Mit Nazis reden?

Theodor Heuss’ Blick auf »Hitlers Weg« (1932)

Die Ausstellung »Angezettelt« im Deutschen Historischen Museum, 2016  (Foto: © Michael Hughes)
Theodor Heuss, Hitlers Weg.
Eine historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus,
Stuttgart: Union Deutsche Verlagsgesellschaft 1932;
Tübingen: Wunderlich 1968; Hildesheim: Olms 2008.
Das Coverfoto der Ausgabe von 1932 stammt vom Fotoverlag Heinrich Hoffmann, München, vermutlich von Hoffmann selbst.
Die im Text angegebenen Seitenzahlen der Zitate folgen der Erstausgabe.

Anmerkungen

Der erste Bundespräsident Theodor Heuss (1884–1963) gab und gibt nur selten Anlass zu Debatten. Wenn er im Fokus einer kritischen Öffentlichkeit steht, dann meistens wegen seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vor und nach 1945. Insbesondere seine Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933 im Reichstag sorgte zeit seines Lebens und darüber hinaus für Kontroversen.1 Aber auch eines seiner erfolgreichsten Bücher brachte ihn immer wieder unter Rechtfertigungsdruck. So hatte ein Verteidiger im Ulmer Einsatzgruppen-Prozess 1958 die Strategie verfolgt, die Angeklagten unter Verweis auf Heuss’ Studie »Hitlers Weg« zu entlasten.2 Nach seinem Tod lobten manche Historiker den sachlichen Ton und die Hellsichtigkeit dieser Schrift.3 Horst Möller hingegen wandte 1990 ein, dass Heuss im Kosmos seines bildungsbürgerlichen Denkens die Nationalsozialisten wie politische Gegner, nicht wie politische Feinde behandelt habe, welche die parlamentarische Bühne für die öffentliche Auseinandersetzung abschaffen und ihre Widersacher vernichten wollten.4 Andere kritisierten Fehleinschätzungen5 oder sahen im Buch gar »eine Stimme für Hitler«.6

Als Heuss seine Studie 1931 verfasste, befand er sich in einer außerordentlich bewegten Lebensphase. In der Weimarer Republik war er auf so vielen Feldern aktiv wie später nicht mehr: als Journalist und Publizist, als Studienleiter und Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik, als Verbandsfunktionär, als liberaler Politiker und Abgeordneter der DDP sowie als umtriebiger Redner im gesamten Reichsgebiet. So hielt der Reichstagsabgeordnete im Februar 1931 in Tübingen eine Ansprache, in der er sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzte, der seit dem Wahlsieg der NSDAP in den Septemberwahlen des Vorjahres ein gewichtiger Faktor in der politischen Landschaft war.7 Angeregt von der Stuttgarter Union Deutsche Verlagsgesellschaft arbeitete Heuss im Herbst 1931 innerhalb weniger Wochen das Vortragsmanuskript zu einem Buch aus, das Anfang 1932 unter dem Titel »Hitlers Weg« erschien.8

1932 erschienene Übersetzungen: »Hitlers Weg« auf Schwedisch, Niederländisch und Italienisch
1932 erschienene Übersetzungen: »Hitlers Weg«
auf Schwedisch, Niederländisch und Italienisch

Dieses Buch gehörte zu den erfolgreichsten Publikationen von Heuss vor 1945. In den ersten drei Monaten druckte der Verlag acht Auflagen, wobei sich die Auflagenhöhe nicht mehr rekonstruieren lässt. Zudem wurde die Schrift im selben Jahr noch ins Schwedische, Niederländische und ins Italienische übersetzt, die letztere Ausgabe dabei deutlich überarbeitet. Im Frühjahr 1933 geriet die Studie im Rahmen der »Aktion wider den undeutschen Geist« der Deutschen Studentenschaft auf die »Schwarze Liste«, wurde aus öffentlichen Bibliotheken entfernt, an sogenannte Schandpfähle geheftet und fiel damit vermutlich auch den Bücherverbrennungen zum Opfer. Nach 1945 lehnte Heuss einen Neudruck ab, weil er, der sich aufgrund seiner wohlbürgerlichen Erziehung »so viel sinnlose und dumme Brutalität« nicht vorstellen konnte, mit seinem Buch falsch gelegen habe.9 Nach seinem Tod entschied sich das Theodor-Heuss-Archiv im Einklang mit der Familie zu einer Neuausgabe, die Eberhard Jäckel 1968 mit einer ausführlichen Einleitung und einem umfangreichen Kommentar versah. Die Entscheidung für den Nachdruck begründete der NS-Forscher damit, dass er zeigen wolle, dass es auch am Ende der Weimarer Republik eine »Stimme der Vernunft« gegeben habe, die sachlich gegen den Nationalsozialismus argumentierte.10 Ein weiteres und bis heute letztes Mal wurde »Hitlers Weg« 2008 in der »Bibliothek Verbrannter Bücher« herausgegeben.11

Hatte Heuss in den 1920er-Jahren den Nationalsozialismus noch als flüchtiges Übergangsphänomen charakterisiert,12 setzte er sich seit dem Wahlkampfjahr 1930 mit dieser erfolgreichen Massenbewegung intensiver auseinander. Zwar zügig als Gelegenheitsarbeit verfasst, griff Heuss für »Hitlers Weg« auf Literatur wie »Mein Kampf«, NS-Programmschriften und -publizistik, einschlägige Veröffentlichungen von Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg oder Gottfried Feder sowie auf frühe Hitler-Biographien und Darstellungen zum Nationalsozialismus zurück.13 So entstand, anders als der Titel nahelegt, keine Hitler-Biographie, sondern ein Buch, das sich in elf Kapiteln mit Ursprung, Ideologie, Programmatik sowie Machttechniken des Nationalsozialismus auseinandersetzte und dabei die besondere Bedeutung Hitlers hervorhob. Trotz der aufgeheizten Situation, in der die Studie entstand, bemühte sich Heuss um einen sachlichen Ton, den er bisweilen mit Ironie und Spott würzte. Er war sich der Unsicherheit seiner Analyse eines aktuellen Phänomens bewusst, das schwer zu greifen war, weil es »in Bewegung ist und dem Gesetz des Wandels […] selber unterworfen« sei (S. 168). Das Fluide und Widersprüchliche der Hitler-Bewegung erklärt auch ein Stück weit Heuss’ Schwanken im Urteil zwischen Abneigung und Verständnis, Verharmlosung und Warnung, Kritik und bisweilen unterschwelliger Bewunderung. Manche Einschätzungen erscheinen verfehlt, andere wiederum hellsichtig, einige werden sogar in der gegenwärtigen Geschichtsforschung wieder diskutiert. Dazu seien ein paar Beispiele genannt.

Eine deutliche Position vertrat Heuss gegen die nationalsozialistische Rassen­ideologie und den Antisemitismus. Abgestoßen war er insbesondere von der Darstellung der Juden in Hitlers »Mein Kampf«, die »verzerrt und kenntnislos« und »in der Tonlage subaltern und brutal« sei (S. 40f.). Die Schändung jüdischer Friedhöfe »beschmutzt uns alle. Wir tragen einen Fleck in uns herum, seit in Deutschland solches, feig und ehrfurchtslos, möglich wurde.« (S. 42) Heuss fokussierte vor allem die Scham aller Deutschen gegenüber antisemitischen Ausschreitungen,14 schloss aber manche jüdische Deutsche von dieser Anteilnahme offenbar aus. Bei ihnen dürfte Heuss an das von ihm kurze Zeit später so apostrophierte »entwurzelte jüdische Literatentum«15 gedacht haben, gegenüber dem auch er nicht frei von antisemitischen Vorbehalten war.16 In Verkennung der bedrohlichen Situation empfahl Heuss den Juden bei der Abwehr der nationalsozialistischen Hetze, sich nicht »mit gegenbeweisender Empfindlichkeit« auf dieses polemische Niveau einzulassen, wo »Kühle und Schweigen wirksamer« seien (S. 39). Dem beabsichtigten Entzug der Staatsbürgerrechte und der Ausweisung von jüdischen Deutschen, um die »Judenfrage« zu »lösen«, begegnete Heuss weniger mit grundsätzlichen Bedenken. Primär hatte er die Konsequenzen einer solchen nationalsozialistischen Politik gegen die Juden für die deutschen Minderheiten in Osteuropa im Blick, denen dann die Aberkennung ihrer staatsbürgerlichen Rechte drohen würde und deren Interessenvertreter Heuss im Bund der Auslandsdeutschen war. So sei »die ›bluthafte‹ nationalsozialistische Staatstheorie für die Deutschen, als Volkstum begriffen, gefährlicher und zerstörender […] als für die Juden« (S. 46).

Hitler habe, so Heuss weiter, zunächst die Frage der Staatsform bagatellisiert, weil bei ihm die Idee des Volkstums alles überwölbe. Antiparlamentarisch und antidemokratisch zugleich verachte er das Zustandekommen einer Mehrheit und setze stattdessen auf den Willen und die Tatkraft eines Einzelnen oder einer Gruppe zur Machteroberung. Dennoch könne Hitler als »Verächter der Masse […] ohne die Masse nicht sein«, sondern benötige sie als plebiszitäre Akklamationsinstanz, »um zu sich selbst zu kommen« (S. 61). Vor allem propagiere er seit Beginn der 1930er-Jahre das Mehrheitsprinzip als Instrument der Machtübernahme. Heuss bewunderte diesen konsequenten Machtgedanken Hitlers, »dem der Gedanke an Harmonie eines natürlichen Ausgleichs geschichtsfälschende Sentimentalität bedeutet. […] Die Klarheit, mit der dieser [Machtgedanke] herausgestellt wird, kann nur sympathisch sein.« (S. 59) Heuss’ Demokratieverständnis, das den Staat, die Herrschaft, Autorität und das demokratische Führertum ins Zentrum rückte und dem auch viele seiner links­liberalen Parteifreunde anhingen,17 verstellte ihm ein Stück weit den Blick auf die systemsprengenden Konsequenzen der nationalsozialistischen Machtstrategie. Wenn er aber auf der anderen Seite die Distanz Hitlers und der Nationalsozialisten zu etablierten Verwaltungsstrukturen ansprach und die Überhöhung »der Idee des Volkes und des Volkstums« sowie des Dezisionismus Einzelner akzentuierte (S. 46), dann finden sich hier durchaus Anknüpfungspunkte zur jüngeren Geschichts­forschung, welche die Frage nach einer »Neuen Staatlichkeit« im Nationalsozialismus diskutiert.18

Heuss erkannte ferner den Schwebezustand der NS-Bewegung zwischen Revolutionsrhetorik und Systemakzeptanz und ordnete deren Legalitätstaktik treffend ein: »Der Verhöhner der Demokratie unterwirft sich, schwörend, deren Technik und Idee. Indem er das tut, suggeriert er seiner Gefolgschaft: es handelt sich hier nicht um einen Wandel des Glaubens, sondern um das Einschalten einer Periode der Anpassung, um Zeitgewinn, um etwas Geduld.« (S. 138) Zugleich gewinnt der Leser der Studie den Eindruck, dass Heuss für Hitler und einen Teil seiner Gefolgschaft eine Integration in das liberal-demokratische System nicht prinzipiell ausschloss. Bei Hitler, dem »Selfmademan« (S. 149), diagnostizierte er einen Prozess der Verbürgerlichung, und bei der NSDAP sah er trotz ihres dezidierten Antiparlamentarismus grundsätzlich die Möglichkeit, dass »die Logik des Parlaments beginnt, wenn auch unter Kampf und Krampf, ihre Widersacher an sich zu zwingen« (S. 72). Dass Heuss die Integrationsfähigkeit des Nationalsozialismus in das parlamentarische System eklatant überschätzt hat, ist offensichtlich, doch auch nachvollziehbar aus seiner Arbeit als Abgeordneter eines Reichstages, der bis Ende der 1920er-Jahre extreme Gegensätze durch Regeln und Verfahren einzuhegen vermochte.19

In der hocheffizienten Organisation der »Führerpartei« NSDAP sah Heuss außerdem eine Form »moderne[r] Vasallität« (S. 121), die er in ihrer Widersprüchlichkeit im Neologismus »bürokratisierte Romantik« (S. 118) zusammenfasste. Den Erfolg der Bewegung rechnete er aber vor allem der durchkalkulierten Propagandatechnik Hitlers zu, »seinem wachen Gefühl für das Unterbewußte im Menschen« (S. 132), mit dem er in Massenversammlungen und -aufmärschen eine integrierende Wirkung erziele. Mitunter deutete Heuss dabei selbst eine gewisse Faszination für die Fähigkeiten Hitlers an: »Die Natur hat ihn [d.h. Hitler] mit einem glücklichen Temperament ausgestattet, so daß er gar nicht spürt, daß er selber immerzu in die Sünde des bloßen Ressentiments fällt. Das rationalistische Machtkalkül und die Hemmungslosigkeit des Gefühls stehen unvermittelt nebeneinander. Man mag darin ursprüngliche, frisch erhaltene Naivität erkennen.« (S. 103) Hier finden sich bereits mehrere Aspekte, welche die Geschichtswissenschaft später intensiv beschäftigten. So hat die Zeitgeschichtsforschung sorgfältig die Attraktion herausgearbeitet, die vom Nationalsozialismus durch Inszenierungen, Symbole und die »Apotheose des Instinkts« (S. 162) ausging.20 Und wenn Heuss die Wechselwirkung zwischen den außergewöhnlichen Fähigkeiten des »Führers« und den Heilserwartungen seiner Gefolgschaft beobachtete und feststellte: »Aber er braucht das Volk, möglichst entindividualisiert, in der tausendfachen Nachbarschaftssuggestion der großen Versammlung, um sich in dieser Begegnung selber zu bestätigen« (S. 131), dann nahm er bereits Forschungsansätze vorweg, die den Aufstieg Hitlers mit Max Webers idealtypischer Kategorie der »charismatischen Herrschaft« deuten.21 Und schließlich erkannte Heuss in der Janusköpfigkeit des Nationalsozialismus und der Persönlichkeit Hitlers die Anzeichen einer »Ambivalenz der Moderne«, die in der Spannung zwischen technischem Machbarkeitswahn und archaischem Gefolgschaftswesen, zwischen kalkulierter Machtpolitik und »Gefühlsekstase« (S. 131) liege und eine »andere« Moderne verkörpere.22

Zeit seines Lebens bewegte sich Heuss’ politisches Denken in geschichtlichen Bahnen; davon war auch »Hitlers Weg« geprägt. Bereits nach wenigen Seiten stellte Heuss August Bebels Schrift »Die Frau und der Sozialismus« (1879) neben »Mein Kampf«: Beide Bücher seien in der Festungshaft verfasst worden, hätten eine integrierende Wirkung bei der jeweiligen Anhängerschaft entfaltet und durch ihren Erfolg den Verfassern wirtschaftliche Unabhängigkeit gesichert. An anderer Stelle, wenn sich Heuss mit der nationalsozialistischen Legalitätstaktik auseinandersetzte, sah er Hitlers frühen Ausgangspunkt beim Anarchisten Bakunin, hingegen dessen gegenwärtigen politischen Ort beim »alten Bebel – natürlich nur in diesem Grundsätz­lichen der Haltung zu einem Staate, dessen ›System‹ abgelehnt wird« (S. 138). Bei Bebel fand er also einen Fingerzeig, dass auch Hitler sich der parlamentarischen Demokratie annähern könnte. Und schließlich zog Heuss Parallelen zu Ferdinand Lassalle, wenn er diesen als »Erfinder der präsidentiellen Personalpartei« (S. 115f.) mit diktatorischen Vollmachten zu einem Vorgänger der nationalsozialistischen »Führerpartei« erklärte. Ein solches Analogiedenken hat spätere Heuss-Biographen irritiert, da es zu einer Verkennung der prinzipiellen Andersartigkeit der NS-Massenbewegung verleitet habe.23

Diese Einschätzungen vor Augen, wird eines deutlich: Eine Kampfschrift gegen den Nationalsozialismus sollte und konnte »Hitlers Weg« nicht werden; dafür schrieb Heuss zu sachlich, vernunftgeleitet und abgewogen, manchmal auch unentschieden, verständnisvoll oder staunend angesichts der Erfolge der NS-Bewegung. Kritik und Polemik klangen nur selten an, und dann meist ironisch gebrochen. Seine Nüchternheit zeichnete den Autor Anfang 1932 immerhin gegenüber der Flut an polemischen Publikationen über den Nationalsozialismus und Hitler aus, die seit den Wahlerfolgen der NSDAP das steigende Interesse des Buchmarktes bedienten.24 Dies hoben auch die Rezensenten der Studie hervor, die in der sachkundigen Objektivität gerade die Stärke oder Schwäche des Buches sahen. Die einen lobten, dass Heuss ein vornehmer und verständnisvoller, zugleich schonungsloser Gegner Hitlers sei,25 der den Nationalsozialismus historisch einordne und sachlich darstelle,26 sich nicht zur Schwarz-Weiß-Malerei oder einem anklagenden Gestus verleiten lasse und ein »einfühlendes Verständnis für die Verwirrung und Not unserer Zeit« zeige.27 Dieser »Bädeker durch den Nationalsozialismus«28 gehöre »zum Besten und Gründlichsten, was man bisher über die Bewegung zu lesen bekommen hat«.29

Andere hingegen monierten, dass gerade der sachliche Ansatz des Buches die Formulierung einer klaren Gegenposition zum Nationalsozialismus verhindere und diesem zu viel Verständnis entgegenbringe. Die intellektuelle Auseinandersetzung könne dieses primitive und instinktgeleitete Phänomen letztlich nicht völlig begreifen.30 Bei aller sprachlichen Brillanz der Studie habe der Nationalsozialismus selten »eine so leidenschaftslose, fast möchte man sagen: so lebensfern gedankliche Erörterung« erfahren.31 Und das Organ des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens kritisierte, dass Heuss – aller Aufklärungsabsicht zum Trotz – durch seine zurückhaltende Darstellungsform letztlich zu einer Anerkennung des »gesunden Kerns« der NS-Bewegung beitrage. Und zu Heuss’ Kritik an den Abwehrmaßnahmen der jüdischen Verbände bemerkte das Blatt: Die Juden seien »nur deshalb heute in der von ihm als peinlich empfundenen Notwendigkeit der Abwehr […], weil auch die Nichtjuden zu lange eben diese so vornehme ›Kühle oder Schweigen‹ bewahrt haben«.32

Nationalsozialistische Blätter hingegen schenkten »Hitlers Weg« keine Aufmerksamkeit. Doch bezeichnenderweise konnte selbst Joseph Goebbels dem Buch etwas abgewinnen, wenn er in einem Tagebucheintrag vom 25. Januar 1932 vermerkte: »Nicht ganz dumm. Weiß sehr viel von uns. Nutzt das etwas gemein aus. Aber immerhin eine Kritik, die sich sehen lassen kann.«33 Heuss’ abgewogene Analyse bot also auch ein Einfallstor für die Anerkennung durch den politischen Gegner.

»Hitlers Weg« ist ein Buch, das in seiner Zeitgebundenheit gelesen werden muss. Eberhard Jäckel empfahl, die Schrift nicht als »historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus« zu betrachten, sondern als Quelle, die uns Einblicke liefert in die zeitgenössische Wahrnehmung des Nationalsozialismus und in den Zustand Deutschlands am Ende der Weimarer Republik.34 In dieser Perspektive sind dann auch die Irrtümer und Unterschätzungen aufschlussreich, denen Heuss und andere Republikanhänger unterlagen und die noch über die Phase der Machtübertragung und »Gleichschaltung« hinaus fortwirkten. Doch ebenso ist »Hitlers Weg« eine Quelle, die durch ihre mitunter kritische Diagnose Auskunft gibt über das Resilienzpotential im bürgerlich-liberalen Lager. Der Historiker Werner Treß sieht die Intention und den Wert der Schrift vor allem als »öffentlichen Appell an die politische Vernunft sowie an den zivilen Freiheitswillen der Bürger«, weniger als »politisch durchgreifende Intervention« gegen den Nationalsozialismus.35 Diese Einschätzung mag zutreffend sein, berücksichtigt aber nicht die Grauzonen und Ambivalenzen im Buch, die partiell Schnittmengen mit dem »offenen Weltanschauungsfeld« (Lutz Raphael) des Nationalsozialismus erkennen lassen und dem Liberalismus überhaupt schon früh zu eigen waren.36 Letztlich ist »Hitlers Weg« auch Ausdruck dafür, dass Liberale in der Weimarer Republik keine adäquate Einschätzung und wirksame politische Strategie zur Abwehr des Nationalsozialismus fanden,37 weil diese neuartige Bewegung außerhalb ihrer bürgerlichen Rationalitätsstandards und Erziehungsmaßstäbe lag, wie Heuss selbst später einräumte.38

Wenn wir »Hitlers Weg« heute neu lesen, können wir daraus etwas lernen für die Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Aufstieg einer populistischen Rechten? Inhaltlich bietet Heuss kaum einen Ansatz dafür, ist seine Arbeit doch zu konkret auf die einmalige historische Situation am Ende der Weimarer Republik bezogen, als dass wir daraus Rückschlüsse für die Gegenwart ziehen könnten. Auffällig ist, dass Liberale auch nach 1945 immer noch eine gewisse Orientierungs- und Sorglosigkeit im Umgang mit einer nationalistischen Rechten an den Tag legen. Dies zeigen die Vergangenheitspolitik der FDP in der Frühphase der Bundesrepublik, von der sich Heuss klar distanzierte,39 und neuerdings die Wahl des FDP-Fraktionsvorsitzenden im Thüringer Landtag, Thomas Kemmerich, zum kurzzeitigen Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD.40

Auf einer anderen Ebene liegt freilich der sachliche Zugang von »Hitlers Weg« zum Nationalsozialismus, der dessen Anhänger nicht a priori vom Diskurs ausschloss. Wenn Heuss um Objektivität bemüht war und dabei auch Verständnis für einige Aspekte der NS-Bewegung erkennen ließ, dann wollte er, so die These Joachim Radkaus, eine Verständigungsbasis für denjenigen Personenkreis schaffen, der mit dem Nationalsozialismus zwar sympathisierte, aber für die Weimarer Republik noch nicht ganz verloren war.41 Heuss wollte gewissermaßen auch mit Nazis reden. Damit würde die Intention von »Hitlers Weg« an einen »Leitfaden« erinnern, der vor wenigen Jahren erschien: Statt mit Empörungsgesten einen Ausgrenzungsdiskurs zu pflegen, solle man »mit Rechten reden«, sich auf deren Argumente einlassen, sie verstehen und gegebenenfalls entkräften.42 Wo heute im Zeichen der Populismusdebatte oftmals Alarmismus und Endzeitperspektiven über den »Zerfall der Demokratie« oder über deren »Sterben« herrschen,43 ist vielleicht ein Zugriff nötig, der nicht zu ausschließenden Polarisierungen neigt, sondern den politischen Gegner in den Diskursraum zurückholt. Für diesen diskursiven Umgang mag in einer offenen Gesellschaft einiges sprechen, um nicht denselben Fehler einer moralischen Ächtung zu begehen wie die Populisten.44 Aber es wird riskant für die liberale Ordnung, wenn dabei Annäherung an und Sympathie für die politische Rechte die Grundsätze freiheitlicher Demokratie infrage stellen. Dieser Gefahr konnte auch Theodor Heuss in »Hitlers Weg« nicht immer entgehen.


Anmerkungen:

1 Ernst Wolfgang Becker, Ermächtigung zum politischen Irrtum. Die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz von 1933 und die Erinnerungspolitik im ersten württemberg-badischen Untersuchungsausschuß der Nachkriegszeit, Stuttgart 2001.

2 Theodor Heuss, Der Bundespräsident. Briefe 1954–1959, hg. und bearb. von Ernst Wolfgang Becker/Martin Vogt/Wolfram Werner, Berlin 2013, S. 470-473.

3 Eberhard Jäckel, Einleitung, in: Theodor Heuss, Hitlers Weg. Eine Schrift aus dem Jahre 1932, neu hg. von Eberhard Jäckel, Tübingen 1968, S. XLI-XLIII; Volker Ullrich, Adolf Hitler. Biographie, Bd. 1: Die Jahre des Aufstiegs 1889–1939, Frankfurt a.M. 2013, S. 296f.

4 Horst Möller, Theodor Heuss. Staatsmann und Schriftsteller. Homme d’État et Homme de Lettres, Bonn 1990, S. 19f.

5 Jürgen C. Heß, Theodor Heuss vor 1933. Ein Beitrag zur Geschichte des demokratischen Denkens in Deutschland, Stuttgart 1973, S. 190f.

6 Dirk Hoeges, Theodor Heuss. Eine Stimme für Hitler, Köln 2015.

7 Detailliert zur Entstehungsgeschichte des Buches vgl. Jäckel, Einleitung (Anm. 3), S. XI-XVI.

8 Vgl. Heuss an Marianne Lesser, 31.12.1931, in: Theodor Heuss, Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933, hg. und bearb. von Michael Dorrmann, München 2008, S. 452. Jäckel, Merseburger und Radkau gehen fälschlich von einem vorgezogenen Erscheinungstermin im Dezember 1931 aus; vgl. Jäckel, Einleitung (Anm. 3), S. XVf.; Peter Merseburger, Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident. Biographie, München 2012, S. 279; Joachim Radkau, Theodor Heuss, München 2013, S. 179.

9 Theodor Heuss, Der Bundespräsident. Briefe 1949–1954, hg. und bearb. von Ernst Wolfgang Becker/Martin Vogt/Wolfram Werner, Berlin 2012, S. 231; ders., Erinnerungen 1905–1933, Tübingen 1963, S. 398.

10 Jäckel, Einleitung (Anm. 3), S. XLIII.

11 Theodor Heuss, Hitlers Weg. Eine historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus. Mit einem Geleitwort von Wolfgang Gerhardt und einem Nachwort zur Neuauflage von Werner Treß, Hildesheim 2008.

12 Ders., Politik. Ein Nachschlagebuch für Theorie und Geschichte, Halberstadt 1927, Artikel »National-sozialistische Arbeiterpartei«, S. 138.

13 Verzeichnis im Vorspann der Ausgabe von 1932, ohne Seitenzahl.

14 Dieses Deutungsmuster, das eine Kollektivscham anstelle einer Kollektivschuld in das Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus rückt, bestimmte auch später die Gedenkreden von Heuss als Bundespräsident; vgl. dazu Ulrich Baumgärtner, Reden nach Hitler. Theodor Heuss – die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Stuttgart 2001, S. 184-259.

15 So u. a. in einem Brief an seinen Jugendfreund Friedrich Mück, 7.5.1933, in: Theodor Heuss, In der Defensive. Briefe 1933–1945, hg. und bearb. von Elke Seefried, München 2009, S. 150-152, hier S. 151.

16 Vgl. Ernst Wolfgang Becker, Theodor Heuss. Bürger im Zeitalter der Extreme, Stuttgart 2011, S. 76f.

17 Jürgen C. Heß, Überlegungen zum Demokratie- und Staatsverständnis des Weimarer Linksliberalismus, in: Hartmut Boockmann/Kurt Jürgensen/Gerhard Stoltenberg (Hg.), Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Karl Dietrich Erdmann, Neumünster 1980, S. 289-311.

18 Rüdiger Hachtmann, Wie einzigartig war das NS-Regime? Autoritäre Herrschaftssysteme der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Vergleich – ein Forschungsbericht, in: Neue Politische Literatur 62 (2017), S. 229-280, hier S. 263-270.

19 Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002.

20 Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933–1945, Berlin 1986; Gudrun Brockhaus (Hg.), Attraktion der NS-Bewegung, Essen 2014; Thomas Rohkrämer, Die fatale Attraktion des Nationalsozialismus. Zur Popularität eines Unrechtsregimes, Paderborn 2013.

21 Vgl. zur Diskussion dieses Konzepts beispielsweise Rüdiger Hachtmann, »Charismatische Herrschaft« und der Nationalsozialismus, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 2.4.2019; Thomas Kühne, Zwischen Akribie und Groteske: Variationen der »Normalisierung« Adolf Hitlers, in: Historische Zeitschrift 304 (2017), S. 405-422.

22 Riccardo Bavaj, Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus. Eine Bilanz der Forschung, München 2003, S. 201.

23 So Heß, Theodor Heuss (Anm. 5), S. 190; Merseburger, Theodor Heuss (Anm. 8), S. 281f.; Radkau, Theodor Heuss (Anm. 8), S. 180f.

24 Vgl. Othmar Plöckinger, Geschichte eines Buches. Adolf Hitlers »Mein Kampf«. 1922–1945, München 2006, S. 228-240.

25 Stuttgarter Neues Tagblatt, 4.1.1932 (Abendausgabe), S. 2; Die Christliche Welt, 2.1.1932, S. 183.

26 Frankfurter Zeitung, 31.1.1932 (Literaturblatt), S. 5; Die Literatur 34 (1931/32), S. 356.

27 Vossische Zeitung, 2.2.1932 (Beilage), S. 5.

28 Frankfurter Zeitung, 31.1.1932 (Literaturblatt), S. 5.

29 Neue Freie Presse (Wien), 13.3.1932, S. 6.

30 Berliner Tageblatt, 10.4.1932; Vorwärts, 12.3.1932 (Spätausgabe), S. 4; K.-C. Blätter: Monatsschrift der im Kartell-Convent vereinigten Korporationen, 2.4.1932, S. 37f.; Jüdische Rundschau, 8.3.1932, S. 93.

31 Hefte für Büchereiwesen 15 (1931), S. 465f., hier S. 465.

32 C.V. Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum. Organ des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens e.V., 26.2.1932, S. 75; aus späterer Sicht zu diesem »feinen Schweigen«, das politische Verfehlungen und Verbrechen begünstigt habe, vgl. Fritz Stern, Das feine Schweigen und seine Folgen, in: ders., Das feine Schweigen. Historische Essays, München 1999, S. 158-173.

33 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I, Bd. 2/II, hg. v. Elke Fröhlich, bearb. von Angela Hermann, München 2004, S. 203.

34 Jäckel, Einleitung (Anm. 3), S. XXXII.

35 Werner Treß, Theodor Heuss und sein Buch Hitlers Weg. Eine historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus, in: Olivier Dard/Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hg.), Confrontations au national-socialisme en Europe francophone et germanophone (1919–1949)/Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus im deutsch- und französischsprachigen Europa (1919–1949), Bd. 2: Les libéraux, modérés et européistes/Die Liberalen, Modérés und Proeuropäer, Bern 2018, S. 31-43, hier S. 42.

36 Vgl. dazu neuerdings Elke Seefried/Ernst Wolfgang Becker/Frank Bajohr/Johannes Hürter (Hg.), Liberalismus und Nationalsozialismus. Eine Beziehungsgeschichte, Stuttgart 2020.

37 So das Urteil von Jens Hacke zu den liberalen Faschismus-Deutungen in der Weimarer Republik: Jens Hacke, Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit, Berlin 2018, S. 192.

38 Heuss an Alfred Wiener, 22.4.1951, in: Heuss, Briefe 1949–1954 (Anm. 9), S. 231; Theodor Heuss, Eine Erwiderung: Zum Thema »Hitlers Weg«, in: Nation Europa 8 (1959) H. 9, S. 39-41.

39 Vgl. Kristian Buchna, »Liberale« Vergangenheitspolitik. Die FDP und ihr Umgang mit dem Nationalsozialismus, in: Seefried/Becker/Bajohr/Hürter, Liberalismus (Anm. 36), S. 407-449.

40 Zu dem Vorfall in Erfurt vom Februar 2020 vgl. Martin Debes, Demokratie unter Schock. Wie die AfD einen Ministerpräsidenten wählte, Essen 2021.

41 Radkau, Theodor Heuss (Anm. 8), S. 179, S. 182f.

42 Per Leo/Maximilian Steinbeis/Daniel-Pascal Zorn, Mit Rechten reden. Ein Leitfaden, Stuttgart 2017.

43 Beispielhaft Yascha Mounk, Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht, München 2018; Steven Levitsky/Daniel Ziblatt, Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können, München 2018.

44 So auch Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin 2016, S. 131.

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