noch „Skandal-Ausstellung“ hieß, das wurde bereits am Tag darauf als „Terror-Ausstellung“ bezeichnet - mit dem suggestiven Unterton, dass sich ein kulturelles Unternehmen vielleicht selbst in ein Instrument des Terrorismus verwandelt haben könnte.2 Die Reaktionsmuster ähnelten in mancher Hinsicht denen aus der Zeit der sogenannten Mescalero-Affäre.3 Doch diese ereignete sich auf dem Scheitelpunkt der RAF-Geschichte und liegt inzwischen mehr als ein Vierteljahrhundert zurück - ein Zeitraum, in dem sich nicht nur die weltpolitischen Koordinaten gravierend verschoben haben, sondern sich die besagte Gruppierung, an deren weiterer Existenz längst Zweifel aufgekommen waren, auch offiziell aufgelöst hat.

Die immer noch geplante, wenn auch verschobene und um ihre zeithistorische Dimension beschnittene RAF-Ausstellung ist unzweifelhaft zu einem Politikum geworden. Vermutet wurde, dass dieser Vorgang durch eine gezielte Indiskretion ausgelöst worden sein könnte, die möglicherweise auf den Düsseldorfer Oberbürgermeister Joachim Erwin (CDU) zurückzuführen ist.4 Der als rechtspopulistisch geltende Politiker hatte die einstimmig gefällte Entscheidung des NRW-Forums Kultur und Wirtschaft, die Ausstellung auch in Düsseldorf zeigen zu wollen, im Nachhinein scharf kritisiert. Er war zwar selbst Kuratoriumsvorsitzender des Forums, hatte an der entscheidenden Sitzung jedoch nicht teilnehmen können.

Düsseldorf ist auch der Wohnsitz der Witwe des 1991 von einem RAF-Kommando ermordeten Treuhandchefs Detlev Karsten Rohwedder. Sie hatte sich im Juli 2003 gemeinsam mit dem ältesten Sohn des 1977 von einem anderen RAF-Kommando ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer an Bundeskanzler Gerhard Schröder gewandt. So verständlich und nachvollziehbar die Reaktion dieser Angehörigen von RAF-Opfern auch sein mag, die sich gegen eine befürchtete „Legendenbildung und Glorifizierung der RAF“ zu wenden versuchten,5 so dubios musste der Vorgang erscheinen, den Bundeskanzler aufzufordern, die Legitimität der Vergabe von Bundesmitteln zu überprüfen, ohne den Ausstellungsmachern zuvor die Gelegenheit zu einer Stellungnahme zu bieten.6

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Kunst und Zeitgeschichte konnten wegen dieses massiven Eingriffs, sich an den Chef der Bundesregierung zu wenden und ihn zum Handeln aufzufordern, nicht mehr in der gewohnten Selbstverständlichkeit auf jenen intellektuellen Freiraum bauen, den sie benötigen, um werkorientiert produzieren zu können. Nun war zu befürchten, dass das Projekt in erster Linie politischen Beanspruchungen, wenn nicht gar Vereinnahmungsversuchen ausgesetzt sein würde. Insofern war der Teilrückzug der Berliner Kunst-Werke als Veranstalter, insbesondere ihr Verzicht auf staatliche Finanzmittel, durchaus begründet. Die künstlerische und die zeithistorische Darstellung durften auf keinen Fall zum Spielball politischer Interessen werden - sei es des Staates, der Parteien oder sich anbietender Dritter -, aber auch nicht zum Definitionsobjekt von Angehörigen der RAF-Opfer.

Wie auch immer der öffentliche Streit um die RAF-Ausstellung im Rückblick beurteilt werden mag - die aufgeregten, teils hysterischen Reaktionen haben zwei gravierende Problembereiche offengelegt:

• Die mangelnde Souveränität von Politik und Gesellschaft, sich mit einer im Kern bereits drei Jahrzehnte zurückliegenden Herausforderung des demokratischen Staates auseinandersetzen zu können. Die Bundesrepublik ist weit davon entfernt, die Konfliktszenarien der 1970er-Jahre verarbeitet zu haben; eine überaus neurotische Grundreaktion bleibt offenbar bestimmend. Gewiss, die RAF ist längst untergegangen und ein Teil der bundesdeutschen Geschichte geworden. Zugleich scheint aber immer noch ein Gespenst gleichen Namens durchs Land zu ziehen und für erhebliche Unruhe sorgen zu können.

• Die schier unermüdliche Gier, auch noch die Embleme von Terror und Tod popkulturell zu adaptieren und auf exhibitionistische Weise zur Schau stellen zu wollen. Die besorgte Frage des Kunsthistorikers Martin Warnke steht weiterhin unbeantwortet im Raum: „Wie kommt es, dass historische Episoden, die eine ganze Generation geschockt haben, für eine spätere Generation schon Spielmaterial werden können?“7 Woher, so ließe sich zuspitzen, rührt eigentlich die posthume Popularität von Terroristen?

2. Kunst und Zeitgeschichte
 

Die Präsentation von Kunst und Geschichte strebt gleichermaßen nach Autonomie gegenüber politischer Vereindeutigung, gehorcht ansonsten aber unterschiedlichen Logiken. Während die Kunst selbst Teil eines mythischen Raumes sein kann, muss die Aufgabe der Geschichtsschreibung darin bestehen, Mythologeme zu durchdringen, ihre Bedeutung zu entschlüsseln und deren verborgene Rationalität sichtbar zu machen. Kurz: Die Kunst lebt auch und nicht zuletzt vom Mythos, die Historiografie jedoch von seinem Gegenteil, der Entmythologisierung.

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Im Rahmen einer Ausstellung müsste es darum gehen, diesen Widerspruch zum Gestaltungselement zu machen, und zwar so, dass die historischen wie die künstlerischen Exponate in ihrer Souveränität für sich stehen und die räumliche Beziehung der Objekte keine simple Widerspiegelung der Geschichte in der Kunst suggeriert. Der von Klaus Theweleit kürzlich geäußerte Einwand, dass Kunstwerke nicht autonom sein könnten und „im Kontext stehen“ müssten,8 ist eine Platitüde. Denn die Kombination von Kunst und Zeitgeschichte im Rahmen einer Ausstellung wäre ja per se eine Form von Kontextualisierung. Die Schwierigkeit eines solchen Unternehmens besteht jedoch vor allem darin, weder die Kunstwerke den Geschichtsdokumenten noch die Geschichtsdokumente den Kunstwerken unterzuordnen. Die Historie kann die Kunst nicht ohne weiteres „erklären“, die Kunst die Historie nicht einfach „bebildern“. Eine Kontextualisierung sollte zugleich immer die Wahrung einer wechselseitigen Distanz bedeuten.

Der Gedanke, dass eine Ausstellung zur Geschichte der RAF versuchen müsse, die Entkoppelung und Abspaltung der Bilder von ihren tatsächlichen Ereigniszusammenhängen rückgängig zu machen und sie wieder in ihren ursprünglichen Kontext zu stellen, ist durchaus zwingend, trifft aber nur einen Teil des Problems. Denn die Schwierigkeit besteht ja gerade darin, dass es im Falle der RAF um die Kompensation einer tendenziell bilderlosen Wirklichkeit durch eine medial gesteuerte Bilderwelt gegangen ist, die - wie die Praxis der „Bild“-Zeitung bis in die Gegenwart beweist - vor allem auf die Empörungsreaktionen einer präkonditionierten Öffentlichkeit setzte.

Es gehört zur Logik einer terroristischen Gruppe, die in den Untergrund geht, dass sie sich der Beobachtung so weit als möglich zu entziehen versucht. Dem widerspricht auch nicht, dass sie auf der anderen Seite bestimmte Zeichen hinterlässt, um die Assoziationen mit ihrer phantomartigen Wirklichkeit in eine bestimmte Richtung zu drängen. Eine bewaffnete Gruppierung ist weitgehend bilderlos und muss in Kauf nehmen, dass es von ihren Akteuren und Aktionen nur ganz punktuell Aufnahmen geben kann - im Grunde nur im Nachhinein von Überfällen, Anschlägen, Entführungen usw. Für all jene Kräfte, die händeringend nach Bildern verlangen, um entweder ihren Strafverfolgungsinteressen nachkommen oder ihre Neugier stillen zu können, muss dies natürlich enttäuschend sein. Diese Diskrepanz drängt die Medien dazu, Aufnahmen mit welchen Mitteln und zu welchen Kosten auch immer zu ergattern, um sie dem Publikum präsentieren zu können. Der exorbitante Preis, den der „Stern“ seinerzeit der ehemaligen RAF-Angehörigen Astrid Proll gezahlt hat, um ihr die einzig existierenden Privataufnahmen von Baader und Ensslin abzuknöpfen (jene Aufnahmen, die das Paar Ende 1969 in einem Pariser Café zeigen), bestätigen das aufs drastischste.

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Die RAF war insofern alles andere als eine „Bildermaschine“. Sie selbst hat fast gar keine Bilder produziert, wenn man einmal von dem Sonderfall der Videoaufnahmen im Kontext der Schleyer-Entführung absieht. Die RAF ist vielmehr durch Bildaufnahmen strategisch erobert und nachhaltig besetzt worden. Gerade die Entwendung einer Bildersprache durch ganz andere, zum Teil staatliche Kräfte ist es gewesen, die das heutige Gesamtbild des RAF-Phänomens geschaffen hat. Ein Hauptanliegen jeder RAF-Ausstellung müsste also darin bestehen, das bislang Unsichtbare sichtbarer zu machen - wozu die gesamte Inkubationszeit der RAF mit ihren subkulturellen und teilweise selbst schon popkulturell vermittelten Verflechtungen gehören würde - und die massenmedial konditionierten Zeichen aus dem Vordergrund zu drängen. Womit man es auf diese Weise zu tun hätte, wäre nichts weniger als eine Korrektur des Wahrnehmungsfeldes, das sich bislang an der ebenso abstrakt wie rätselhaft erscheinenden Abkürzung ausgebildet hat.

3. Weiße Flecken in der Geschichte des bundesdeutschen Terrorismus
 

Es würde hier zu weit führen, den gegenwärtigen Stand der Forschung zur RAF bilanzieren und mehr als nur kursorisch bewerten zu wollen.9 Auffällig ist, dass im Laufe des letzten Jahrzehnts die Erinnerungen einstiger RAF-Mitglieder im Vordergrund standen.10 Das öffentliche Bild nach wie vor maßgeblich durch Stefan Austs journalistischen Band „Der Baader-Meinhof-Komplex“11 und darauf fußende Verfilmungen wie Heinrich Breloers Doku-Drama „Todesspiel“ (1997) bestimmt. Die dort gelieferte Darstellung lässt sich leicht nachzeichnen, aber höchstens indirekt überprüfen. Der umfangreiche, über das Jahr 1977 nicht hinausgehende Text des jetzigen „Spiegel“-Chefredakteurs enthält keinerlei Quellen- oder Literaturangabe. Der Publikumserfolg hängt sicher auch damit zusammen, dass sich der Autor im Wesentlichen auf ein Narrativ konzentriert und die auf wenige Akteure reduzierte Kerngeschichte des bundesdeutschen Terrorismus wie aus einem Guss erzählt.

Die öffentliche Wirkung von Publikationen, die zeithistorischen und sozialwissenschaftlichen Standards genügen, ist demgegenüber weitaus geringer. Die vom Bundesinnenministerium herausgegebenen „Analysen zum Terrorismus“ sind nach wie vor am wichtigsten.12 Bei den vier bzw. fünf Bänden handelt es sich zweifelsohne um die aufwändigste und umfangreichste Untersuchung, die es zu diesem Thema in deutscher Sprache bislang gibt. So wenig einerseits die Verdienste der daran beteiligten Historiker, Soziologen, Politologen und Sozialpsychologen zu schmälern sind, so sehr ist andererseits zu betonen, dass es sich um ein äußerst heterogenes Produkt sozialwissenschaftlicher Forschung handelt. Vor allem jener politische Wille, der bereits für die während der Schleyer-Entführung im Bundeskanzleramt gebildeten Krisenstäbe maßgeblich war und hier die Form einer szientifisch ausgebildeten Großen Koalition annimmt, bildet offenbar die Klammer der disparaten Beiträge. Schon die Aufteilung des ersten Bandes, der sich mit der Ideologie des bewaffneten Kampfes befasst, verrät, dass einige Beiträge von kontradiktorisch entgegengesetzten Prämissen aus geschrieben wurden. Das Verbindende ist allein die Überzeugung, in einer wehrhaften Demokratie komme es darauf an, im Dienste des Staates Kompromissfähigkeit zu demonstrieren. Während der linksliberal eingestellte Politikwissenschaftler Iring Fetscher die Sicht der SPD repräsentiert, steht der rechtskonservative Philosoph Günter Rohrmoser für die Haltung der Union.

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Die Gefahr einer zu großen Staatsnähe einzelner Beiträge zeigt sich zudem darin, dass nicht alle Quellen zitiert und bibliografisch nachgewiesen werden konnten, die den Sozialwissenschaftlern vom Bundeskriminalamt für die Lebenslauf- und die Gruppenanalyse zur Verfügung gestellt wurden. Es spricht allerdings für die intellektuelle Unabhängigkeit einiger Autoren, dass sie dieses Problem in einer methodischen Selbstreflexion angesprochen und zugleich deutlich gemacht haben, dass die Rätselhaftigkeit mancher Zusammenhänge ebenso am Gegenstand wie am Material liege.13

Die zuletzt von Christoph Stölzl, dem ehemaligen Direktor des Deutschen Historischen Museums, vertretene Behauptung, dass die Geschichte der RAF im Kern aufgeklärt sei und es deshalb keiner weiteren Forschung bedürfe,14 ist leichtfertig und zeugt von geringer Kenntnis des Forschungsstandes. Die Liste der weißen Flecken ist in Wirklichkeit umfangreich und zudem nur schwer einzugrenzen. Um nur die wichtigsten Fragenkomplexe zu nennen:

• Die Gründung der RAF liegt in mancher Hinsicht nach wie vor im Dunkeln. Welche Rolle spielte etwa Horst Mahler? Für einen Rechtsanwalt wie ihn war der Schritt, in den Untergrund zu gehen, zweifelsohne besonders extrem. Mahler war es, der die auf der Flucht befindlichen Warenhausbrandstifter Baader und Ensslin im Januar 1970 in Italien aufsuchte und sie dazu überredete, nach West-Berlin zurückzukehren. Handelte er tatsächlich, wie von einigen seiner damaligen Weggefährten behauptet wird, in eigenem Auftrag?

• Welche Rolle spielten die Palästinenser bereits in dieser Anfangsphase? Auffällig ist jedenfalls, dass keine der bewaffneten Gruppierungen mit ihren Aktionen begonnen hat, ohne zuvor eine militärische Ausbildung im Nahen Osten absolviert zu haben. Auch der Weg der RAF-Begründer führte zuerst in den Libanon. Sie reisten im Juni 1970 in Begleitung eines mit einem jordanischen Pass ausgestatteten Palästinensers zunächst nach Beirut und von dort aus nach Jordanien, um sich in palästinensischen Trainingscamps an der Kalaschnikow und anderen Waffen ausbilden zu lassen. Insbesondere die PFLP (Popular Front for the Liberation of Palestine) spielte für die ersten bewaffneten Gruppierungen die Rolle eines Steigbügelhalters, vielleicht sogar noch mehr. Welche Verabredungen, ja Kooperationsmodelle damals in den Ausbildungslagern geschlossen wurden, ist bislang im Dunkeln geblieben.

• Mit der zentralen Rolle der Palästinenser dürfte auch eine starke Ausrichtung auf israelische bzw. jüdische Angriffsziele verbunden gewesen sein, die die ersten Jahre vom misslungenen Anschlag der Tupamaros West-Berlin auf die dortige Jüdische Gemeinde15 bis zur nachträglichen Billigung des Olympia-Massakers durch Ulrike Meinhof16 durchzieht. Nach Aussage des ehemaligen Revolutionäre-Zellen-Mitglieds Hans-Joachim Klein soll sogar ein nicht unerheblicher Teil der logistischen Vorbereitungen für den Überfall des palästinensischen Kommandos auf die israelische Mannschaft während der Olympiade 1972 in München von Mitgliedern seiner Organisation durchgeführt worden sein.17 Der Wahrheitsgehalt dieser Behauptung ist bislang noch nicht überprüft worden, jedenfalls nicht von Seiten der Zeitgeschichte bzw. der Terrorismusforschung. Insgesamt steht immer noch eine Analyse der deutsch-palästinensischen Verflechtungen und der Rolle des Antiisraelismus bzw. Antisemitismus für die RAF und die anderen bundesdeutschen Untergrundgruppen aus.

• Die Überraschung in der Öffentlichkeit war groß, als im Sommer 1990 in der dem Untergang geweihten DDR rund ein Dutzend versteckter RAF-Mitglieder gefasst werden konnte.18 Welche Rolle spielte das MfS nicht nur seit 1980, als sich RAF-Aussteiger in der DDR versteckt halten konnten, sondern bereits von Anfang an? Bekannt ist beispielsweise, dass es der steckbrieflich gesuchten Ulrike Meinhof im September 1970 gelang, durch ihre Berufung auf Erich Mielke die Grenzbehörden der DDR davon zu überzeugen, sie trotz Vorlage von gefälschten Papieren durchreisen zu lassen. Die Reisebewegungen der RAF-Mitglieder erfolgten zunächst über den Ostberliner Flughafen Schönefeld. Die Möglichkeit, dass sich dies ohne Wissen des MfS abgespielt haben könnte, darf ausgeschlossen werden. Die naheliegende Frage ist daher, welche Rolle das MfS in Bezug auf die RAF und andere westdeutsche Gruppierungen insgesamt gespielt hat: War die Staatssicherheit Beobachter, Kontrolleur, Unterstützer oder gar eine steuernde Kraft?

• Eine Reihe politischer Verbrechen wie die Ermordung des hessischen Wirtschafts- und Finanzministers Heinz-Herbert Karry 1981 in Frankfurt, die Ermordung des Deutsche-Bank-Chefs Alfred Herrhausen 1989 in Bad Homburg und die Ermordung des Treuhandchefs Detlev Karsten Rohwedder 1991 in Düsseldorf sind immer noch unaufgeklärt.

Ausgangspunkt jeder Historisierung, auch der Historisierung der RAF und anderer bewaffneter Gruppierungen, muss die Frage nach der Aktualität sein, genauer nach der sich aus der Gegenwart speisenden Perspektive auf das zu historisierende Thema. Für eine solche Justierung des Blickwinkels lassen sich ebenfalls einige Anregungen geben:

• Obwohl die Geschichte der RAF ein abgeschlossenes Kapitel zu sein scheint, existieren nicht wenige der einst mit ihr kooperierenden Akteure fort – insbesondere solche, die palästinensischen Organisationen angehören. Im Zuge der historischen Rekonstruktion werden eventuell auch Verästelungen sichtbar werden, die für die Gegenwart noch relevant sind.

• Obwohl der Terrorismus die öffentlichen Debatten in den 1970er- und 1980er-Jahren so stark zu beherrschen vermocht hat, ist kaum zu bestreiten, dass er seine wohl stärksten semantischen Aufladungen durch die Anschläge des 11. September 2001 und die von der US-Regierung als „Krieg gegen den internationalen Terrorismus“ angekündigten Reaktionen erhalten hat. Die Differenzen zwischen dem Terrorismus-Verständnis, das für die Zeit der RAF maßgeblich war, und jenem, das sich in Reaktion auf die Anschlagsserie islamistischer Selbstmordattentäter mittlerweile abzeichnet, müssen genauer herausgearbeitet werden, um einer unkontrollierten Verwendung von Grundkategorien entgegenzutreten.

• Bei den Versuchen, die RAF und die Zeit des „Deutschen Herbstes“ in die Geschichte der alten Bundesrepublik einzuordnen, steht bislang die These im Vordergrund, dass es sich im Kern um eine Katharsis gehandelt habe.19 Staat und Gesellschaft seien zwar herausgefordert worden, seien aus diesen Konflikten insgesamt jedoch gestärkt hervorgegangen. Es wird zu klären sein, ob diese Bewertung einer genaueren Überprüfung standhält.

• Die grundsätzliche Schwierigkeit einer angemessenen historischen Einordnung besteht nicht nur in der terminologischen Klärung, was unter „Terrorismus“ zu verstehen ist und in welchem Maße sich die bewaffneten Gruppen in der Bundesrepublik unter einen solchen Begriff subsumieren lassen, sondern auch in der Frage nach der Angemessenheit jener Verhaltensweisen, mit denen Rechtsstaat und Zivilgesellschaft auf diese Herausforderungen reagiert haben.

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Wie auch immer die Antworten im Einzelnen aussehen mögen - eine Sichtweise, die sich aus vermeintlicher Prinzipienfestigkeit heraus dazu verleiten ließe, die Geschichte der RAF auf eine bloße Folge krimineller Akte zu reduzieren, würde zu irrigen Annahmen führen und das Forschungsfeld in unverantwortlicher Weise einschränken. So unterschiedliche Experten wie der ehemalige BKA-Präsident Horst Herold, der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer und der Soziologe Friedhelm Neidhardt haben vor einer solchen Reduktion mit Recht gewarnt.

Insgesamt ist in der bisherigen Forschung eine zu starke Fixierung auf den bundespolitischen Kontext, ja eine Verengung der leitenden Fragestellungen auf Topoi der bundesdeutschen Zeitgeschichte zu bemängeln. Es fehlt an komparativen und beziehungsgeschichtlichen Studien über die Ähnlichkeiten terroristischer Gruppierungen, die in der Bundesrepublik, den Vereinigten Staaten, Italien und Japan aus den sich ungefähr gleichzeitig radikalisierenden Studentenbewegungen entstanden sind.20

Der immer noch schwelende Streit über die inzwischen um ihre zeithistorische Dimension beschnittene RAF-Ausstellung müsste nicht länger mehr ein Symptom der mangelnden Fähigkeit bleiben, sich mit dem schmerzlichsten Kapitel der alten Bundesrepublik zu befassen. Er könnte sich vor allem als ein Stimulus erweisen, die bisherige Optik der zeithistorischen Forschung zu korrigieren und sich stärker den weißen Flecken des Siebziger-Jahre-Terrorismus zuzuwenden.
 

Anmerkungen:

1 Mainhardt Graf von Nayhauß, Warum zahlt Berlin 100.000 Euro für Skandal-Ausstellung über RAF?, in: Bild-Zeitung, 22.7.2003.

2 Politiker wollen Terror-Ausstellung stoppen, in: Bild-Zeitung, 23.7.2003.

3 Vgl. Stefan Spiller, Linksterrorismus und bundesdeutsche Öffentlichkeit im Spiegel des „Buback-Nachrufs“ von 1977, unveröff. Magisterarbeit im Fachbereich Geschichte an der Universität Siegen, 2003.

4 Vgl. dazu den Vorlauf der bundesweiten Auseinandersetzung in Teilen der nordrhein-westfälischen Presse im Frühjahr 2003: Ludolf Schulte, Streit um erste RAF-Ausstellung, in: Düsseldorfer Stadtpost, 15.5.2003; Johannes Wendland/M. Hamerla, Vorsicht, RAF, in: Rheinische Post, 28.5.2003.

5 Der in dem Schreiben vom 9. Juli 2003 nicht zu Unrecht monierte Satz aus dem Papier des NRW-Forums Kultur und Wirtschaft lautet vollständig: „Welche Ideen, Ideale haben ihren Wert durch die Zeit behalten und können nicht als naiv abgetan werden, was haben wir aus der Geschichte über das Verhältnis von Individuum und Staat, von Möglichkeiten der Einflussnahme und über Machtstrukturen gelernt?“ Auch wenn diese Frage nicht explizit auf die RAF bezogen ist - wie in zahlreichen Presseberichten behauptet -, so ist sie doch zumindest fahrlässig, weil sie die Möglichkeit einer solchen Bezugnahme nicht ausschließt. Andererseits handelt es sich bei der von Frau Rohwedder und Herrn Schleyer erhobenen Behauptung, dass die Ausstellung explizit der Frage nachgehen wolle, „was aus den ‚Idealen der RAF für die Nachwelt erhaltenswert ist‘“, um eine Zitatverfälschung. Von „Idealen der RAF“ ist an keiner Stelle unmittelbar die Rede.

6 Das an den Bundeskanzler gerichtete Schreiben enthielt zudem eine Reihe von irreführenden bzw. falschen Tatsachenbehauptungen.

7 Martin Warnke, Warum ausstellen, was alle schon kennen?, in: Art, Nr. 12, Dezember 2003, S. 78f.

8 Vgl. „Kunst muss im Kontext stehen“, in: die tageszeitung, 21.1.2004, S. 17 (Interview mit Theweleit).

9 Vgl. allein die Bibliografien: Burkhard von Schassen/Christof Kalden, Terrorismus. Eine Auswahlbibliographie, Koblenz 1989; Peter Hein, Stadtguerilla, bewaffneter Kampf in der BRD und Westberlin. Eine Bibliographie mit den ersten programmatischen Erklärungen und Interviews der Gruppen RAF, Bewegung 2. Juni, Revolutionäre Zellen und Rote Zora, Amsterdam 1989; ders., Stadtguerilla und bewaffneter Kampf in der BRD. Ergänzungsband zur Bibliographie, Berlin 1993. Eine Auswertung des deutschsprachigen Forschungsstandes bis 1995 findet sich bei Tobias Wunschik, Baader-Meinhofs Kinder. Die zweite Generation der RAF, Opladen 1997, S. 35-134.

10 Am bekanntesten sind die Publikationen: Till Meyer, Staatsfeind. Erinnerungen, Hamburg 1996; Inge Viett, Nie war ich furchtloser, Hamburg 1997; Margrit Schiller, „Es war ein harter Kampf um meine Erinnerung“. Ein Lebensbericht aus der RAF, Hamburg 2000; Peter-Jürgen Boock, Die Entführung und Ermordung des Hanns-Martin Schleyer - Eine dokumentarische Fiktion, Frankfurt a.M. 2002.

11 Stefan Aust, Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg 1985.

12 Bundesministerium des Innern (Hg.), Analysen zum Terrorismus, Bd. 1: Iring Fetscher/Günter Rohrmoser, Ideologien und Strategien, Opladen 1981; Bd. 2: Herbert Jäger/Gerhard Schmidtchen/Lieselotte Süllwold, Lebenslaufanalysen, Opladen o.J.; Bd. 3: Wanda von Baeyer-Katte/Dieter Claessens/Hubert Feger/Friedhelm Neidhardt, Gruppenprozesse, Opladen 1983; Bd. 4/I: Ulrich Matz/Gerhard Schmidtchen, Gewalt und Legitimität, Opladen 1983; Bd. 4/II: Fritz Sack/Heinz Steinert, Protest und Reaktion, Opladen 1983.

13 Friedhelm Neithardt, Soziale Bedingungen terroristischen Handelns. Das Beispiel der „Baader-Meinhof-Gruppe“ (RAF), in: Bundesministerium des Innern (Hg.), Analysen zum Terrorismus, Bd. 3: Baeyer-Katte/Claessens/Feger/Neidhardt, Gruppenprozesse (Anm. 12), S. 322ff. (Methodische Probleme der Untersuchung).

14 „Was Geschichtswissenschaft und Publizistik, was Theater, was Film, was das Fernsehspiel klären und erklären können, ist bereits getan, zuletzt in Heinrich Breloers großem Dokudrama über die Entführung und Ermordung Hanns Martin Schleyers. Den jüngsten Echowirkungen in der Popwelt nachzugehen, sollte Sache der Sozialforschung sein. Alles Neubefragen wird nichts daran ändern, dass bei der RAF der Anteil des schieren Verbrechens so überwältigend war, dass alles Hin- und Herwenden der abstrusen ‚politischen‘ Legitimierungsversuche im Nichts endet.“ Christoph Stölzl, Was soll denn da gezeigt werden?, in: Der Tagesspiegel, 2.8.2003, S. 23.

15 Zum Hergang des fehlgeschlagenen Bombenattentats am Jahrestag des Novemberpogroms der Nazis vgl. Wolfgang Kraushaar, Aus der Protest-Chronik: 9. November 1969, in: Mittelweg 36 9 (2000) H. 6, S. 38-40.

16 Ulrike Meinhof hatte den hinterhältigen Mordanschlag gar als „Musterbeispiel einer antiimperialistischen Aktion“ gefeiert: Die Aktion des „Schwarzen September“ in München. Zur Strategie des antiimperialistischen Kampfes, November 1972, in: ID-Verlag (Hg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1997, S. 151-177.

17 In einem Interview erklärte der 2001 von einem Frankfurter Gericht wegen seiner Beteiligung am Überfall auf das OPEC-Treffen 1975 in Wien zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilte Klein: „Die Revolutionären Zellen werden immer noch mächtig unterschätzt. Schließlich haben die ja schon beim Olympia-Massaker von München logistische Hilfe geleistet. [Wilfried] Böse hat mir selbst erzählt, dass er die Finger drin hatte bei der Quartiermache für das Palästinenser-Kommando ‚Schwarzer September‘.“ In: Der Spiegel, 7.8.1978, S. 79/81.

18 Vgl. Michael Müller/Andreas Kanonenberg, Die RAF-Stasi-Connection, Berlin 1992.

19 Exemplarisch: Friedrich Christian Delius, Die Dialektik des Deutschen Herbstes - Drei Thesen über das Terrorjahr 1977 und dessen Folgen, in: Die Zeit, 25.7.1997, S. 3.

20 Eine Ausnahme stellt eine Dissertation dar: Jan Oskar Engene, Patterns of Terrorism in Western Europe 1950-1995, University of Bergen 1998.


 

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