Die 1970er-Jahre in Geschichte und Gegenwart

Anmerkungen

Die zeitgeschichtliche Forschung hat sich erst vor kurzem den 1970er-Jahren zugewandt. In der öffentlichen Erinnerung ist dieses Jahrzehnt hingegen sehr präsent, wie sich an Erfolgsbüchern wie Florian Illies’ „Generation Golf. Eine Inspektion“ und „Generation Golf zwei“ (München 2000/03 u.ö.) oder jüngst an den Debatten um den „Deutschen Herbst“ 1977 und seine Folgen gezeigt hat. Besonders in der Populärkultur - Mode, Musik, Möbel etc. - erfreuen sich die 1970er-Jahre (zumindest in Deutschland) großer Beliebtheit; man kann geradezu von einer „Retrowelle“ sprechen. Während diese Dekade aus Sicht der Geschichtswissenschaft vor allem eine Zeit der Krisen und beginnenden Transformationen darstellt, erscheint sie im alltäglichen Geschichtsbewusstsein eher als buntes Experimentierfeld unterschiedlicher Lebensstile und als eine Phase vergleichsweise gesicherten Wohlstands.

Wie schätzen Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker diese konkurrierenden Sichtweisen ein, die vielleicht gar kein eindeutiger Gegensatz sind, sondern möglicherweise nur verschiedene Dimensionen eines größeren Zusammenhangs? Die heute aktiven Historiker haben die 1970er-Jahre selbst erlebt - teils als Kinder und Jugendliche, teils schon als Wissenschaftler. Was bedeuten ihnen diese Jahre aus heutiger Sicht? Wie verbinden sie persönliche Erfahrungen und analytische Interessen? Um in diesem Themenheft auch der kritisch reflektierten Zeitgenossenschaft Raum zu geben, hat die Redaktion eine Historikerin und vier Historiker zur Teilnahme an einer kleinen Umfrage eingeladen:

Ingrid Gilcher-Holtey, Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld;

Rainer Eckert, Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig und Professor am Institut für Kulturwisssenschaften der Universität Leipzig;

Etienne François, Professor für Geschichte am Frankreichzentrum der Technischen Universität Berlin (seit 2006 an der Freien Universität Berlin) und emeritierter Professor für Geschichte an der Universität Paris-I;

Christoph Kleßmann, ehemaliger Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam und Mitherausgeber dieser Zeitschrift;

Krzysztof Ruchniewicz, Direktor des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław und Beiratsmitglied dieser Zeitschrift.

Weitere Beiträge zur hier begonnenen Debatte nimmt die Redaktion gern entgegen.

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1. Waren die 1970er-Jahre aus Ihrer Sicht eine Umbruchzeit (für die beiden deutschen Staaten, aber auch auf europäischer und globaler Ebene)? Wenn ja, in welcher Hinsicht? Welche Bedeutung haben die 1970er-Jahre, wenn man das 20. Jahrhundert zu periodisieren versucht?

Rainer Eckert: Bezogen auf die Geschichte der beiden deutschen Staaten sind die 1970er-Jahre in zwei Abschnitte zu teilen. Der erste Abschnitt beginnt bereits Ende der 1960er-Jahre und endet noch vor der Mitte des Jahrzehnts. Dieser Zeitraum ist sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR eine Zeit wirtschaftlicher Reformen bzw. Reformversuche und eines stabil erscheinenden Wirtschaftswachstums. Danach beginnt der Kampf um die Abwehr von Bedrohungen dieses Wirtschaftsaufschwungs (Ölschock 1973), der in der DDR verloren geht und in die Destabilisierung des politischen Systems mündet. Im Hinblick auf die Bundesrepublik spricht einiges für eine Zäsur im Jahr 1974 mit dem Übergang von der Regierung Brandt/Scheel zur Regierung Schmidt/Genscher. Aber auch der Regierungsantritt Brandts könnte als Zäsur interpretiert werden. Dagegen scheint die Neue Ostpolitik zur Zäsurbildung ungeeignet, da sie sich relativ bruchlos in den 1980er-Jahren fortsetzte.

Bezogen auf beide deutsche Staaten sehe ich die 1970er-Jahre nicht als Zäsur, also auch nicht als Umbruchzeit. Die entscheidenden Zäsurjahre sind auch weltweit 1968 mit dem gesellschaftlichen Umbruch im Westen und dem Scheitern der Hoffnung auf die Möglichkeit eines demokratischen Sozialismus im Osten sowie 1989 mit dem Zyklus der friedlichen Revolutionen, die das Ende des Kommunismus in Europa und die Überwindung der Bipolarität der Welt brachten.

Etienne François: Um es vorweg zuzugeben: Diese Frage stellt mich vor eine gewisse Ratlosigkeit, und zwar aus zwei Gründen - erstens, weil es mir schwerfällt, eine Spezifik der 1970er-Jahre zu benennen, die dieses Jahrzehnt klar von der vorangegangenen und der nachfolgenden Dekade unterscheiden würde; zweitens, weil mir der Ausdruck „Umbruchzeit“ zu unpräzise vorkommt. Entweder deutet er darauf hin, dass die 1970er-Jahre ihren Sinn erst in den Jahren danach finden und sich nur a posteriori erklären lassen (in dieser Hinsicht vergleichbar mit dem deutschen Vormärz oder dem französischen Ancien Régime) - was mich unbefriedigt lässt, weil jede historische Epoche ihren Sinn in sich hat. Oder der Ausdruck ist so allgemein, dass sich damit jede beliebige Epoche bezeichnen lässt, was uns nicht viel weiterhilft.

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Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, versuche ich mich daher an diejenigen Aspekte zu erinnern, die mich damals besonders beeindruckt haben - und die ich heute noch für entscheidend halte. Bewusst lasse ich die deutsche Entwicklung beiseite, denn in diesen Jahren wohnte, lebte und arbeitete ich überwiegend in Frankreich; Deutschland war mir noch in vieler Hinsicht ein fremdes Land. Besonders intensiv habe ich allerdings drei Entwicklungen wahrgenommen: die Regierung von Willy Brandt als eine Zeit der Hoffnung und des Aufbruchs („Mehr Demokratie wagen“), die Ostverträge und die beginnende Normalisierung der deutsch-deutschen Beziehungen (Grundlagenvertrag); die Herausforderung durch den Terrorismus und die Reaktionen des Staates während der Kanzlerschaft Helmut Schmidts.

Für Frankreich bleiben mir zwei Entwicklungen in Erinnerung: erstens die allmähliche Distanzierung von der gaullistischen Tradition - auf der einen Seite mit der durch Pompidou und Giscard d’Estaing eingeleiteten liberalen Modernisierung des Landes und auf der anderen Seite mit der zunehmenden Infragestellung der tradierten Deutung der Vichy-Zeit (etwa durch Marcel Ophüls’ Dokumentarfilm „Le chagrin et la pitié“ von 1969), zweitens die Formierung einer glaubwürdigen linken Alternative (Programme commun der Kommunisten, Sozialisten und Radikalen 1972, Eurokommunismus, Neugründung der sozialistischen Partei unter François Mitterrand).

Auf internationaler Ebene schließlich bleiben mir in Erinnerung: die zunehmende Infragestellung der bipolaren Weltordnung, verbunden mit Signalen der Entspannung (Ende des Vietnam-Krieges, Abkommen von Helsinki, Vereinbarungen von Camp David, Abrüstungsgespräche), und - trotz des Staatsstreichs von Pinochet - der Rückgang diktatorischer Herrschaft (Nelkenrevolution in Portugal und Sturz der Obristendiktatur in Griechenland 1974, Tod Francos 1975). Ebenso zu nennen ist hier der immer größer werdende Zweifel am Marxismus und der Tauglichkeit des kommunistischen Modells als einer Alternative zur liberal-kapitalistischen Ordnung (Werke von Sol˛enicyn, Schriften und Initiativen der Dissidenten, Papstwahl Karol Wojtyłas bzw. Johannes Pauls II. 1979, Rückkehr des Imams Khomeini nach Teheran). Das alles aber verbindet sich mit einer Frage ohne Antwort, die wie ein Schatten über dem Ganzen liegt: Warum waren wir - als Einzelpersonen wie auch als Gesellschaften - blind vor dem Völkermord der Roten Khmer in Kambodscha und konnten bzw. wollten diese Tragödie einfach nicht wahrnehmen?

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Ingrid Gilcher-Holtey: Wer Zeitgeschichte in Konstellationsanalysen untersucht, vermag zunächst nur mit Befremden auf das der Sprache der Fragen inhärente Denkschema zu reagieren, das ‚Umbrüche‘ in Jahrzehnten misst, Dekaden als Handlungseinheiten fasst und nach der Wirkung einer Chiffre sucht, die lediglich Ausdruck einer chronologischen Zählweise ist: ‚die 1970er-Jahre‘. Geht man davon aus, dass Jahrzehnte nicht handeln, Dekaden nur einen formalen Periodisierungsrahmen darstellen, gilt es mithin, die Fragen zu reformulieren und zu präzisieren. Eine Möglichkeit besteht darin, die ‚Umbrüche‘ ins Zentrum zu stellen, die sich in den siebziger Jahren gezeigt oder abgezeichnet haben, und zu definieren, was mit der Metapher ‚Umbruch‘ bzw. ‚Umbruchzeit‘ für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur gemeint sein kann. Versteht man unter ‚Umbruch‘ einen Bruch oder zumindest eine nachhaltige Veränderung von Strukturen (wirtschaftlicher, sozialer, politischer, mentaler, kognitiver etc.), gilt es, die Ebenen, Faktoren und Konstellationen zu bestimmen, in denen es zur (Um-)Wandlung von Strukturen kam. Sechs seien nachfolgend genannt.

Erstens: Blickt man von heute aus auf die Geschichte und Zukunft der westlichen Gesellschaften und ihrer Sozialsysteme, fand der nachhaltigste Bruch in der generativen Struktur statt - es kann von einer „demographischen Zeitenwende“ (Herwig Birg) gesprochen werden, die in der Bundesrepublik zu Beginn der 1970er-Jahre eingeleitet worden ist. Sie ging mit dem Wandel der Geschlechterbeziehungen und der familialen Haushaltsstruktur einher, mit der Pluralisierung der Familienverhältnisse sowie der Entstandardisierung individueller Lebensläufe. Experimentell erprobt von Künstler- und Avantgardegruppen, aber auch in Teilen des akademischen Milieus zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie in den 1920er-Jahren, gewann die Suche nach neuen Modellen des Zusammenlebens der Geschlechter in den 1970er-Jahren ihre strukturelle Bedeutung durch ihre Breitenwirksamkeit.

Zweitens: Mit der ersten einschneidenden Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit (1973) brach sich eine Denkbewegung Bahn, die, getragen von kleinen intellektuellen Netzwerken, einen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel vom Keynesianismus zum Neoliberalismus einleitete - in Großbritannien 1979, später auch in anderen westlichen Ländern. Der neoliberale Paradigmenwechsel veränderte nicht nur das Verhältnis von Staat und Wirtschaft, sondern führte zu einer Restrukturierung aller gesellschaftlichen Teilbereiche unter dem Primat der Ökonomie. Dies brachte die alte sozialdemokratische Linke in die Defensive und wies 1989/90 selbst noch den postkommunistischen Eliten des Ostblocks den Weg.

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Drittens: „Die Postmoderne situiert sich“, folgt man François Lyotard, „nicht nach der Moderne noch gegen sie. Sie war schon in ihr eingeschlossen, nur verborgen.“1 Dies erschwert es, den ‚Umbruch‘ zeitlich zu verorten. Die Abkehr von Utopien und Ideologien sowie von allen endgültigen Gewissheiten, die die Postmoderne propagiert, wurde von Teilen der literarischen Avantgarde bereits in den 1950er-Jahren vollzogen, etwa von Vertretern des Theaters des Absurden, die in jeder Utopie die Gefahr der Totalisierung eines Partikularen sahen. An die Stelle von Utopien und Ideologien rückte ‚radikale Pluralität‘, ‚Vielheit‘ des Denkens - ob auf der Ebene der Wissensformen, Lebensentwürfe, Handlungsmuster, Wahrheits-, Gerechtigkeits- und Menschlichkeitsbegriffe. Zeigte sich das Profil der Postmoderne zunächst in der Architektur, begann während der 1970er-Jahre ein „Klimawechsel“ (Klaus-Michael Bogdal) auch im literarischen Feld, der die Konfiguration und Entwicklung dieses Feldes über die politische Zäsur von 1989/90 hinaus prägt.

Viertens: Die westlichen Gesellschaften differenzierten sich aus im Übergang zur postindustriellen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. Es begann ein Umbau von Mentalitäten und Milieus durch horizontale Differenzierung infolge zunehmender arbeitsteiliger Spezialisierung und Vermehrung des kulturellen Kapitals auf allen vertikalen Stufen der Arbeitswelt. Neue Verteilungskämpfe und Distinktionsprozesse brachen sich Bahn, neue Lebensstile prägten sich aus. ‚Eigenverantwortung‘ rückte zur Leitidee auf.

Fünftens: Ob im Theater oder in den Verlagen, ob an den Hochschulen oder in den Redaktionen - der Impuls der 68er-Bewegung zur Veränderung von Lenkungs- und Entscheidungsmechanismen, Hierarchien oder Autoritätsstrukturen wirkte nach. Es wurde debattiert bis zur Neu- und Erschöpfung. Eine Vielzahl von partizipatorischen Experimenten scheiterte - aber auch der Abbruch eines Umbruchs gehört zur Signatur der 1970er-Jahre.

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Sechstens: Die Liste der Umbrüche wäre zu ergänzen (Neue Ostpolitik, Europäische Währungsschlange etc.). Da der Raum für diesen Kommentar begrenzt ist, sei nur ein einziger weiterer Umbruch genannt: die rekombinante DNA-Technologie. War der so genannte ‚genetische Code‘ bereits seit den 1950er-Jahren bekannt, so ermöglichte erst diese Technologie das Klonieren von Genen und leitete damit in der Erforschung und Bestimmung dessen, was Leben ist, eine neue Etappe ein.

Christoph Kleßmann: Was man an den autofreien Sonntagen - laut „Archiv der Gegenwart“ waren es vier, in Erinnerung habe ich nur zwei - nach dem Schock der ersten Ölkrise vielleicht schon hätte absehen können, ist mittlerweile communis opinio geworden und hat durch Eric Hobsbawms Interpretation des „Goldenen Zeitalters“ von 1950 bis Mitte der 1970er-Jahre die Weihe welthistorischer Reflexion durch einen Universalgelehrten erhalten. Die Mitte des Jahrzehnts war eine tiefe Zäsur in der Nachkriegsgeschichte. Innenpolitisch sollten die späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre vielleicht stärker aneinandergerückt und als Umbruchphase in Deutschland und Europa (in anderer Akzentuierung auch Osteuropa) verstanden werden, und zwar in zweifacher Hinsicht:

Der Prozess der inneren Demokratiegründung und „Fundamentalliberalisierung“ wurde vorangetrieben; er konnte auch durch die fatalen Folgen des RAF-Terrorismus nicht dauerhaft in Frage gestellt werden. Dieser Prozess wurde in den 1970er-Jahren begleitet von einer wachsenden Skepsis gegenüber den Steuerungsmöglichkeiten moderner Gesellschaften. Die wirtschaftlichen Waffen Karl Schillers zur Krisenbekämpfung aus den 1960er-Jahren erwiesen sich zunehmend als stumpf. Die „Globalisierung“ wurde zwar damals noch nicht so genannt, aber sie zeichnete sich bereits ab. Insofern zählt das ungelöste Krisenszenario der späten 1970er-Jahre bereits zur Vorgeschichte unserer gegenwärtigen Probleme. Die strukturelle Arbeitslosigkeit, die Überlastung der Sozialsysteme, die „neue soziale Frage“ (die Heiner Geißler in die Diskussion brachte), ein deutlich verändertes Umweltbewusstsein mit Anti-Atomkraft-Bewegung und noch belächeltem Plädoyer für alternative Energien gehörten zu zentralen Themen der Öffentlichkeit, auch wenn daraus noch keineswegs die aus heutiger Sicht notwendigen politischen Konsequenzen gezogen wurden.

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In ihren Folgen noch völlig unvorstellbar, aber nachträglich erkennbar waren die ersten Erosionsprozesse im Ostblock. „Gulaschkommunismus“, die Expansion der sozialpolitischen Wohltaten in der DDR und in Osteuropa, die KSZE-Konferenz von Helsinki 1975, die Auswirkungen der Energiekrise auch im Osten, aber ebenso die Folgen der verstärkten Hochrüstung in Ost und West schufen lange vor Gorbatschow eine Konstellation, aus der heraus sich mittelfristig das Ende des Sowjetkommunismus andeutete. Das geschah paradoxerweise in einer Phase der Stabilisierung durch Entspannung und einer dichter werdenden Kommunikation zwischen Ost und West auf verschiedenen staatlichen und gesellschaftlichen Ebenen. Der teleologischen Suggestion, dass alles so kommen musste, weil dieser Typus von kommunistischen Systemen nicht reformfähig und dem Untergang geweiht war, kann man sich schwer entziehen. In der damaligen Zeitsituation war dies jedoch nicht erkennbar, allen selbstgerechten Behauptungen von heute zum Trotz.

Krzysztof Ruchniewicz: Zentral ist zweifellos, dass mit der Neuen Ostpolitik der 1970er-Jahre ein intensiverer Dialog zwischen den Ländern West- und Osteuropas begann. Diese Politik, die auf heftigen Widerstand mancher politischer und gesellschaftlicher Gruppen traf, hat damals zu einer partiellen „Normalisierung“ der Beziehungen der Bundesrepublik zur DDR, UdSSR, Volksrepublik Polen und Tschechoslowakei geführt. Zum Symbol der veränderten deutsch-polnischen Beziehungen wurde Willy Brandts Kniefall in Warschau. Ein realpolitisch und symbolisch bedeutsames Ereignis war auch die Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die Vereinten Nationen (1973). Aus europäischer Sicht können die 1970er-Jahre als Ära der Entspannung gelten; nicht zuletzt die KSZE-Konferenz von Helsinki wurde zum Ausgangspunkt für spätere Entwicklungen. Dass die sozialistischen Staaten der Achtung der Menschenrechte dort zumindest auf dem Papier zustimmten, hat die schon existierende Opposition in diesen Ländern gestärkt und ihr ein selbstbewussteres Auftreten erlaubt. Auch wenn der Umbruch von 1989/90 in den 1970er-Jahren noch nicht absehbar war und diese nicht rein teleologisch als „Vorgeschichte“ des Umbruchs betrachtet werden sollten, besitzt dieses Jahrzehnt aus heutiger gesamteuropäischer Sicht doch eine Scharnierfunktion.

2. Seit einiger Zeit ist eine Art Revival der 1970er-Jahre zu beobachten. Worin mag drei Jahrzehnte später die besondere Faszination dieser Dekade bestehen?

Rainer Eckert: Eine besondere Faszination der 1970er-Jahre kann ich nicht erkennen. Vielmehr scheint es mir, dass wir in der historischen Forschung zu den beiden deutschen Staaten eine Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und auf die Gründerjahre der Nachkriegsordnungen zu verzeichnen haben. Die Lücke zur Gegenwart wird jetzt partiell geschlossen, und dabei ist gewissermaßen von einem Normalisierungsprozess auszugehen.

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Etienne François: Die einzige Antwort, die mir dabei einfällt, ist ganz trivial: Wenn es ein solches Revival gibt, dann hängt es höchstwahrscheinlich damit zusammen, dass die Generation der Männer und Frauen, die in diesem Jahrzehnt geboren bzw. sozialisiert wurden, im Augenblick dabei ist, die müde und pensionsreif gewordene Generation der „68er“ abzulösen.

Ingrid Gilcher-Holtey: Das Revival ist Folge der Konjunktur, welche die zeithistorische Forschung durch den Wegfall der Archivsperren erfährt, und somit selbsterzeugt. Die Faszination ist abhängig vom Erkenntnisinteresse und der Fragestellung sowie dem methodischen Vorgehen, das die Untersuchung leitet. Der Fokus wird daher aus politik-, ideen-, sozial-, kultur- oder gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive jeweils ein anderer sein und das ‚Bild‘ der 1970er-Jahre dementsprechend unterschiedliche Merkmale und Botschaften haben. Geht man problemgeschichtlich vor und folgt einem makrohistorischen Ansatz, wird die Analyse die Dekade ‚sprengen‘; bei mikrohistorischer Betrachtung wird die Dekade ohnehin weder Bezugsrahmen noch Erklärungsvariable sein. Für eine wiederum andere Perspektive sei die Wahrnehmung eines herausragenden westdeutschen Zeitgenossen zitiert, der die Vorstellungen, Denk- und Wahrnehmungsschemata in den 1970er-Jahren durch seine Gedichte und Zeitdiagnosen mitgestaltet hat:

„Widerstandslos, im großen und ganzen, haben sie sich selber verschluckt, die siebziger Jahre, ohne Gewähr für Nachgeborene, Türken und Arbeitslose. Daß irgendwer ihrer mit Nachsicht gedächte, wäre zuviel verlangt.“2

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Christoph Kleßmann: Offenbar gibt es so etwas wie eine „Seventies-Nostalgie“. Bestimmte Produkte der Mode (Langes und Selbstgestricktes) und verschiedene Stile der Popmusik gehören dazu. Warum das so ist, kann ich schwer nachvollziehen. Mir scheinen die 1970er-Jahre insgesamt eher diffus: Vieles aus den späten 1960ern entfaltete sich erst jetzt (Frauenbewegung, Kinderläden u.a.). Die „Demokratisierungseuphorie“ kam im Verlauf der 1970er-Jahre in der Provinz an. Das Klima und die Umgangsformen an den (Ober-)Schulen wurden völlig umgekrempelt. Manche Blindstellen der „Achtundsechziger“ wie ökologische Fragen fanden nun erst Interesse. Andererseits waren gravierende wirtschaftliche und gesellschaftliche Krisensymptome unübersehbar. In Ostdeutschland und in Osteuropa sind die 1970er-Jahre heute vielfach in guter (und verklärter) Erinnerung, weil es nach den asketischen „Aufbaujahren“ endlich mehr Konsumangebote und auch etwas mehr Freizügigkeit gab, wozu dann auch mehr westliche Mode-, Musik- und Kunsteinflüsse gehörten.

Krzysztof Ruchniewicz: Die Annäherung in den Ost-West-Beziehungen sowie die größere Freiheit bei Auslandsreisen blieben gerade für Polen nicht ohne Einfluss auf die Veränderungen in der Kultur, insbesondere in der Massenkultur. Dank der Einfuhr und dem speziellen Netz von Devisengeschäften („Pewex“) wurden die im Westen hergestellten Alltagswaren zugänglicher als früher. Es waren Neuheiten, die in den sozialistischen Staaten bisher nicht be-kannt waren oder die schon durch ihre bunte Verpackung auffielen. Eine Fa-Seife oder ein 8x4-Deo wurden zum Vorposten des westlichen Wohlstands. Einige Glückskinder trugen echte „Wrangler“-Hosen und Jacken. Besonders Ehrgeizige jagten nach Schallplatten oder Büchern, die „von drüben“ mitgebracht wurden. Heimliche Rockstars, deren Anzahl in den 1970er-Jahren erheblich zunahm, coverten die Titel ihrer erfolgreichen westlichen Kollegen. Die Vorstellung vom Reichtum der kapitalistischen Staaten wurde zusätzlich durch das Beispiel der polnischen Emigration angeregt. Dass die heutigen älteren und mittleren Generationen die 1970er-Jahre überwiegend in positiver Erinnerung haben, trägt dazu bei, dass sich die Jüngeren ebenfalls für diese Dekade interessieren - und dabei natürlich auch eigene Akzente setzen.

3. Was ist Ihnen persönlich aus den 1970er Jahren besonders in Erinnerung geblieben? Was hat Sie damals beschäftigt und geprägt?

Rainer Eckert: Das Jahrzehnt ab 1970 begann für mich mit einem persönlichen Triumph: die durch mannigfaltige Manipulationen erreichte Ausmusterung aus der Nationalen Volksarmee. Doch schon bald sollte sich das Blatt wenden. Mit dem Tod meiner Großmutter 1971 in West-Berlin endete ein zehn Jahre dauernder Kampf um eine Besuchserlaubnis. Während meine Mutter reisen konnte, verwehrte mir dies die Staatssicherheit. Schon ein Jahr zuvor hatte die Geheimpolizei der SED den „operativen Vorgang“ „Demagoge“ gegen meine Freunde und mich eröffnet, mit dem Ziel der Herausarbeitung von Beweismaterial zu § 106 Strafgesetzbuch der DDR („Staatsfeindliche Hetze“) und § 107 („Staatsfeindliche Gruppenbildung“). 1972 folgte der Ausschluss aus der FDJ als Vorbedingung der Relegierung von der Humboldt-Universität zur „Bewährung in der Produktion“. Das war mit dem Hausverbot in der Universität, dem Entzug der Aufenthaltsgenehmigung für Ost-Berlin, mit Arbeitslosigkeit und einem Erpressungsversuch zur Mitarbeit unter Androhung von drei Jahren Zuchthaus durch das MfS verbunden. Nach meiner Verweigerung einer Kooperation als Form der „Wiedergutmachung“ schloss die Geheimpolizei 1973 die Akte „Demagoge“ wegen der Zerstörung der Oppositionsgruppe durch Relegierungen von der Universität und vorerst einer Verhaftung.

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Die Geheimpolizei lancierte mich schließlich aus der Arbeitslosigkeit in eine Anstellung, um mich auf niedrigsten Niveau wieder in die Gesellschaft des „Realsozialismus“ zu integrieren. Meine berufliche Laufbahn im „VEB Wasserstraßenbau Berlin“ führte mich vom Hofarbeiter über den Lagerverwalter zum Fuhrparkleiter und letztlich zum Inventursachbearbeiter. Schließlich delegierte mich dieser Produktionsbetrieb wieder zum Studium an der Humboldt-Universität. Diesem „Wunsch aus der Produktion“ konnte sich die Sektion Geschichte auf die Dauer nicht verweigern, und ich bekam die Chance zum Abschluss meines Studiums, allerdings nur als Fernstudent, da dies „politisch zweckmäßiger“ sei. 1975 gelang mir nach Abschluss des Fernstudiums durch einen Zufall und durch persönliche Vermittlung der Sprung ins Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaft. Ich begann als wissenschaftlich-technischer Mitarbeiter in der Bibliothek und wechselte 1976 in die Abteilung Information/Dokumentation. Daneben verfolgte ich privat meine eigene wissenschaftliche Arbeit.

Letztlich waren die 1970er-Jahre für mich beruflich eine Zeit der ständigen Doppelbelastung und Unzufriedenheit. Es war ein Jahrzehnt der quälenden Hoffnungslosigkeit und bar jeglicher Faszination. In Erinnerung ist mir aus dieser Zeit besonders das faszinierende Konzert Wolf Biermanns 1976 in Köln und die hysterische Reaktion der SED-Führung, die ihr jegliche noch vorhandene Restlegitimation entzog. Ebenso in Erinnerung blieb mir die öffentliche Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz im selben Jahr in Zeitz. Privat beschäftigten mich Mitte der 1970er-Jahre die jahrelange Suche nach einer menschenwürdigen Wohnung, der (ergebnislose) Kampf um einen Telefonanschluss und die Auseinandersetzung mit anderen Unannehmlichkeiten des DDR-Alltags. Dem standen nur kleine Erfolge gegenüber, wie die Abwehr der Versuche, mich in die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ oder in die „Zivilverteidigung“ zu zwingen. Gleichzeitig arbeitete ich wieder in der FDJ mit, ohne formal überhaupt ihr Mitglied zu sein, und war zeitweilig Mitglied der Gewerkschaftsleitung des Geschichtsinstitutes.

Besonders die zweite Hälfte der 1970er-Jahre habe ich, bezogen auf eine eventuelle Veränderung des Realsozialismus, als eine Zeit grundlegender Resignation und Hoffnungslosigkeit in Erinnerung. Es waren jedoch auch Jahre intensiven Lesens. Die Bücher kamen zum Teil per Post oder mit Freunden aus der Bundesrepublik, andere Bücher schmuggelten wir aus Polen oder Ungarn in die DDR, und verschiedene Autoren erschienen auch nach und nach in der DDR selbst. Bevor man diese Bücher sein eigen nennen konnte, waren jedoch ein aufreibender Kampf mit dem Bestellsystem von Literatur in der DDR und gute Kontakte zu Buchhändlern nötig. Die Niedergeschlagenheit der 1970er-Jahre endete für mich kurzzeitig mit den Hoffnungen, die mit den Streiks im August 1980 in Polen verbunden waren. Diese Hoffnungen zerbrachen jedoch schnell, und Anfang der 1980er-Jahre schien jede Aussicht auf eine Veränderung in der ostdeutschen Diktatur verfehlt.

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Meine Sicht auf die DDR-Geschichtswissenschaft prägten in den 1970er-Jahren Erfahrungen im Zentralinstitut für Geschichte. Dieses Institut mit zeitweilig weit über 300 Mitarbeitern hatte auf vielen Gebieten der National- und auch der Weltgeschichte die Meinungsführerschaft in der SED-Diktatur und zeichnete sich im Vergleich zu den historischen Sektionen der Universitäten und zu den SED-Instituten durch eine beschränkte „Liberalität“ aus. Aber auch an diesem Institut wurden die bedeutenderen Debatten in den Sitzungen der SED-Grundorganisation geführt, die in Zusammenarbeit mit der Institutsleitung und übergeordneten Parteistrukturen die wichtigen Entscheidungen fällte. Die bundesdeutsche und generell die westliche Historiographie wurde zumindest in den Akademie-Instituten mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt und analysiert; alle Mitarbeiter waren zu ihrer ständigen Kritik angehalten.

Etienne François: Die 1970er-Jahre waren für mich insofern entscheidend, als sie meinem eigentlichen Eintritt ins Erwachsenenalter gleichkamen - in familiärer Hinsicht durch die Geburt unserer Kinder (1971, 1973, 1977 und 1981), aber gleichermaßen im wissenschaftlich-beruflichen Bereich. Nach dem Erfolg bei der Agrégation (1968), dem Abschluss des Studiums an der Ecole Normale Supérieure (1969) und dem Militärdienst (1969/70) hatte ich die mit der Hochschulexpansion verbundene Chance, sofort eine Assistentenstelle an der Universität Nancy-2 zu finden. Ich blieb dort - zuerst als Assistent, dann als Maître de Conférences - bis 1979, d.h. bis zum Zeitpunkt meiner Ernennung zum Leiter der Mission Historique Française en Allemagne (angebunden am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen). Vier Aspekte dieser Zeit sind mir besonders in Erinnerung geblieben:

Zuerst die eigentliche Entdeckung der Lehrtätigkeit - verbunden mit einer Freude an der pädagogischen Praxis, die mich seitdem nie verlassen hat. Zweitens das Gefühl, in einer Epoche zu leben, in welcher die Geschichtsforschung eine gewaltige Erweiterung erlebte, vergleichbar mit einer nie zu Ende gehenden Entdeckungsreise. Dies ist für mich mit folgenden, hier nur stichwortartig zu nennenden Entwicklungen verbunden: der Siegeszug der historischen Demographie als einer Form der Forschung, die unser Verständnis des frühneuzeitlichen Europas revolutionierte; die Entwicklung der quantitativen Geschichte - zuerst im Bereich der Sozialgeschichte (Analyse der Klassen und Schichten der Gesellschaften des Ancien Régime wie auch ihrer Gegensätze und ihres Verhältnisses zueinander innerhalb einer sich wandelnden Sozialstruktur); die Erweiterung der quantitativen Geschichte in Richtung der Mentalitäten- und Kulturgeschichte (Alphabetisierung, Buchwesen und Leseverhalten, religiöse Mentalitäten, Hochkultur und Volkskultur); das Aufkommen von neuen Methoden wie der historischen Linguistik (lange bevor man von einem Linguistic Turn sprach) und der Oral History.

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Ein dritter wichtiger Aspekt war die leidenschaftliche Lektüre und gierige Aneignung der Schriften der Nouvelle Histoire - zu der ich nicht nur ihre berühmten Vertreter wie Georges Duby, François Furet, Emmanuel Le Roy Ladurie, Jacques le Goff und Pierre Nora zähle, sondern auch solche Historiker wie Robert Mandrou, Pierre Goubert, Jean Delumeau, Maurice Agulhon, Michelle Perrot, Michel Vovelle (um nur die wichtigsten zu nennen). Diese Lektüre war im Übrigen nicht zu trennen von derjenigen der großen Namen der Kultur- und Sozialwissenschaften - vor allem Louis Althusser, Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Michel de Certeau, Edgar Morin und Alain Touraine. Schließlich ist dieses Jahrzehnt für mich verbunden mit dem Abschluss meiner Dissertation über die demographischen und sozialen Strukturen der Residenzstadt Koblenz am Ende des 18. Jahrhunderts,3 d.h. mit dem eigentlichen Beginn meiner Spezialisierung auf die deutsche Sozial- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit in einer vergleichenden Perspektive mit Frankreich.

Ingrid Gilcher-Holtey: Das Spannungsverhältnis zwischen Zeitzeugen und Zeithistorikern ist bekannt und stellt für jede zeitgeschichtliche Analyse eine Herausforderung dar. Auf die Frage nach der persönlichen Erinnerung neige ich heute dazu, mit Hans Magnus Enzensberger zu antworten:

„Also was die siebziger Jahre betrifft, kann ich mich kurz fassen. Die Auskunft war immer besetzt.“4

Christoph Kleßmann: Natürlich ist mir die große Politik in deutlicher Erinnerung geblieben: die unglaublich spannende Wahlnacht 1969 und der „Machtwechsel“, aus dem die neue Ostpolitik und das Pathos von „Mehr Demokratie wagen“ entsprangen. Unsere private erste Reise mit PKW kreuz und quer durch Polen fand noch im Sommer 1970 statt - der Leiter der polnischen Handelsmission in Köln hatte uns den Weg dazu geebnet -, und Willy Brandts Rede anlässlich der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages, aus dem sich alles Weitere ergab, haben wir im Autoradio in Krakau gehört. Heftige Auseinandersetzungen mit Vertriebenen im Anschluss an Vorträge und Kurse an der Volkshochschule Bielefeld, meine erste Teilnahme an einer deutsch-polnischen Schulbuchkonferenz in Polen 1977 und nicht zuletzt die intensivere Beschäftigung mit DDR-Geschichte fallen in diese Jahre.

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Wenn ich länger darüber nachdenke, gerät die assoziative Stichwortsammlung ziemlich heterogen und fragmentarisch: beruflich 1970 der Wechsel vom gesicherten Posten eines wissenschaftlichen Mitarbeiters am Ostkolleg der Bundeszentrale für politische Bildung in Köln in die ungesicherte Position eines Assistenten an der Abteilung Geschichtswissenschaft der Universität Bochum und 1976 in eine wohlbestallte C3-Professur an der nun kaum noch ernsthaft umkämpften Hochburg der Sozialgeschichte in Bielefeld; familiär die spannenden Jahre des Heranwachsens unserer beiden Kinder (1971 und 1973 geboren); die schwer lösbaren Probleme der Vereinbarkeit von Kindererziehung und Habilitationsvorbereitung übergehe ich diskret, weil dazu vor allem meine Frau (als Gymnasiallehrerin in Bochum und Bielefeld) gehört werden müsste, um eigene Biographiekonstruktionen kritischer und realistischer zu gestalten. Aus zwei Gründen ist mir überdies der erste oder zweite autofreie Sonntag 1973 in zumindest vager Erinnerung: zum einen, weil die ungewohnt leeren Straßen ein Erlebnis waren; zum anderen, weil an einem dieser bemerkenswerten Tage ein - leider nie wiederholtes und insofern folgenloses - Treffen von Osteuropa-interessierten universitären „Mittelbauern“ in der Ostakademie Lüneburg stattfand, auf dem unter anderem Möglichkeiten einer lockeren Organisation dieser Gruppe diskutiert wurden.

Die Folgen von „1968“ wurden zumindest an neugegründeten Universitäten erst in den frühen 1970er-Jahren konkreter erkennbar. Bochum war als erste Universität im Ruhrgebiet eine wichtige Reformgründung, äußerlich ein Beton-Ungetüm, lange Zeit noch eine große Baustelle, aber es herrschte enorme Aufbruchstimmung ohne die spektakulären gewaltsamen Konflikte der Traditionsbastionen. Es gab einen sehr engagierten Mittelbau, der im Rahmen der Konzepte der Bundesassistentenkonferenz (BAK) überzeugt war, die einzig richtigen und vernünftigen Reformvorschläge in Lehre und Forschung zu besitzen und realisieren zu können. Dazu gehörten in Bochum die wohl bis zum Verfassungsgerichtsurteil von 1976 zum Hochschulrahmengesetz in der Bundesrepublik singuläre, aber erfolgreich praktizierte drittelparitätische Satzung bei den Historikern; das legendär gewordene, umkämpfte und bisweilen auch bespöttelte „IPS“ (obligatorisches Integriertes Proseminar aus den Bereichen Alte, Mittlere und Neuere Geschichte); intensive Debatten um die inhaltliche Neuordnung des Geschichtsstudiums mit einem Kanon von verbindlichen Gegenständen und Fachliteratur, der dann natürlich doch auf der Strecke blieb; eine Hochschulpädagogische Arbeitgemeinschaft als eine Art freiwilliges Äquivalent eines Referendariats mit gruppendynamischen Crashkursen und wechselseitigen Hospitationen in den Lehrveranstaltungen.

Aus der nächstliegenden Fachperspektive waren meine ersten Bochumer und Bielefelder Jahre zudem nach heutigen Maßstäben eine Phase märchenhafter finanzieller Ausstattung mit Bibliotheksmitteln, aber auch mit Stellen, bevor die anfänglich verunsicherten staatlichen Bürokratien das Heft wieder stärker in die Hand nahmen und den Rotstift ansetzten. Besonders in meinen Bochumer, zum Teil auch noch in den Bielefelder Seminaren und Kursen hatte ich das (oft zweifelhafte) Vergnügen, mit so ziemlich dem gesamten Spektrum an politischen Hochschulgruppen diskutieren zu müssen (vom Spartakus und den Jusos über den RCDS bis hin zu hartgesottenen Stalinisten). Tempora mutantur! Deutsche Nachkriegsgeschichte fand hier großes Interesse; es war die hohe Zeit der politisierten historischen Restaurationsdebatten. In Bochum und Bielefeld hatte damals auch die heute zum historiographischen Dinosaurier gewordene Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte Konjunktur.

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Krzysztof Ruchniewicz: Die 1970er-Jahre habe ich als Kind erlebt. In Erinnerung geblieben ist mir etwa die Fußballweltmeisterschaft von 1974 und dabei besonders das Spiel Polens gegen die Bundesrepublik, das Polen in strömendem Regen 0:1 verlor. Wenn ich an die 1970er-Jahre denke, fällt mir auch der Fiat 126p ein, das in Polen produzierte Lizenzmodell des Fiat - gedacht als Auto für die arbeitende Intelligenz, das sich aber nur die reichen Leute leisten konnten -, und der erste Farbfernseher, der aus Japan importiert wurde. Andererseits war das Einkaufen im Polen der 1970er-Jahre nicht einfach: Oft wurde ich sehr früh am Morgen von meinen Eltern geweckt, damit wir beim Schlangestehen nach begehrten Waren noch eine gute Position bekommen konnten. Auf diese Weise haben meine Eltern nach zwei Tagen ihre Schrankwand ergattert. Meine wichtigsten Erinnerungen sind letztlich jene an die Wahl des Kardinals Karol Wojtyła zum Papst (1978) und an die Streiks im August 1980, die mit Vereinbarungen zwischen den kommunistischen Mächten und den streikenden Werftarbeitern endeten. Von der Papstwahl erfuhr ich aus dem Radio. Diese Information war so phantastisch, dass zuerst niemand daran glaubte. Bald wurde auch im Fernsehen darüber informiert. Wir besaßen damals noch keinen Farbfernseher; daher sahen wir Karol Wojtyła lediglich in Schwarz-Weiß. Die Freude war riesig. Aus dem Spätsommer 1980 ist mir nicht nur der schnurrbärtige Lech Wałesa im Gedächtnis, der eine der Vereinbarungen unterschrieb, sondern komischerweise auch sein riesengroßer Kugelschreiber. Wie sich später herausstellte, war dieser Kugelschreiber eine bewusste Demonstration Wałesas für die Kameras: Auf dem Stift war ein Abbild Johannes Pauls II. zu sehen (heute ist der Kugelschreiber im Museum des Klosters „Jasna Gora“ als ein wertvolles zeithistorisches Dokument aufbewahrt). In Wrocław haben wir dieses Ereignis vor dem Fernseher verfolgt, aber auch auf den Straßen - andere Probleme sind damals in den Hintergrund gerückt.

4. Welche Perspektiven und Gegenstandsbereiche sehen Sie für die nun beginnende zeithistorische Erforschung der 1970er-Jahre als besonders wichtig an?

Rainer Eckert: Im Zentrum der Aufmerksamkeit der kommenden Jahre wird die integrierte gesamtdeutsche Zeitgeschichte stehen, zu der es erste Vorarbeiten gibt. Bezogen auf die DDR sollten weiterhin die verschiedenen Erklärungsansätze des SED-Herrschaftssystems diskutiert werden. Auch wenn es eine grundsätzliche Einigung darüber gibt, dass es sich um eine Diktatur handelte, ist doch der Streit darüber, ob diese am besten mit einem totalitarismustheoretischen Ansatz oder etwa mit dem Konzept einer „modernen Diktatur“ erklärt werden kann, noch nicht beendet. Dabei ist auch zu klären, ob die DDR wirklich so vielgestaltig war, dass sie nicht durch eine „Formel“ beschrieben werden könne, wie verschiedentlich behauptet wird. Zugleich ist der Versuchung zu widerstehen, DDR-Geschichte als bloße Regionalgeschichte zu schreiben. Vielmehr muss sie immer aus nationalgeschichtlicher Perspektive betrachtet und in internationale, besonders in europäische, Zusammenhänge eingebettet werden. Dies macht den Vergleich und die Beziehungsanalyse zu einer unverzichtbaren Methode der Zeitgeschichtsforschung.

Der diktatorische Charakter der DDR sollte auch für die 1970er-Jahre klarer herausgearbeitet werden. Dabei ist es unverzichtbar, sowohl das Wechselspiel zwischen politischer Repression und Opposition als auch die Einbettung diktatorischer Herrschaft in allgemeine Gesellschaftsstrukturen und in den Alltag zu erforschen. Besonders alltagsgeschichtlich gibt es noch zahlreiche Leerstellen. Auch die Kenntnisse über die Entwicklung widerständigen Verhaltens im Übergang vom grundsätzlichen Widerstand gegen die kommunistische Herrschaft zur stärker reformorientierten und an einer Zivilgesellschaft interessierten Opposition sind noch lückenhaft. In diesem Zusammenhang ist auch zu klären, ob es Parallelen der Entwicklung der ostdeutschen Opposition zu Protestbewegungen in der Bundesrepublik gab.

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Aber auch die Erforschung außenpolitischer Ereignisse und ihrer Auswirkungen auf die beiden deutschen Staaten ist zu verstärken - von der Helsinki-Konferenz über die Aufstellung atomarer Mittelstreckenraketen durch die NATO bis zum sowjetischen Einmarsch in Afghanistan. Allgemeine Probleme der Erforschung der SED-Diktatur wie etwa die zu starke Fixierung auf das Ministerium für Staatssicherheit oder die Vernachlässigung der alles durchdringenden Rolle der Staatspartei sind auch bezogen auf die 1970er-Jahre zu überwinden. Ob es dabei zu grundsätzlich neuen Erkenntnissen kommen wird, erscheint mir zumindest fraglich. Es kommt vor allem darauf an, Schieflagen in der Zeitgeschichtsforschung zu korrigieren, Desiderata zu beseitigen und eine Verinselung der Geschichte beider deutscher Teilstaaten zu verhindern.

Etienne François: Wünschenswert erscheint mir eine Umorientierung bzw. Weiterentwicklung der Forschung in die zwei folgenden Richtungen: erstens eine vertiefte und differenziertere Untersuchung der transnationalen Prozesse während der 1970er-Jahre - insbesondere in ihren Ost-West-Dimensionen; zweitens eine Untersuchung der wechselseitigen Wahrnehmungen und Beeinflussungen von Europa und den außereuropäischen Welten.

Ingrid Gilcher-Holtey: Der Untersuchungsgegenstand wird durch das Erkenntnisinteresse und die Wahl des analytischen Bezugsrahmens mitbestimmt. Eines meiner Erkenntnisinteressen richtet sich auf die Erfassung und Erforschung von Wahrnehmungsveränderungen - Einstellungen, Vorstellungen, Denkschemata und Verhaltendispositionen, Habitus -, die das Handeln von Individuen, Gruppen und Bewegungen leiten, auf die Diffusion von kollektiven Sinnstrukturen, die sich in sozialen Praktiken niederschlagen. Wie kommt es zur Innovation von Sinnstrukturen, Sicht- und Teilungskriterien der sozialen Welt? Welche Strategien wenden bestimmte Trägergruppen an, um kognitive Orientierungen zu verbreiten? Welche Macht-, Konkurrenz-, Definitions- und Distinktionskämpfe begleiten diesen Prozess, der zur Institutionalisierung von Wahrnehmungsschemata führen, aber auch steckenbleiben oder scheitern kann? Für solche Problemkreise eröffnen, wie unter Frage 1 bereits erwähnt, die Entwicklungen der 1970er-Jahre auf mehreren Ebenen ein breites Forschungsfeld. Themen wie den neoliberalen Paradigmenwechsel und in seiner Folge die Durchkapitalisierung aller Lebensbereiche sehe ich als besonders zentral an. Eine vergleichende Analyse des Niedergangs der Alten Linken in Europa könnte folgen. Wichtig erscheinen mir auch Studien, die die Janusköpfigkeit der 1970er-Jahre analysieren, den Kampf zwischen Utopie-Verteidigern und Utopie-Verweigerern sowie die Um- und Abbrüche der Impulse der 68er-Bewegung. Ein weiteres Desiderat ist aus meiner Sicht die Initiierung einer Kooperation von Zeitgeschichte und Naturwissenschaften - geht doch die Frage, was Leben ist, die Zeitgeschichte ebenso an wie die beiden Weltkriege, der „Kalte Krieg“ und die neuen Glaubenskriege. Innerhalb einer Geschichte der Wahrnehmungen oder des ‚Eingreifenden Denkens‘, last but not least, wäre beispielsweise aber auch Platz für eine Untersuchung der Berliner „Schaubühne“ oder ein Profil von Peter Stein, der Weltsichten in actu, Gesten, abgestuften Tönen und ineinandergreifenden Bildern auf der Bühne inszeniert hat.

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Christoph Kleßmann: Die schon seit langem diskutierte Ambivalenz der Entspannungs- und Ostpolitik mit ihren Konsequenzen für die weitere Entwicklung Ost(mittel)europas und insbesondere der DDR dürfte weiterhin ein Thema bleiben; ebenso der mühsame Lernprozess des allmählichen Abschieds vom Sozialstaat, der finanziell aus dem Vollen schöpfen kann. Ob die RAF und der europäische linke Terrorismus, der die Gemüter damals besonders erhitzt hat, dauerhaft zeithistorisches Interesse beanspruchen kann, erscheint mir eher zweifelhaft. Vor dem Hintergrund heutiger globaler terroristischer Bedrohungen dürfte er ein vergleichsweise marginales Phänomen gewesen sein. Ein lohnendes Feld wird die zeithistorische Analyse der Entwicklungen und Fehlentwicklungen im gesamten Bildungswesen sein. Zwar setzte sich die Expansion des Bildungssektors leicht gebremst fort, aber der schwerfällige Tanker ist, so sieht es von heute aus, häufig auch an den falschen Stellen modernisiert worden.

Krzysztof Ruchniewicz: Neben und in Verbindung mit den weiterhin nötigen politikgeschichtlichen Arbeiten müsste man die Aufmerksamkeit viel stärker auf die Erforschung des Alltags legen. Dieses Thema umfasst viele Aspekte der menschlichen Existenz: von den Wohnbedingungen über die Ernährung bis zu den Verhältnissen in den Familien, den Sitten, der Wahrnehmung der politischen Wirklichkeit durch die breite Mehrheit der Bevölkerung. So könnte man die bisherige Narration, die sich hauptsächlich auf die politische Geschichte im Sinne von Ereignisgeschichte konzentriert, erweitern und die Vergangenheit aus einer Perspektive „von unten“ betrachten. Die Untersuchungen in Polen stecken diesbezüglich generell noch in den Anfängen; eine gesonderte Bearbeitung der 1970er-Jahre gibt es bisher nicht. Nach Meinung vieler Polen - besonders jener, die die Folgen der gegenwärtigen Transformation sehr stark zu spüren bekommen haben - waren die 1970er-Jahre eine Zeit, in der Milch und Honig flossen. Dem muss die Geschichtswissenschaft ein realistisches Bild entgegenstellen. Ein weiteres, über Polen hinausreichendes Ziel der Forschung müsste es sein, den Wandel in Ostmittel- und Südeuropa sowie die Interaktion mit dem Westen seit den späten 1960er-Jahren genauer zu beschreiben und zu erklären, um die langfristige Bedeutung dieser Ereignisse für die Geschichte des 20. Jahrhunderts besser einschätzen zu können.

Anmerkungen: 

1 François Lyotard, Le Postmoderne expliqué aux enfants, Paris 1986 (Umschlagrücken).

2 Hans Magnus Enzensberger, Andenken [1980], in: ders., Gedichte 1950-1995, Frankfurt a.M. 1996, S. 108.

3 Etienne François, Koblenz im 18. Jahrhundert. Zur Sozial- und Bevölkerungsstruktur einer deutschen Residenzstadt, Göttingen 1982. Die französische Dissertationsfassung war 1974 abgeschlossen.

4 Enzensberger, Andenken (Anm. 2).

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