Francis Fukuyama und das „Ende der Geschichte“

Anmerkungen

Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York: Free Press 1992; dt. Übers.: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm, Ute Mihr und Karlheinz Dürr, München: Kindler 1992.


Als Francis Fukuyamas Essay „The End of History?“ im Sommer 1989 in der Zeitschrift „The National Interest“ erschien, brach ein Sturm der Empörung los. Die Vorstellung von einem „Ende der Geschichte“ hatte zwar gerade Konjunktur; so kamen in der Bundesrepublik 1989 gleich zwei Bücher heraus, die dieses Thema kritisch beleuchteten.1 Meist gründete das Interesse an einem „Ende der Geschichte“ allerdings auf einer postmodernen Position. Vilém Flusser oder Jean Baudrillard etwa behandelten unter diesem Schlagwort den Verlust von Sinn- und Wirklichkeitsbezügen in der multimedialen Kommunikationsgesellschaft.2 Fukuyama hingegen knüpfte an eine andere Tradition mit politisch konservativem Hintergrund an, wie sie beispielsweise von Arnold Gehlen, Ernst Jünger und Hendrik de Man vertreten worden war. Vor allem berief er sich auf den russisch-französischen Philosophen Alexandre Kojève, der Hegels „Phänomenologie des Geistes“ als Setzung eines Endpunkts der Geschichte gedeutet und später die amerikanische Lebensart als die Lebensform des Menschen nach dem Ende der Geschichte bezeichnet hatte.3

Nicht allein wegen dieser Geistestradition seines Werkes wurde der Politikwissenschaftler Fukuyama sofort als „Neocon“ bezeichnet, als Vertreter neokonservativen amerikanischen Denkens, wie es sich unter der Regierung Reagan herausgebildet hatte. Hinzu kam, dass der Aufsatz in einem Organ der Neocons erschien und sein Autor im State Department gearbeitet hatte bzw. Resident Fellow der RAND Corporation war, dem US-amerikanischen Think Tank für auswärtige Politik. Damit stand das Urteil über den Essay fest. Es galt auch für seine drei Jahre später veröffentlichte Erweiterung zur Buchausgabe unter dem Titel „The End of History and the Last Man“ (die unmittelbar in 14 Sprachen übersetzt wurde): Erste Rezensionen in den USA4 sprachen der Theorie jede geschichtsphilosophische Relevanz ab und bezeichneten sie als konfus und ideologisch motiviert – eine Einschätzung, die in Deutschland geteilt wurde, wie ein inquisitorisch geführtes „Spiegel“-Interview verdeutlicht.5 Fukuyama – dies war um 1990 auch in deutschen akademischen Kreisen weitgehend Konsens – hatte eine geschichtsphilosophisch unterfütterte Ideologie vorgelegt, die die US-amerikanische Staatswirklichkeit als Höhe- und Endpunkt der Geschichte legitimierte und den Weltstaaten eine Anpassung an dieses Ideal vorhersagte. Hierzu baute er seine Thesen unter ausführlicher Verwendung der Herr-Knecht-Theorie Hegels und der Thymos-Lehre Platons zu einem geschlossenen philosophischen System mit universalem Erklärungsanspruch aus, um politische Entwicklungen als notwendige Folge des menschlichen Strebens nach Anerkennung auszuweisen. Dies wirkte umso verstörender, als man sich in den 1980er-Jahren allgemein in einem Zeitalter „nach dem Ende der großen Denksysteme und Geschichtsphilosophien“ zu befinden glaubte.

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Fukuyamas Essay erschien im Sommer 1989, also noch vor dem Fall der Berliner Mauer, und ist deutlich von der sich abzeichnenden Auflösung des Systemkonflikts zwischen kapitalistischer Demokratie und planwirtschaftlichem Staatskommunismus geprägt. Kurz gesagt vertrat der Autor die These, dass die Geschichte ein Siegeslauf des ökonomischen und politischen Liberalismus sei, der sich künftig weltweit ausbreiten werde. Habe sich die westliche Demokratie als Regierungsform überall durchgesetzt, sei die „final form of human government“ erreicht – und damit das Ende der Geschichte. Seit den Revolutionen der Aufklärungszeit, besonders der Französischen Revolution, seien zwei Prinzipien für die geschichtliche Entwicklung leitend geworden: zum einen ein naturwissenschaftliches Denken, das zu dauerhaftem technologischen Fortschritt und – in dessen Folge – zum Verlangen nach allgemeiner Bildung führe, sowie zum anderen ein Streben des Individuums nach „recognition“, nach Anerkennung, das auf die Entstehung konstitutioneller Demokratien und den Schutz von Persönlichkeits- und Freiheitsrechten abziele. Dabei folge die Liberalisierung der politischen Sphäre zeitlich einem wirtschaftlichen Liberalismus. Paradebeispiele dieser Entwicklung waren für Fukuyama die Staaten Südostasiens. Dort habe die „common marketization“ die Bildung moderner Demokratien bewirkt. Ähnliches sei in der Sowjetunion und in China zu erwarten, ausgehend von den Reformen Gorbatschows und Deng Xiaopings. Fukuyamas Kurzform der These lautete: „We might summarize the content of the universal homogenous state as liberal democracy in the political sphere combined with easy access to VCRs and stereos in the economic.“

Nicht nur durch seine Behauptung, dass man den Völkern Videorecorder und Stereoanlagen geben müsse, damit sich eine liberale Demokratie ausbreiten könne, provozierte Fukuyama die Leser. Auch seine Bemerkung über das Ende der Faschismen musste als Verbalradikalismus erscheinen: „The ruins of the Reich chancellery as well as the atomic bombs dropped on Hiroshima and Nagasaki killed this ideology on the level of consciousness as well as materially.“ Kulturimperialistisch wirken jene Passagen, in denen Fukuyama erläuterte, dass es auf „common ideological heritage of mankind“ ankomme statt auf „strange thoughts occur to people in Albania or Burkina Faso“. Nicht nur mögliche Sympathien linker Denker verscherzte er sich, indem er den Kommunismus als tote Ideologie bezeichnete, der nur noch „isolated true believers left in places like Managua, Pyongyang, or Cambridge, Massachusetts“ anhingen. Auch Konservative nahmen daran Anstoß, weil Fukuyama ihrer Ansicht nach die Bedeutung herunterspielte, die dem Kommunismus „als Gefahr“ um 1990 und danach immer noch zukam.

Zunächst konnte sich Fukuyama durch den Gang der Geschichte selbst bestätigt sehen: Die rasanten politischen Entwicklungen zwischen der Veröffentlichung des Essays und der Buchausgabe – von der Auflösung der Sowjetunion über die Transformation der Warschauer-Pakt-Staaten in Demokratien bis hin zur blutigen Niederschlagung der Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens – passten bruchlos in seine Theorie, so dass sie bei der Veröffentlichung der Buchausgabe entsprechend eingefügt wurden. Sie passten nicht zuletzt deshalb gut hinein, weil Fukuyama wie seine geschichtstheoretischen Vorgänger Hegel und Marx analytische Elemente mit prognostischen verband und weil der Blick „in the long run“ die Zukunft offen ließ. Hatte Hegel die Geschichte in einem Stadium des versöhnten Weltgeistes enden lassen und Marx in der kommunistischen Gesellschaft, so waren die Gegensätze, die sich aus dem Hiatus zwischen dem Streben nach Anerkennung und ökonomischem Verlangen einerseits und politisch-ökonomischer Realität andererseits ergeben, bei Fukuyama in der Vision einer liberalen Demokratie aufgehoben. Historische und politische Ereignisse, die nicht auf dieses Ziel hinführen, können als retardierende Momente, die schließlich doch überwunden werden, in die Philosophie integriert werden. Beeindruckend ist, dass Fukuyama schon frühzeitig Probleme benannte, die später große Bedeutung erhielten: etwa den islamistischen Fundamentalismus und namentlich die Verbindung von Staat und Religion im Iran, die Klimakatastrophe sowie die Folgen moderner, vor allem humanbiologischer Technologien. In der weiteren Behandlung dieser Probleme, die Fukuyama in späteren Buchpublikationen vornahm, löste er sich deutlich von der US-amerikanischen Regierungspolitik unter George W. Bush. So distanzierte sich Fukuyama explizit vom Krieg als Mittel der „Befriedung“ des Nahen Ostens, trat für eine Einschränkung der Humantechnologie ein und engagierte sich für Maßnahmen gegen die Klimaerwärmung. Zudem kennzeichnete er den Islamismus als Anti-Moderne-Bewegung und nicht als religiöses Schwärmertum, was ihn in expliziten Widerspruch zu seinem Lehrer Samuel Huntington brachte. Einige dieser Standpunkte fügte Fukuyama 2006 als neues Schlusswort an die zweite Paperbackausgabe von „The End of History and the Last Man“ an.

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In diesem Nachwort widersprach Fukuyama dem Vorwurf, dass er für eine „spezifisch amerikanische Version des Endes der Geschichte“ plädiere. Seine Sicht auf Hegel sei wesentlich durch Kojève bestimmt, der nicht nur Philosoph, sondern auch politischer Berater der OEEC war und für transnationale rechtliche Rahmensetzungen eingetreten sei. Gleichzeitig räumte Fukuyama ein, dass die Europäer das Recht auf Gleichheit dem Recht auf Freiheit vorzögen, während er selbst – wie es die Amerikaner generell tun würden – mehr auf Freiheit als auf Gleichheit ziele. Fukuyama ist ein Verfechter des Nationalprinzips, sieht aber im Nationalismus keine Gefahr für die Demokratie, sondern hält diesen und die ihm verwandten Strömungen von Imperialismus und Faschismus für irreversibel überwundene Stadien der Geschichte. Die historische Entwicklung laufe nicht auf eine globale liberale Demokratie hinaus, sondern auf ein System der „global governance“, das den Verkehr unter den Staaten lenken werde. In diesem Punkt dient ihm die Europäische Union als Vorbild.

Fukuyamas Amerikanismus ist unverkennbar und deutlich vom Protestantismus geprägt. Fukuyama, der 1952 in Chicago geboren wurde, wuchs als Sohn eines „ministers“ der United Church of Christ auf. So ist es nicht verwunderlich, dass er sich an entscheidender Stelle seiner Argumentation auf Max Webers Schrift „Der Protestantismus und der Geist des Kapitalismus“ berief. Es sei das Christentum, das dem Knecht zu allererst die Vision der Freiheit eröffne. Die Frage aber, inwiefern die Entwicklung der Weltgeschichte eine spezifisch christliche sein solle, ist weder vom Autor selbst noch von seinen Kritikern gestellt worden. Ebenso ist bisher nicht diskutiert worden, ob die Entwicklung unterbrochen würde, wenn die weltweite Vorreiterschaft der USA auf dem ökonomischen Sektor abbräche – eine Frage, die sich nicht nur angesichts der Weltwirtschaftskrise von 2008/09 aufdrängt, sondern auch wegen der wachsenden Wirtschaftskraft Chinas und Indiens. Darüber hinaus müsste man sich eingehender mit Fukuyamas Nationskonzept beschäftigen, das möglicherweise dauerhaft nicht auf Stammesgesellschaften – etwa in Afrika – übertragbar sein wird. Diskutieren könnte man auch, ob Fukuyamas Theorie mittlerweile womöglich eine Theorie der Praxis ist. In „Krisengebieten“ wie Afghanistan soll mit der Sicherung von Freiheitsrechten durch „Friedenstruppen“ und mit der gleichzeitigen Befriedigung (zumindest basaler) ökonomischer Bedürfnisse die liberale Demokratie exportiert werden – bisher allerdings mit zwiespältigen Ergebnissen.

Auch für jene, die geschichtsphilosophische Systeme als hermetische Theorien ablehnen, die Fukuyamas Standpunkt als Amerikanismus werten und visionären Darstellungen skeptisch gegenüberstehen, welche zugleich moralische Wertsetzungen und Machtansprüche sind, lohnt sich eine Neulektüre von „The End of History and the Last Man“. Diese Neubeschäftigung sollte frei von politisch motivierten Pauschalverurteilungen sein, wie sie Gregory Elliott wiederholt unternommen hat,6 und dafür eher an kritisch-konstruktive Analysen anknüpfen, von denen bislang erst wenige vorliegen.7

Anmerkungen: 

1 Lutz Niethammer mit Dirk van Laak, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, Reinbek bei Hamburg 1989; Thomas Jung, Vom Ende der Geschichte. Rekonstruktionen zum Posthistoire in kritischer Absicht, Münster 1989.

2 Vilém Flusser, Nachgeschichte. Eine korrigierte Geschichtsschreibung [um 1990], Bensheim 1993; Jean Baudrillard, Das Jahr 2000 findet nicht statt, Berlin 1990.

3 Alexandre Kojève, Introduction à la lecture de Hegel, Paris 1947.

4 Stephen Holmes, in: New Republic, 23.3.1992, S. 27-32; John Dunn, in: Times Literary Supplement, 24.4.1992, S. 6.

5 „Der Mensch braucht das Risiko“. Der amerikanische Philosoph Francis Fukuyama über seine These vom „Ende der Geschichte“, in: Spiegel, 6.4.1992, S. 256-261.

6 Gregory Elliott, The Cards of Confusion: Reflections on Historical Communism and the „End of History“, in: Christopher Bertram/Andrew Chitty (Hg.), Has History Ended? Fukuyama, Marx, Modernity, Aldershot 1994, S. 46-64; ders., Ends in Sight. Marx/Fukuyama/Hobsbawm/Anderson, London 2008.

7 Howard Williams/David Sullivan/Gwynn Matthews, Francis Fukuyama and the End of History, Cardiff 1997; Henk de Berg, Das Ende der Geschichte und der bürgerliche Rechtsstaat. Hegel – Kojève – Fukuyama, Tübingen 2007.

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