Der nonkonforme Blick

Ivan Kyncls Fotografien der tschechoslowakischen Gesellschaft in der Zeit der „Normalisierung“

Anmerkungen

Mit dem Erwerb von rund 20.000 Negativen aus dem Nachlass des tschechischen Fotografen Ivan Kyncl (1953–2004) hat die Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen einen bedeutenden Grundstock für eine fotografische Sammlung zur tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung der 1970er-Jahre gelegt.1 Das Archiv der Forschungsstelle beherbergt die europaweit umfangreichste Sammlung von so genanntem Samizdat, d.h. von Schriftstücken, die jenseits der staatlichen Zensur im ‚Selbstverlag‘ publiziert worden sind.2 Den Hunderttausenden von schriftlichen Dokumenten steht eine kaum geringere Zahl von Fotografien gegenüber. Diese gelangten eher zufällig zusammen mit den schriftlichen Quellen oder mit gesamten Nachlässen von Dissidenten aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn in das Archiv.3

Die vorhandenen Fotoporträts von Dissidenten, seltene Aufnahmen aus sowjetischen Zwangslagern der 1950er- und 1960er-Jahre, von der Solidarność-Bewegung in Polen, den polnischen Internierungslagern nach Ausrufung des Kriegsrechts oder Fotografien von polnischen und slowakischen Untergrund-Druckereien sowie auch Fotos von den Demonstrationen in Ost- und Ostmitteleuropa am Ende der 1980er-Jahre stellen keinen systematischen Sammlungsbestand dar. Mit dem Foto-Nachlass von Ivan Kyncl kommt erstmals ein thematisch geschlossenes Konvolut von erheblichem Umfang in das Bremer Archiv, das künftig zusammen mit den Einzelfotos die Grundlage für ein umfangreiches Fotoarchiv der politischen und kulturellen Opposition in Ost- und Ostmitteleuropa zwischen 1945 und 1989 bilden soll. Um diesen Anspruch einlösen und interessierten Nutzern mehr als nur eine Ansammlung einzelner Motive bieten zu können, ist eine archivalische wie auch wissenschaftliche Erschließung erst noch zu leisten.4

Im Folgenden wird das Spektrum von Ivan Kyncls fotografischem Werk aus den 1970er-Jahren exemplarisch vorgestellt und die Spezifik seiner Fotografien beschrieben. Kyncls Fotografien dokumentieren aus der Perspektive eines nonkonformen Fotografen den Alltag in der Tschechoslowakei der 1970er-Jahre.5 Sie lassen sich grob drei Themenbereichen zuordnen: Dissens, soziale Randgruppen, ‚normalisierte‘ Gesellschaft. Der umfangreichste Teil dokumentiert das politische und kulturelle Dissens-Milieu. In der tschechischen fotohistorischen Forschung wird Kyncls Werk als sozialdokumentarische Fotografie und Teil einer widerständigen Haltung betrachtet.6 Dabei ist genauer zu fragen, welche Elemente das Widerständige in den Fotografien konstituieren: Leitet es sich ab von einer spezifischen fotografischen Praxis, von den transportierten Bildinhalten oder von dem Unterlaufen des staatlichen Informationsmonopols durch die Veröffentlichung der Fotografien im Samizdat oder in westlichen Printmedien? Meine Hypothese lautet, dass für eine Klassifizierung der Fotografien als widerständig alle drei Elemente vorhanden sein müssen.

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Für die Erschließung des vorliegenden fotografischen Materials ergibt sich eine Reihe von Schwierigkeiten. Kyncls Fotos sind meist unter konspirativen Umständen entstanden. Deshalb weist das Gros seiner Fotoabzüge und Filmnegative keine oder nur rudimentäre Beschriftungen auf. Diese wurden nach seiner Emigration nur in einzelnen Fällen für Publikations- und Ausstellungsvorhaben ergänzt. Die Gründe dafür, warum viele Fotografen des Dissens damals auf Angaben zu ihren Fotografien verzichteten, liegen auf der Hand. Sie mussten damit rechnen, dass die Staatssicherheit bei Hausdurchsuchungen verdächtige Fotografien konfiszieren würde, um diese für eigene Zwecke zu missbrauchen. Auch Kyncl verzichtete auf jedwede Beschriftung und machte keine Notizen zu seinen Fotoaktionen, um weder sich noch die abgebildeten Personen zu gefährden.7 Er versteckte seine Negative an unterschiedlichen Orten; belichtete Filme mit Aufnahmen von Dissidenten versuchte er umgehend über Kuriere ins westliche Ausland zu schmuggeln. Unklar ist allerdings, ob tatsächlich sein gesamtes Archiv aus den 1970er-Jahren erhalten geblieben ist. Es ist nicht auszuschließen, dass größere Teile von der Staatssicherheit konfisziert oder vernichtet wurden oder aus anderen Gründen verloren gegangen sind. Ein klareres Bild kann erst der direkte Abgleich der Negative mit den erhaltenen Originalabzügen oder mit den publizierten Fotografien erbringen.

Eine zentrale Quelle zur Rekonstruktion des Informationsgehalts und der Entstehungskontexte von Kyncls Fotografien stellt sein Fotobuch „After the Spring Came Winter“ dar.8 Die gemeinsam mit seinem Vater, Karel Kyncl, 1983/85 in der Emigration herausgegebene Publikation hat den Charakter einer Kampfschrift gegen das Husák-Regime. Sie ist ein wichtiger Nachweis für die politische Funktionalisierung von Kyncls Fotografien. Die noch fehlenden Informationen über die Entstehung einzelner dort abgedruckter Bilddokumente können, selbst wenn die Ereignisse über 30 Jahre zurückliegen, bei gebotener quellenkritischer Sorgfalt anhand von Interviews mit Personen ergänzt werden, die Kyncl kannten.

Ivan Kyncl wurde 1953 in Prag geboren.9 Im Laufe der 1970er-Jahre avancierte er zum Fotografen der Charta 77. Aufgrund seiner fotografischen Tätigkeit in der tschechoslowakischen Opposition wurde er im Oktober 1980 vom Husák-Regime ins Exil nach Großbritannien getrieben, wo er 2004 als einer der gefragtesten Theaterfotografen des Landes verstarb. Seinen erlernten Beruf als Fotograf übte Kyncl in der Tschechoslowakei nur für kurze Zeit in einem fotografischen Großbetrieb aus. Mehrfach bewarb er sich erfolglos um die Zulassung zum Studium der Fotografie an der renommierten Prager Kunsthochschule FAMU. Als Sohn des wiederholt inhaftierten Regimekritikers Karel Kyncl fiel er unter die staatlich praktizierte Sippenhaft, so dass ihm eine Hochschulausbildung verwehrt blieb. Erst 1976 erhielt er die Zulassung, sich zumindest als externer Student einschreiben zu können. Er war als Stalljunge im Winterlager des staatlichen Zirkus- und Varieté-Betriebs angestellt und erarbeitete sich dadurch die notwendige Empfehlung des Arbeitgebers für ein Studium. Allerdings musste er dieses schon nach wenigen Monaten abbrechen, da er sich bei einem Skiunfall schwere Verletzungen an der Halswirbelsäule zugezogen hatte. Zeitweilig lebte er von einer Invalidenrente und arbeitete bis zu seiner Emigration als Nachtwächter in einer staatlichen Baugenossenschaft. Während er abends seinem Broterwerb nachging, nutzte er tagsüber die Zeit, um zu fotografieren.

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Ivan Kyncl am Bahnsteig des Prager Hauptbahnhofs am Tag seiner Emigration, 22.10.1980
(Foto: Oldřich Škácha)

Nach der ersten Sichtung des Fotonachlasses zeigt sich, dass Kyncl vor allem ein Porträtist war, der in einfühlsamen Bildern die Menschen seiner Umgebung dokumentierte. In Hunderten von Fotoporträts erfasste er die nonkonformen Schriftsteller/innen, Intellektuellen und Künstler/innen des Prager Dissidenten-Milieus, zu dem er selbst gehörte – zum Beispiel die bekannte tschechische Sängerin Marta Kubišová, die seit 1970 mit Auftrittsverbot belegt war.10 Ihr Lied „Gebet“ war nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 zum nationalen Protestsong geworden. Da sich die Sängerin im Gegensatz zu vielen ihrer Künstler-Kollegen geweigert hatte, ihr öffentliches Auftreten auf Seiten der Reformkommunisten während des Prager Frühlings als Irrtum zu revidieren, endete Kubišovás Karriere.11 Erst 1988 sang sie bei der ersten offiziell genehmigten Demonstration in Prag nach knapp 20 Jahren wieder öffentlich ihr „Gebet“. Kyncls Fotoporträt von Marta Kubišová entstand 1979/80, als sie bereits zum inneren Kreis der Dissidenten der Menschenrechtsinitiative Charta 77 gehörte und die Funktion einer Sprecherin übernommen hatte. Das Porträt zeigt Kubišová nicht als politische Aktivistin, sondern in der Pose einer in die eigene Welt versunkenen Künstlerin.

 

Marta Kubišová, Sängerin und Sprecherin der Charta 77, um 1979
(Foto: Ivan Kyncl, Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen)

Die Fotografie ist Teil einer Serie von zwölf Frauenporträts, die Kyncl für das Buchprojekt „Verbotene Bürger. Die Frauen der Charta 77“ der Prager Autorin Eva Kantůrková anfertigte.12 Diese führte Interviews mit zwölf Frauen, die in der Charta 77 aktiv waren – Olga Havlová, Dana Nĕmcová, Anna Šabatová und andere erzählten über ihre existenzielle Situation und ihr Engagement im Rahmen der Charta 77. Kyncl wurde im Impressum explizit als Fotograf genannt. Das überrascht insofern, als er bis zu seiner Emigration entweder unter dem Pseudonym Ivan Barta oder nur unter Angabe des Agenturnamens Palach Press Agency seine Fotos im Westen publizierte.13 Mit großer Wahrscheinlichkeit ist das Buch entweder unmittelbar vor oder kurz nach Kyncls Emigration erschienen.

Knapp vier Jahre lang hatte er, der als einer der wenigen seines Berufsstandes die Charta 77 unterzeichnet hatte, die inoffizielle Rolle eines Bildchronisten inne. Tausende von Fotografien fertigte er in diesem Zeitraum an. Seine Porträtgalerie liefert ein facettenreiches Panorama des Prager dissidentischen Milieus der 1970er-Jahre, das über die wenigen heute noch bekannten Namen hinausreichte. Tschechoslowakische Exil-Agenturen wie die in London tätige Palach Press Agency oder die Charta Foundation in Stockholm nutzten Kyncls Fotografien und teils auch Filmaufnahmen von Dissidenten, um das Thema der Menschenrechtsverletzungen in der ČSSR einfacher an die westlichen Redaktionen verkaufen zu können.14 Denn allgemein galt es als schwierig, dieses Thema regelmäßig in den Medien zu platzieren – vor allem Ende der 1970er-Jahre, als prominente Signatare der Charta 77 wie Václav Havel inhaftiert waren, oder als im August 1980 mit der offiziellen Zulassung der ersten unabhängigen Gewerkschaft Solidarność in Polen spektakuläre Fotografien die westliche Berichterstattung über andere Oppositionsbewegungen in Osteuropa dominierten.

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Derart aufsehenerregende Fotografien einer oppositionellen Massenbewegung hatte der tschechoslowakische Dissens bis 1989 nicht anzubieten. Die politische Auseinandersetzung mit den Machthabern war bekanntlich nach 1968 aus der Öffentlichkeit in die private Sphäre verdrängt worden. Deshalb boten sich für Fotografen kaum Anlässe, um den dort praktizierten Widerstand mit spektakulären Ereignis- bzw. Aktionsfotos dokumentieren zu können. Kyncl stellt in diesem Kontext jedoch eine Ausnahme dar. Während andere Fotografen (wie Bohdan Holomíček, Ondřej Nĕmec oder Oldřich Škácha) in ihren Arbeiten ein Bild der Dissidenten als Teil einer fröhlichen Gemeinschaft von Gleichgesinnten vermittelten, erweiterte Kyncl sein Bildrepertoire um die andere Seite ihrer Lebenswirklichkeit. Er konzipierte Bildserien, die die Isolierung der Dissidenten von der Gesellschaft und ihre Verfolgung durch die Organe der Staatssicherheit sichtbar machten.

 

 

 

Verfolgung des Dissidenten František Kriegel durch zwei Mitarbeiter der Staatssicherheit,
Prag 1977
(Fotos: Ivan Kyncl, Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen)

In einer Sequenz aus sechs Schwarz-Weiß-Fotografien begleitete Kyncl mit seiner Kamera einen Spaziergang František Kriegels, ehemaliges ZK-Mitglied der KPČ sowie Mitinitiator und Unterzeichner der Charta 77, wie dieser ihn fast täglich unternahm.15 Aber auf diesen Fotografien ist nicht nur der zum Staatsfeind erklärte einstige Held des Prager Frühlings zu erkennen, sondern auch die Verfolgung durch zwei Männer in Zivilkleidung. Wenn Kriegel stehen bleibt, um sich eine Zigarette anzuzünden, bleiben sie ebenfalls stehen und rauchen. Als er sich umsieht, um die Straßenseite zu wechseln, tun es ihm die beiden Männer nach. Fast auf Tuchfühlung herangerückt, steht nun das vermeintliche Grüppchen am Straßenrand. Keiner von ihnen blickt in Richtung des Fotografen, so als ob sie nicht ahnen, beobachtet oder gar fotografiert zu werden. Tatsächlich war nur einer der drei in diese Aktion eingeweiht: František Kriegel. Dieser stand seit 1969 bis zu seinem Tod im Dezember 1979 unter ständiger Observation durch die Organe der Staatssicherheit. Wie konnte Kriegel diese Form der staatlich praktizierten Zersetzungsmaßnahmen dokumentieren oder der Weltöffentlichkeit mitteilen? An einem sonnigen Tag, irgendwann im Frühjahr 1977, nahm Kyncl mit einem starken Teleobjektiv Kriegels Bewacher ins Visier.16 Seinen Standpunkt, an einem Fenster im Treppenhaus eines Gesundheitszentrums, hatte der Fotograf lange im Voraus gewählt. Mit Kriegel verabredete er den genauen Ablaufplan. Sie legten einen Zeitpunkt fest und die Route, die Kriegel an diesem Tag für seinen Spaziergang nehmen sollte. Sie hatten sogar vereinbart, wann Kriegel an welcher Straßenlaterne stehenbleiben sollte.17 Wie die Fotografien belegen, ist die Ausführung des gemeinsamen Plans geglückt. Mehr noch: Kyncl gelang es, diese Bilder über Kuriere in den Westen schmuggeln zu lassen. Wenig später, am 12. Juni 1977, druckte die britische Zeitung „Sunday Times“ seine Bildserie über zwei Seiten ab und fragte, „[w]hy this man has two sinister shadows, even on a walk in the park“.18

Neben Kyncls konzeptioneller Stärke und seinem technischen Können zeichnete ihn seine Bereitschaft aus, auch an solchen Orten zu fotografieren, die tabu waren. Dazu gehören seine Fotoserien über tschechische Gefängnisse, in denen Dissidenten inhaftiert waren. Bei den Aufnahmen vom Frauengefängnis in Opava gelang es ihm, nicht nur das Gefängnisgebäude zu fotografieren, sondern sogar eine Insassin: die Prager Dissidentin Otta Bednářová, am Fenster ihrer Zelle stehend. Wie bereits seine Observationsserie bereitete Kyncl auch diese Dokumentation sorgfältig vor. Diesmal hatte er seinen engen Freund Jiří Bednář, einen Sohn der Inhaftierten, und zwei Freundinnen in die Durchführung dieser Aktion einbezogen.19 Otta Bednářová war zusammen mit neun weiteren Angeklagten 1979 zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt worden. Die Aufnahmen von Opava sollten für eine Kampagne im Westen zur Freilassung der erkrankten Dissidentin verwendet werden.20 Die Vorbereitungen begannen mit der Informationsbeschaffung über den Tagesablauf in dem Frauentrakt des Gefängnisses. Es ging darum, einen geeigneten Zeitpunkt festzulegen, an dem eine Chance bestand, dass Bednářová an das Fenster ihrer Zelle treten konnte. Vor Ort galt es dann, einen geeigneten Standpunkt zu finden, so dass der Fotograf das gewünschte Motiv aufnehmen konnte – unbemerkt von den Wachposten und über die Gefängnismauern hinweg.

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Neben Kyncl äußerten sich nach 1989 sowohl Otta Bednářová als auch ihr Sohn, der parallel zu Kyncl die Aktion filmte, über den Ablauf der Ereignisse. Bednář erinnert sich, dass seine Mutter über das genaue Datum nicht informiert war: „Wir waren dort etwa drei Tage und warteten auf eine passende Gelegenheit. Wir gingen auch am Zaun entlang und riefen ihren Namen ‚Otko‘. Immer zu einer Zeit, wenn man annehmen konnte, dass sie in ihrer Zelle war. Morgens oder vormittags nahmen wir an, würde sie sich irgendwo waschen oder beim Verhör sein. Wir versuchten es, und auf einmal winkte sie aus einem Fenster. Da wussten wir dann, wo ihre Zelle war.“21 Dieselbe Szene, aus der Sicht der Inhaftierten geschildert, macht deutlich, dass nicht nur die Fotografen unter konspirativen Bedingungen agieren mussten, sondern auch die Gefangene: „Ich wusste, dass mein Sohn und Ivan mich fotografieren wollten, doch ich kannte nicht den genauen Zeitpunkt. Als ich an einem Nachmittag in der Zelle stand und meinen Namen rufen hörte, war mir klar, dass ich meine Zellengenossin für einen Moment loswerden musste. Ich inszenierte einen Wutanfall, schrie sie an, sie solle mich für einen Augenblick allein lassen, denn ich wusste, dass sie als Spitzel auf mich angesetzt war. Erst als ich allein war, trat ich ans Fenster und erkannte die Jungs unten auf der Straße. Ich winkte ihnen zu und gab ihnen dann zu verstehen, dass sie sofort verschwinden sollten. Ich dachte nur daran, was passiert, wenn man auch sie verhaftet.“22

 

Die tschechische Dissidentin Otta Bednářová im Frauengefängnis Opava, 1980
(Foto: Ivan Kyncl, Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen)

Die Aktion erwies sich, wie erst beim Entwickeln der Filme in der Dunkelkammer deutlich wurde, als geglückt. Es war tatsächlich gelungen, die Gefangene ins Bild zu bekommen; sie lächelte und winkte auf dem Foto in Richtung der Kamera. Eine lächelnde Dissidentin hinter Gittern? Entsprach dies der Tradition einer klassischen Opfer-Ikonographie? Auch hier erwies sich Kyncl als Erfinder einer eigenen Bildsprache für die Isolierung und Ausgrenzung der Andersdenkenden aus der Gesellschaft. Seine Bilder machten die unsichtbare Seite der staatlichen Gewaltausübung sichtbar und reflektierten gleichzeitig das Selbstverständnis der Dissidenten von der „Macht der Ohnmächtigen“ (Václav Havel).

Ivan Kyncls fotografische Aktivitäten blieben von der Staatssicherheit nicht unbemerkt. Anhand der bislang aufgefundenen Akten im Archiv der Staatssicherheit in Prag kann rekonstruiert werden, dass Kyncl seit 1974 als ‚Staatsfeind‘ registriert war.23 Für seinen Alltag bedeutete dies, neben der beruflichen Diskriminierung, regelmäßige Vorladungen zu Verhören, mehrfache Observationsmaßnahmen, immer wieder Festnahmen für 48 bis 76 Stunden, Hausdurchsuchungen, Installation von Abhörtechnik in seiner Wohnung und schließlich ein inszeniertes, aber nicht eingeleitetes Strafverfahren wegen eines angeblich geplanten Attentats auf den Staatspräsidenten Gustáv Husák.24

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Als Kyncl Anfang 1980 eine „Macbeth“-Inszenierung in dem so genannten Prager Wohnungstheater der einstigen Staatsschauspielerin Vlasta Chramostová fotografieren wollte, die seit 1969 ebenfalls mit Auftrittsverbot bestraft worden war, kam es erneut zu seiner Festnahme.25 Bereits im Treppenhaus kontrollierten Polizisten die Ausweise der Besucher und registrierten ihre Namen. Als Kyncl diesen Vorgang zu fotografieren begann, nahmen ihn die Polizisten fest und brachten ihn nachts zum Verhör – diesmal in eine Polizeidienststelle rund 90 km weit von Prag entfernt. Nach stundenlanger Befragung wurde Kyncl in der Winternacht ausgesetzt, ohne zu wissen, an welchem Ort er sich befand. Wenngleich es ihm auch diesmal gelungen war, den Film zu retten, wurde es immer schwieriger, unbemerkt von der Staatssicherheit zu den Treffen der Dissidenten zu gelangen und dort zu fotografieren.26 Zudem hatte die Staatssicherheit sein Atelier beschlagnahmt, sein Fotoarchiv konfisziert und beschädigt und ihm dieses erst wieder ausgehändigt, nachdem er sich bereit erklärt hatte, das Land zu verlassen.27

 

Altersheim in Prag, 1970er-Jahre
(Foto: Ivan Kyncl, Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen)

Neben den exemplarisch vorgestellten Fotografien aus dem Milieu der Prager Dissidenten umfasst Kyncls fotografisches Werk in geringerem Umfang auch Reportagen über soziale Randgruppen, die zwar nicht vom Staat verfolgt, aber doch aus der Gesellschaft ausgegrenzt waren. Er dokumentierte beispielsweise die Lebensumstände in Altenheimen oder porträtierte Angehörige der Roma-Minderheit in ihrem Alltag. Diese Themen waren in der Tschechoslowakei der 1970er-Jahre unter den nonkonformen Dokumentarfotografen relativ verbreitet.28 Dasselbe gilt für das Sujet der sinnentleerten Symbolik des sozialistischen Alltags. Eine Auswahl dieser Fotografien, kombiniert mit seinen dissidentischen Fotos, stellte Kyncl 1982 in einer Gemeinschaftsausstellung mit dem emigrierten ostdeutschen Fotografen Bernd Markowsky in West-Berlin vor.29

 

Parade zum 1. Mai in Prag, 1970er-Jahre
(Foto: Ivan Kyncl, Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen)

Der wohl einzige erhaltene Kommentar Kyncls zu diesen Fotografien ist eine handschriftliche Notiz auf der Rückseite eines Bildes, das er vermutlich für eine Ausstellung nach 1989 in Prag seinem Freund Oldřich Škácha zuschickte.30 Der Kommentar bezieht sich auf das hier gezeigte Foto von einer Parade zum 1. Mai in Prag-Letná in den 1970er-Jahren. Kyncl hielt eine Szene fest, bei der sich eine in Reihen formierte Gruppe von Frauen in hellen Arbeitskitteln vor einem uniformierten Mann verbeugt. Es handelt sich um die verordnete Ehrerbietung der „Arbeiterklasse“ vor den versammelten Regierungsvertretern auf der Tribüne. Kyncl notierte dazu: „Warum habe ich dieses Foto gern und gleichzeitig nicht gern? Manchen in der Emigration diente die Lektüre des ‚Rudé Právo‘ als Medizin gegen das Heimweh. Ich aber verwendete dieses Foto, und ich verwende es immer noch. Es hat keinen Titel, denn ich denke, dass jedes Wort eine Schublade bzw. eine Begrenzung darstellt. Wenn ich das Foto also beispielsweise ‚Verneigung vor dem Kommunismus‘ nennen würde, hat es eine Bedeutung in Bezug auf die Vergangenheit; wenn ich es ‚Verneigung vor dem Materialismus‘ nennen würde, bekäme es einen Sinn in der Gegenwart.“31

Anmerkungen: 

1 Ivan Kyncls spätere Arbeiten, seine Theaterfotografien, die nach der Emigration zwischen 1980 und 2004 entstanden sind, befinden sich nach wie vor im Besitz seiner Witwe in London.

2 Zur Geschichte der Bremer Forschungsstelle Osteuropa und ihres Archivs vgl. Stefan Troebst, Die ostmitteleuropäischen Oppositionsbewegungen in der westlichen Osteuropaforschung 1975–1989, in: Hans-Joachim Veen/Ulrich Mählert/Peter März (Hg.), Wechselwirkungen Ost – West. Dissidenz, Opposition und Zivilgesellschaft 1975–1989, Köln 2007, S. 173-182, hier S. 180f.

3 Vgl. Wolfgang Eichwede (Hg.), Das Archiv der Forschungsstelle Osteuropa. Bestände im Überblick: UdSSR/Russland, Polen, Tschechoslowakei, Ungarn und DDR, Stuttgart 2009.

4 Nach grober Schätzung kann von mehreren Hunderttausend Fotografien zu den Oppositionsbewegungen in Osteuropa seit den 1960er-Jahren ausgegangen werden. Sie werden in Archiven in Ost- und Westeuropa sowie in den USA aufbewahrt; viele befinden sich aber auch noch in Privatbesitz. Vgl. dazu die länderübergreifende Edition historischer Fotografien der Oppositionsbewegungen in Osteuropa: Heidrun Hamersky (Hg.), Gegenansichten. Fotografien zur politischen und kulturellen Opposition in Osteuropa 1956–1989, Berlin 2005.

5 Zur Alltagskultur der tschechischen Intellektuellen „am Rande des Dissens“ siehe die auf Zeitzeugenerinnerungen basierende ethnographische Studie von Marketa Spiritova, Hexenjagd in der Tschechoslowakei. Intellektuelle zwischen Prager Frühling und dem Ende des Kommunismus, Köln 2010.

6 Josef Moucha, Fotogenie rezistence 1939–1989 [Die Fotogenität des Widerstands 1939–1989], in: Josef Alan (Hg.), Alternativní kultura. Příbĕh české společnosti 1945–1989 [Alternative Kultur. Geschichte der tschechischen Gesellschaft 1945–1989], Praha 2001, S. 307-375, hier S. 354.

7 Interview der Autorin mit Ivan Kyncls Mutter, Jiřina Kynclová, 2007 in Prag.

8 Die Erstausgabe erschien 1983 in schwedischer Sprache, zwei Jahre später auf Englisch: Karel & Ivan Kyncl, After the Spring Came Winter, New York 1985, und schließlich auf Tschechisch: Karel a Ivan Kynclovi, Po jaru přišla zima. Aneb zamyšlení nad vlastní knížkou o Chartĕ 77 [Nach dem Frühling kam der Winter. Oder Nachdenken über das eigene Buch zur Charta 77], Praha 1990. Die tschechische Ausgabe enthält einige ergänzende Informationen, die die Autoren aus Gründen der Geheimhaltung bis 1989 nicht öffentlich preisgeben konnten. So war an einigen Fotoreportagen auch Kyncls Freund Jiří Bednář beteiligt.

9 Der folgende biographische Abriss basiert überwiegend auf Interviews, die ich im Zusammenhang meines Dissertationsprojekts über das fotografische Werk Ivan Kyncls zwischen 2007 und 2010 in Prag und London geführt habe. Des Weiteren konnte ich Dokumente aus Kyncls Nachlass in der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen (Sign. 02-42 HA-CS) mit Angaben zu seiner Ausbildung und beruflichen Laufbahn heranziehen. Zu Kyncl und seinem Werk liegen zudem zwei Ausstellungskataloge vor, die jeweils eine kleine Auswahl seiner Fotografien zeigen und ihn in knappen Einführungen vorstellen. Vgl. Czech Photo (Hg.), Ivan Kyncl – Fotograf Charty/Photographer of Charta 77, Ausstellungskatalog der J. Sudek Chamber Gallery Prague, Praha/Prague 2007, sowie Aus der Traum ? Fotografien aus Polen und der Tschechoslowakei von Bernd Markowsky und Ivan Kyncl, Katalog zur Ausstellung in der Galerie 70 in Berlin, Berlin (West) 1982.

10 Eva Kantůrková, Verbotene Bürger. Die Frauen der Charta 77, München 1982, hier S. 231f.

11 Ebd., S. 235f.

12 Kyncls Frauenporträts befinden sich nur in der im Kölner Exilverlag Index erschienenen tschechischen Originalfassung des Buches: Eva Kantůrková, Sešly jsme se v této knize, Köln 1980. Für die deutschsprachige Ausgabe von 1982 verzichtete der Verlag Langen Müller auf die Fotografien. Vgl. Kantůrková, Verbotene Bürger (Anm. 10).

13 Interview der Autorin mit Jan Kavan (Gründer und Leiter der in London tätigen Palach Press Agency), Prag 2010.

14 Ebd. und Interview der Autorin mit František Janouch (tschechischer Atomphysiker, der im schwedischen Exil die Stiftung Charta 77 gründete und mit ihrer Hilfe die Aktivitäten der tschechoslowakischen Dissidenten vom Ausland aus unterstützte), Prag 2009.

15 Kriegel hatte sich im August 1968 als einziger Vertreter der nach Moskau verschleppten tschechoslowakischen Rumpfregierung geweigert, das so genannte Moskauer Protokoll zu unterzeichnen. Es definierte im Nachhinein die Okkupation der ČSSR als legitimen Akt der Bruderhilfe und schrieb deren Status der „beschränkten Souveränität“ fest. Vgl. Jan Pauer, Prag 1968. Der Einmarsch des Warschauer Paktes, Bremen 1995, S. 322.

16 Kyncl, After the Spring (Anm. 8), S. 29ff.

17 Die Schilderung der Vorbereitung dieser Aktion findet sich noch nicht in der englischen, sondern erst in der späteren tschechischen Ausgabe: Kynclovi, Po jaru přišla zima (Anm. 8), S. 67-70.

18 Das Copyright der Fotos war mit Palach Press angegeben. Auch der „Spiegel“ nutzte 1978 eine Aufnahme aus der Observationsserie: Krageln und Kriegeln, in: Spiegel, 5.6.1978, S. 146ff., hier S. 146 (Artikel aus Anlass von Kriegels 70. Geburtstag).

19 Interview der Autorin mit Jiří Bednář, Častolovice 2007, sowie mit Zina Freundová, Prag 2009.

20 Kyncl, After the Spring (Anm. 8), S. 85ff.

21 Interview mit Bednář (Anm. 19).

22 Interview des Prager Zeithistorikers Tomáš Vilímek mit Otta Bednářová vom 26. November 2007 in Prag, das er mir freundlicherweise zur Verfügung stellte.

23 Unter den Decknamen „Kecal 2“ und „Váňa“ führte die Staatssicherheit mehrfach Observationsmaßnahmen gegen ihn durch. Vgl. Aktenbestände im Archiv der ehemaligen Staatssicherheit (Archiv bezpečnostních složek) in Prag, Vorgänge OS-00105/2-1/74 und VN-00426/1-1/80.

24 Vgl. Archiv der ehemaligen Staatssicherheit (Archiv bezpečnostních složek), Aktennummer MV-760431.

25 Vgl. ausführlich Kyncl, After the Spring (Anm. 8), S. 67ff.; dort auch Kyncls Fotografien der Polizeikontrolle im Treppenhaus.

26 Interview mit Kyncls Mutter (Anm. 7).

27 Aus der Traum? (Anm. 9), S. 98. Um welchen Teil seines Archivs es sich dabei handelt, ist unklar. Zumindest weisen – nach derzeitigem Wissensstand – die Negative in seinem Nachlass in Bremen keine Spuren von Beschädigung auf.

28 Vgl. Moravská Galerie v Brnĕ (Hg.), Třetí strana zdi/Third Side of the Wall. Photography in Czechoslovakia 1969–1988 from the Collection of the Moravian Gallery in Brno, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Moravská-Galerie, Brno 14.11.2008 – 15.1.2009. Konzeption der Ausstellung und Katalogtext von Antonín Dufek.

29 Aus der Traum? (Anm. 9). Soweit die Recherchen bislang ergeben haben, ist dieser deutschsprachige Ausstellungskatalog die einzige Publikation, in der Kyncl seine Fotoserien von den 1. Mai-Paraden veröffentlicht hat.

30 Die Fotografie befindet sich im Besitz von Ivan Kyncls Mutter Jiřina Kynclová in Prag.

31 Meine Übersetzung aus dem Tschechischen.

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