Dokumentarische Fotografie und visuelle Soziologie

Christian Borcherts „Familienporträts“ aus der DDR der 1980er-Jahre

Anmerkungen

Der ostdeutsche Fotograf Christian Borchert (1942–2000) verstand sich als „Chronist seiner Zeit“.1 Seine Serie „Familienporträts“ wurde schon vor 1989 in der DDR und in der Bundesrepublik im Kontext bildender Kunst gezeigt – trotz oder sogar wegen der sachlichen, dokumentarischen Perspektive auf die DDR-Gesellschaft.2 Mittlerweile ist Borchert unverrückbar in den kunsthistorischen Kanon eingegangen, und seine Bilder fehlen auf kaum einer Ausstellung zur Fotokunst in der DDR. Besonders 2009 fand anlässlich der 20-jährigen Jubiläen des Mauerfalls und der „friedlichen Revolution“ eine Fülle von Ausstellungseröffnungen zur DDR-Fotografie statt. Sozialdokumentarische Bilder konnten – als vermeintlich ideologiefreie „Wirklichkeitsbilder“ rezipiert – problemlos im Kunstkontext untergebracht und zugleich als aussagekräftige Quellen der Vergangenheit präsentiert werden.3 Der Interessenschwerpunkt lag dabei auf der „inoffiziellen“ Fotografie aus der DDR. Diese Tendenz hält bis heute an, und so ließ auch die 2012 eröffnete Ausstellung „Geschlossene Gesellschaft“ in der Berlinischen Galerie, wo einige der „Familienporträts“ vertreten waren, die „offiziellen Bildwelten“, den Bereich der angewandten Fotografie und der Amateurfotografie außen vor.4 Zwar bildete die sozialdokumentarische, erzählerische Fotografie, die sich ab den 1970er-Jahren als Autorenfotografie5 emanzipiert hatte, in der DDR tatsächlich den Kern der künstlerischen Fotografie, doch haben sich deren Spezifika grundlegend aus der sozialistischen Fotografieästhetik entwickelt.6 Dass zwischen „non-konform“ und „offiziell“ nicht klar zu trennen ist, lässt sich mit Christian Borcherts Familienbildern sehr gut belegen.

Ab 1979 hat Borchert in der gesamten DDR mehrere hundert Familien fotografiert, meist in ihren privaten Räumen. Die Serie ist sowohl im „Selbstauftrag“ entstanden7 als auch im „gesellschaftlichen Auftrag“ – zum Teil mit staatlichen Fördermitteln der Gesellschaft für Fotografie (GfF).8 Borchert arbeitete an der Schnittstelle zwischen Bildjournalismus und freien, künstlerischen Projekten. So war er von 1970 bis 1975 bei der „Neuen Berliner Illustrierten“ (NBI) tätig und gehörte der unter dem Dach der FDJ organisierten Gruppe „Jugendfoto Berlin“ an.9 Ab 1975, nach Beendigung seines dreijährigen Fotografie-Fernstudiums an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig (HGB), arbeitete er als freischaffender Fotograf.10 Im Folgenden werde ich das Spannungsfeld erläutern, in dem sich die „Familienporträts“ bewegen – zwischen zeithistorischem Dokument, sozialhistorischer Quelle und subjektiv-künstlerischer Aussage. Zudem werde ich der Frage nachgehen, welche Indizien sozialer Ungleichheit und welches Gesellschaftsbild sich in den Fotografien widerspiegeln.

Die „Familienporträts“ lassen sich als Dokumentarfotografie mit soziologisch-chronistischem Charakter kennzeichnen. Es ist eine auf gesellschaftliche Zustände gerichtete Fotografie, die Zeitgeschichte ins Bild bringen bzw. festhalten will, wie Borchert es selbst ausgedrückt hat: „Mich interessiert [...] Fotografie als geschichtliches Dokument. Eben was die Zeit ausmacht. Wie die Straßenbahn aussieht. Wie die Leute aussehen, welche Mode sie tragen, wie die Gesichter aussehen, welche Haarschnitte sie haben.“11 Borchert orientierte sich bei seinen Bildkonzeptionen stark an August Sander, der mit seiner groß angelegten Studie „Menschen des 20. Jahrhunderts“ ab 1925 namentlich nicht gekennzeichnete Personen in einer Klassifikation nach deren gesellschaftlicher Stellung, Berufszugehörigkeit und Lebensraum zusammengefasst hatte. Dem hatte er ein mehr oder weniger streng komponiertes Vergleichssystem unterschiedlicher Menschentypen zugrunde gelegt.12 Sander wie auch Borchert verfolgten das Ziel, über eine sachlich-konzeptuelle Fotografie ein Gesellschaftsbild zu erzeugen, das für die jeweilige Entstehungszeit „typische“ Menschen in deren „typischer“ Lebenswelt zeigen sollte. Beide hatten den Anspruch auf eine realistische Darstellung und das Dokumentieren der „historischen Wahrheit“; beide konzentrierten sich auf das Bild des Menschen und nutzten das „analytische Typisierungspotential“ der Fotografie,13 um Aufschluss über die Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeitabschnitt zu geben.14 Rudolf Stumberger bezeichnet derartige, auf das Soziale gerichtete Bilder als „Sozialfotografie“. Diese habe „im Rahmen einer visuellen Soziologie – das visuelle Abbild einer Gesellschaft […] zum Thema“.15 Damit rückt er die Fotografie in die Nähe der Wissenschaft.

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Doch obwohl es das Ziel der Dokumentarfotografie ist, die Realität möglichst detailgetreu und treffend darzustellen, kann ein sozialdokumentarisches Bild nicht als im wissenschaftlichen Sinne „objektiv“ verstanden werden. Zwar kann eine Fotografie – aufgrund des technischen Aufnahmeprozesses – die Realität direkter wiedergeben als beispielsweise ein Gemälde, doch auch im fotografischen Blick werden eine Haltung und ein Stil erkennbar.16 Die Beziehung zwischen Fotografie und Soziologie ist eine zwiespältige, bei der die Frage nach der „Echtheit“ und „Wirklichkeit“ des Abgebildeten stets eine Rolle spielt. Die Vorstellung, dass der Fotografie der Charakter des „Wahren“ und „Authentischen“ innewohne, begleitete diese von Anfang an, denn es handelt sich um ein Medium, das eine Wirklichkeit abzubilden vermag, die im Moment der Aufnahme so existierte.17 Zudem gewinnen Fotografien ihren Sinngehalt erst durch äußere Zuschreibungen, Kontextualisierungen und Verwendungszusammenhänge. Sollen Bilder zu einem historischen Erkenntnisgewinn führen, der über bloße stilistische und ästhetische Charakteristika hinausgeht, müssen Jens Jäger zufolge „die sozialen und kulturellen Bedingungen der fotografischen Produktion, Distribution und Rezeption“ einbezogen werden.18 Rudolf Stumberger bezeichnet diese „Konstitutionsbedingungen“ als „soziales Beziehungsgeflecht der Bildentstehung“.19

Die soziographische Qualität der „Familienporträts“ ergibt sich aus deren Vergleichbarkeit anhand des Faktors „Familie“ und der weitgehend einheitlichen formalen Gestaltung: Die Gruppenporträts wurden analog, in schwarz-weiß und mit Tageslicht aufgenommen.20 Die Familienmitglieder konnten selbst bestimmen, wie sie sich kleiden, an welchem Ort ihrer Wohnung und in welcher Anordnung, Mimik, Körperhaltung und Blickrichtung sie sich aufnehmen lassen wollten. Jeder Fotografie ist zusätzlich eine Bildunterschrift beigegeben, die den abgekürzten Namen der Familie, die Berufe beider Elternteile, den Ort und das Aufnahmedatum enthält. Dadurch wird die Lesart des Bildes auf den sozialen, gesellschaftlichen und lokalen Kontext erweitert. Aufgrund der beschriebenen Charakteristika wurde die populärwissenschaftliche DDR-Publikation „Ganz in Familie“ von Irene Runge mit 16 ganzseitigen Abbildungen der „Familienporträts“ versehen. Die Autorin schreibt zu den Fotografien, sie seien innerhalb des Buches „Teil des Bemühens, alltägliches Familienleben in der DDR vorzuführen“.21 Anhand von vier Bildbeispielen werde ich knapp skizzieren, wie sich über die Ikonographie der Familienbilder soziologische und zeithistorische Aussagen treffen lassen. Dazu ziehe ich zwei unterschiedliche Familienpaare heran, die in der DDR jeweils der „Arbeiterklasse“ und der „Intelligenz“ zugeordnet wurden.

 

Abb. 1: Familie B. (Stenotypistin, Bauwirtschaftler) im Wohnzimmer (Räckelwitz, Juni 1983)
(Sächsische Landesbibliothek Staats- und Universitätsbibliothek Dresden [SLUB]/Deutsche Fotothek, Christian Borchert)

Betrachten wir zunächst die Wohnungseinrichtung. Als Bildhintergrund haben auffällig viele Familien wie beispielsweise „Familie B.“ das Wohnzimmer gewählt (Abb. 1) : Das Ehepaar aus Räckelwitz (sorbische Oberlausitz) hat sich mit seinen drei Kindern vor der Holzschrankwand aufgestellt. Frau B. hält das jüngste Kind auf dem Arm; Herr B., vor dem sich die beiden anderen Kinder postiert haben, schaut als einziger an der Kamera vorbei. Die Eltern haben weder Körper- noch Blickkontakt. Da der übrige Wohnraum nicht im Bild ist, sind es vorrangig die Familienmitglieder, die den visuellen Informationsgehalt des Bildes ausmachen. So mögen deren Aufstellung, Mimik und Körperhaltung Anhaltspunkte für die innerfamiliäre Beziehung geben.

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Abb. 2: Familie F. (Heizungsmonteur, Köchin) im Wohnzimmer mit laufendem Fernsehgerät (Westfernsehen)(Stralsund, September 1983)
(SLUB/Deutsche Fotothek, Christian Borchert)

Auch „Familie F.“ (Abb. 2) hat sich im Wohnzimmer vor der Schrankwand ablichten lassen. Anders als bei „Familie B.“ ermöglicht hier die Schrankwand den Blick des Betrachters ins Innere: Zu sehen sind zahlreiche Gläser und dekoratives Geschirr. Links unten in der Schrankwand ist ein eingeschaltetes Fernsehgerät zu sehen. Rechts daneben angeordnet, bildet die Familie mit den beiden kleinen Kindern, die jeweils auf dem Schoß von Mutter und Vater sitzen, eine nach rechts oben ansteigende Diagonale. Die Gruppierung der Familie direkt neben dem Fernseher und die Bildunterschrift lassen das in der DDR unerwünschte, aber in den 1980er-Jahren weitgehend tolerierte „Westfernsehen“ zu einem Statement geraten. So verschmelzen die private und die öffentliche Sphäre miteinander. Zusätzlich dringt der Fotograf als öffentliches Auge in den sonst verschlossenen Wohnraum der Familien ein.22

 

Abb. 3: Familie E. (Ärztin, Archäologe) am Esstisch (Berlin, Mai 1985)
(SLUB/Deutsche Fotothek, Christian Borchert)

 

Abb. 3a: Acht Jahre später: Familie E. (Ärztin, Archäologe) am Esstisch (Berlin, Juli 1993)
(SLUB/Deutsche Fotothek, Christian Borchert)

Im starken Kontrast zu diesen beiden Familien steht „Familie E.“ (Abb. 3). Als „Angehörige der Intelligenz“ repräsentieren die Ärztin und der Archäologe mit ihren vier Kindern die bildungsbürgerliche Familie. Ihrem Selbstverständnis entsprechend haben sie sich vor gefüllten Bücherregalen versammelt. Hier erscheinen die Familienmitglieder als klar voneinander getrennte Individuen – Vater, Mutter und Tochter schauen in unterschiedliche Richtungen an der Kamera vorbei.

Auf ähnliche Weise unterstreicht Familie Wefelmeyer (Coverfoto dieser Ausgabe), die in der DDR ebenfalls zur „Intelligenz“ gezählt wurde, ihr berufliches Selbstverständnis. Der Komponist ließ sich mit seiner Frau – einer Ärztin, die ihm förmlich den Rücken zu stärken scheint – in seinem Arbeitszimmer am Flügel ablichten. Hier liegt der Fokus der Selbstdarstellung eindeutig auf der Profession des Mannes. Doch diese Stereotypen hinsichtlich einer vermeintlich milieuspezifischen Wohnungseinrichtung und Selbstrepräsentation treffen auf den Bildern nicht durchgängig zu, wie etwa das Porträt von „Familie T./F.“ zeigt (Abb. 4): Die Eltern haben sich mit ihren vier Kindern in einem Zimmer voller Bücher ablichten lassen. Die antiquarischen Möbel der Familie sehen nicht aus wie das typische DDR-Mobiliar – von der obligatorischen Schrankwand der Arbeiterklasse fehlt auf diesem Bild jede Spur. Anhand der Bildbeispiele wird deutlich, dass sich der Wert der „Familienporträts“ als soziologische bzw. zeithistorische Quelle anhand von (mindestens) drei Parametern ausmachen lässt: der Selbstinszenierung, der Wohnungseinrichtung und der Berufsbezeichnungen der Familienmitglieder.

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Abb. 4: Familie T./F. (Energetiker, Kantinenleiterin) in ihrer Wohnung (Dresden-Neustadt, Schlesischer Platz, Dezember 1982)
(SLUB/Deutsche Fotothek, Christian Borchert)

Die „Familienporträts“ wurden bereits in der DDR als Kunst rezipiert, weil deren Anspruch, in realistischer Weise „Typisches“ zu verbildlichen, mit den Grundsätzen der sozialistischen Ästhetik übereinstimmte. Das Theorem des „Typischen“ lässt sich innerhalb des sozialistischen Realismus als zentrales Paradigma der marxistisch-leninistischen Fotoästhetik ausmachen. Der Begriff leitet sich von einer Bemerkung Friedrich Engels’ ab, der Realismus als „die getreue Wiedergabe typischer Charaktere unter typischen Umständen“ definierte.23 Beim „Typischen“ handelt es sich laut dem „Kulturpolitischen Wörterbuch“ aus der DDR von 1970 um eine „ästhetische Kategorie der realistischen künstlerischen Verallgemeinerung“, bei der sich „eine der grundlegenden Bestimmungen aller realistischen Kunst“ auspräge: „ihr Wahrheitsgehalt, ihre Lebenswahrheit unter dem Aspekt ihrer besonderen Beziehungen zur Wirklichkeit und der künstlerisch-ästhetischen Eigenart der untrennbaren Verbindung von Besonderem und Allgemeinem, von Individuellem und Gesellschaftlichem, Zufälligem und Gesetzmäßigem usw.“24

Diese Methode findet sich als Gestaltungsprinzip auch bei Borchert wieder, der dazu 1985 in einem Interview sagte: „Für eine Ausstellung in Nigeria waren sechzehn Familienportraits ausgewählt, von denen eins eine elfköpfige sorbische Familie zeigte. So schön es ist, ich konnte das Bild dann doch verhindern, weil es eben vom Typischen hier in der DDR sehr abweicht.“25 Obwohl Borchert ein möglichst differenziertes Bild der DDR-Gesellschaft erzeugen wollte, machte er deutlich, dass er mit seiner „Studie“ zugleich eine These belegen wollte, die etwa so lauten könnte: Die typische Familie in der DDR besteht aus Vater, Mutter und noch relativ jungen Kindern. Eltern sind verheiratet und gehen beide einer Berufstätigkeit nach. Auf den Bildern, die vor und nach dem Ende der DDR in Ausstellungen präsentiert sowie in Büchern und Zeitschriften publiziert wurden, sind keine alleinerziehenden Mütter oder Väter, gleichgeschlechtliche oder kinderlose Paare oder ausländische Familien zu sehen. Die „typische“ DDR-Familie könnte nach damaligem Verständnis von „Familie B.“, „Familie F.“ und „Familie T./F.“ repräsentiert werden, denn die Familienmitglieder waren „Angehörige der Arbeiterklasse“ und gehörten somit zu den knapp 90 Prozent der Arbeiter/innen in der DDR-Gesellschaft der 1980er-Jahre.26 Die „Arbeiterklasse“ sollte laut offizieller Sicht im Zentrum der sozialistischen Gesellschaft und des Staates stehen. Sie wurde als „machtausübende Klasse“ definiert und propagiert.27 Erklärtes Ziel war es, die Unterschiede zwischen Arbeitern, Bauern und Intellektuellen aufzuheben und eine klassenlose Gesellschaft zu erreichen.

So wurde die „Arbeiterklasse“ auch in den Mittelpunkt der Bildwelten gerückt. Dies resultierte aus der generellen Aufgabe, die der Kunst in der DDR zugedacht war: die Menschen im Sinn e des Sozialismus zu „allseitig gebildeten Persönlichkeiten“ zu erziehen. Für die Fotografie in der DDR ist kennzeichnend, dass sich das Bild der Arbeit seit den 1970er-Jahren von einem affirmativen zu einem kritischen entwickelte.28 Dies weist darauf hin, dass die Kunstdoktrin und vor allem die Kunstpraxis der DDR kein starres Gebilde war, sondern sich parallel zum politischen und wirtschaftlichen Wandel beständig veränderte, wobei sich der Bildbegriff nach und nach liberalisierte. In den letzten beiden Jahrzehnten der DDR wurden „individuellere“ und „menschlichere“ Darstellungen von Arbeitern in „entheroisierter“ Gestalt offiziell zugelassen. Borchert schrieb mit den „Familienporträts“ das traditionelle Motiv des Arbeiters in der DDR zwar fort, fächerte es jedoch auf, indem er den Fokus auf den Privatraum der DDR-Bevölkerung verschob. Damit bezog er sich, wie in der sozialdokumentarischen Fotografie in der DDR damals üblich, nicht nur auf die „Arbeiterklasse“, sondern auf alle Schichten und Berufszweige. Die soziale Zuordnung der Familien erfolgte bei Borchert nicht über die Attribute des Arbeitslebens, denn sofern sie nicht zu Hause arbeiteten, waren die Porträtierten ihrer „Produktionsstätte“ entrückt. Der berufliche und soziale Status spiegelt sich in der Wohnungseinrichtung, Kleidung, Pose usw. wider, wobei sich der Privatraum dem Betrachter als eigenständige Sphäre öffnet. Entgegen dem Postulat einer Annäherung der Klassen zeigt sich in der Gesamtheit der Familienbilder eine ausdifferenzierte DDR-Gesellschaft. Mit der Konzentration auf den Lebensraum der traditionellen Kleinfamilie setzt Borchert einen deutlichen Akzent auf das Privat- und Familienleben. Besser als viele schriftliche Quellen dokumentieren die Porträts die Persistenz sozialmoralischer Milieus und ihrer habituellen ‚Marker‘ im privaten Raum.

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Die Porträts lassen deutliche Ungleichheiten und Unterschiede im Bildungsniveau und Sozialstatus der Familien erkennen. Dies widerspricht nicht nur der offiziellen Selbstsicht der DDR, sondern auch der These Wolfgang Englers von 1999, der in der sozialistischen Gesellschaft retrospektiv eine weitgehende „arbeiterliche“ Gleichheit der Individuen zu erkennen meinte.29 Mit seinen „Familienporträts“ hat Christian Borchert Momentaufnahmen der Sozialstruktur in der DDR der 1980er-Jahre erzeugt. Die Fotos sind nicht als eindeutige Abgrenzungsstrategie gegenüber den „offiziellen Bildwelten“ zu werten, sondern als Resultat einer Fotografieentwicklung, die sich aus der wirtschaftlichen und politischen Gesamtsituation der DDR ergeben hat.

Anmerkungen: 

1 Cornelia Brink, „Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten“. Photographie, Geschichte, Gedächtnis, in: Wolfgang Hesse/Katja Schumann (Hg.), Mensch! Photographien aus Dresdner Sammlungen, Marburg 2006, S. 46-56, hier S. 46.

2 Die Serie war in Teilen bei repräsentativen Ausstellungen der DDR zu sehen, z.B. bei „KONZEPT AUFTRAG FOTOGRAFIE. Eine Ausstellung aus Auftragsarbeiten der Gesellschaft für Fotografie im Kulturbund der DDR“ (1988/89).

3 Folgende größere Ausstellungen zur Fotografie in der DDR wurden 2009 unter anderem eröffnet: „EAST_for the record“ in der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, „Die andere Leipziger Schule“ in Erfurt, „Übergangsgesellschaft. Porträts und Szenen 1980-90“ in Berlin, „Mit Abstand ganz nah – Fotografie aus Leipzig“ in Ratingen, „Ostzeit. Geschichten aus einem vergangenen Land“ in Berlin, „Kunst und Kalter Krieg“ in Los Angeles und Berlin, „Voller Leben“ in Cottbus, „‚Denk ich an Deutschland... . Positionen ostdeutscher Fotografie aus der DZ BANK Kunstsammlung“ in Frankfurt am Main.

4 Berlinische Galerie (Hg.), Geschlossene Gesellschaft. Künstlerische Fotografie in der DDR 1949–1989, Bielefeld 2012 (Ausstellung in der Berlinischen Galerie, 5.10.2012 – 28.1.2013).

5 Der Begriff „Autorenfotografie“ wurde Ende der 1970er-Jahre von Klaus Honnef (im Westen) geprägt. Autorenfotografie ist nach Honnef eine seriell angelegte, dokumentarische Fotografie, die nicht an den Zweck einer Vermarktung gebunden ist und keinen Auftraggeber hat. Vgl. Klaus Honnef, Es kommt der Autorenfotograf. Materialien und Gedanken zu einer neuen Ansicht über die Fotografie, in: ders./Wilhelm Schürmann (Hg.), In Deutschland. Aspekte gegenwärtiger Dokumentarfotografie, Köln 1979, S. 8-32. Der Begriff wurde seit den 1970er-Jahren unabhängig von Honnef parallel auch in der DDR gebraucht. Dort war damit die „Berufsfotografie“ in Abgrenzung zur Amateurfotografie gemeint.

6 Vgl. auch Agneta Jilek, Stadt. Name. Land. Die sozialdokumentarische Fotografie der 1970er und 80er Jahre in der DDR, unveröff. Magisterarbeit am Institut für Kunstgeschichte der Universität Leipzig 2010.

7 Damit ist die Bearbeitung eines künstlerischen Projekts unter Verzicht auf einen Auftraggeber und auf Publizierbarkeit gemeint. Dies war möglich durch die Mitgliedschaft im Verband Bildender Künstler (VBK) und die niedrigen Lebenshaltungskosten in der DDR.

8 Die meisten Porträts sind 1983 und 1984 entstanden; dies war die Förderzeit der GfF. Auch nach 1989 hat Borchert weiter an der Serie gearbeitet und bis 1994 einige der Familien erneut aufgesucht, um als Vergleichsfolie zur DDR ein zweites Bild von ihnen im Deutschland der Nachwendezeit zu machen.

9 Die Fotogruppe existierte von 1969 bis 1979 und setzte sich hauptsächlich aus Bildjournalisten zusammen.

10 Berlinische Galerie, Geschlossene Gesellschaft (Anm. 4) , S. 67.

11 Christian Borchert im Interview mit Gosbert Adler am 4. Juni 1985, in: Gosbert Adler/Wilmar Koenig (Hg.), DDR-Foto, Berlin (West) 1985, S. 42. Milieustudien im privaten Umfeld wurden verstärkt seit den 1970er-Jahren auch von anderen Fotografen in der DDR und der Bundesrepublik produziert. Die DDR-Fotografin Margit Emmrich hat DDR-Bürger ebenfalls in ihren Wohnungen porträtiert. Im Unterschied zu Borchert begrenzte Emmrich die aufgenommenen Personen nicht auf bestimmte Parameter. Sie fotografierte auch junge, kinderlose Paare, Singles, Witwen und Alleinerziehende. Fast zeitgleich zu Emmrichs Wohnzimmertableaus publizierte Herlinde Koelbl in der Bundesrepublik den Band „Das deutsche Wohnzimmer“ (München 1980). Sie versuchte bildlich zu belegen, wie sich der soziale Status der Menschen in der Einrichtung ihrer Wohnung widerspiegele.

12 Vgl. etwa Gabriele Conrath-Scholl/Susanne Lange, „Einen Spiegel der Zeit schaffen“. August Sanders „Menschen des 20. Jahrhunderts“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 1 (2004), S. 271-278. Neben Sander bemühten sich auch andere deutsche Fotografen in den 1920er- und 1930er-Jahren um ein möglichst realistisches Abbild breiterer Gesellschaftsschichten und sozialer Typen. Dazu gehörten zum Beispiel die Fotoserien „Antlitz des Alters“ von Erich Retzlaff (1930), „Köpfe des Alltags“ von Helmar Lerski (1931) und „Das deutsche Volksgesicht“ von Erna Lendvai-Dirksen (1932).

13 Sybilla Tinapp, Visuelle Soziologie – Eine fotografische Ethnografie zu Veränderungen im kubanischen Alltagsleben, Diss. Universität Konstanz 2005.

14 Katharina Röhl, Gesicht – Geschichte – Gegenwart. Das Porträtwerk August Sanders als Impuls für die ostdeutsche Fotografie, in: Fotogeschichte 102 (2006), S. 15-24, hier S. 15.

15 Rudolf Stumberger, Klassen-Bilder II. Sozialdokumentarische Fotografie 1945–2000, Konstanz 2010, S. 12.

16 Vgl. Klaus Honnef, Das subjektive Moment in der Dokumentar-Fotografie. Materialien und Gedanken zu einer neuen Ansicht über Fotografie, in: Kunstforum International 41 (1980), S. 210-229, hier S. 213f.

17 Vgl. etwa Jörn Glasenapp, Die deutsche Nachkriegsfotografie. Eine Mentalitätsgeschichte in Bildern, Paderborn 2008, S. 28ff.

18 Jens Jäger, Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die historische Bildforschung, Tübingen 2000, S. 76.

19 Rudolf Stumberger, Klassen-Bilder. Sozialdokumentarische Fotografie 1900–1945, Konstanz 2007, S. 160.

20 Teilweise gibt es auch Abweichungen von diesem Schema. Sämtliche Porträts aus Borcherts Serie sind einsehbar in der Bilddatenbank der Deutschen Fotothek Dresden: http://www.slub-dresden.de/sammlungen/deutsche-fotothek/fotografen/borchert/

21 Irene Runge, Ganz in Familie. Gedanken zu einem vieldiskutierten Thema, Berlin (Ost) 1985, 2. Aufl. 1987, S. 16.

22 Vgl. Marcel Raabe, „Der Bildschirm speit Welt in die Stube“. Zum Verhältnis von „Innen“ und „Außen“ in Christian Borcherts Familienportraits, in: Hesse/Schumann, Mensch! (Anm. 1), S. 142ff.

23 Zit. in: Astrid Ihle, Fotografie als Zeitdokument. Anmerkungen zu Konzeptionen des Dokumentarischen in Deutschland nach 1945, in: Stephanie Barron/Sabine Eckmann (Hg.), Kunst und Kalter Krieg. Deutsche Positionen 1945-89, Köln 2009, S. 186-205, hier S. 196, Anm. 33.

24 Art. „Typisches“, in: Kulturpolitisches Wörterbuch, Berlin (Ost) 1970, S. 520.

25 Wie Anm. 11.

26 Nach offiziellen Angaben umfasste im Jahr 1980 die „Arbeiterklasse“ (einschließlich der Angestellten) 89,4 Prozent der Berufstätigen der DDR. Vgl. Arnd Bauerkämper, Die Sozialgeschichte der DDR, München 2005, S. 27.

27 Art. „Arbeiterklasse“, in: Kulturpolitisches Wörterbuch (Anm. 24), S. 35.

28 Vgl. dazu auch Agneta Jilek, Arbeit im Bild. Die Repräsentation von Arbeit in der künstlerischen Auftragsfotografie der 1970er und 80er Jahre in der DDR, in: Torsten Erdbrügger/Ilse Nagelschmidt/Inga Probst (Hg.), Omnia vincit labor? Narrative der Arbeit – Arbeitskulturen in medialer Reflexion, Berlin 2013, S. 375-394.

29 Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin 1999, S. 211.

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