Nostalgie und Heimweh

Zum politischen Gehalt von Heimatgefühlen


  1. Von der Pathologisierung zur Pädagogisierung des Heimwehs
  2. Heimweh und Nostalgie: Begriffliche Verschiebungen
  3. Die neue Allianz von Nostalgie und Heimweh als politisches Gefühl
  4. Fazit: Politische Heimatgefühle

Anmerkungen

[Ich danke Veronika Springmann für konstruktive Diskussionen und zahlreiche Hinweise.]

Europa ist ein »Kontinent der Nostalgie«. So jedenfalls betitelte der Publizist Markus Somm im November 2018 einen Artikel in der »Basler Zeitung«. »Die Europäer verzweifeln an der Gegenwart. Früher war alles besser«, lautete der Untertitel.1 Den Aufhänger lieferte eine repräsentative Umfrage der Bertelsmann Stiftung unter mehr als 10.800 EU-Bürger*innen über ihr Verhältnis zur Vergangenheit und die daraus resultierenden Einstellungen zu gegenwärtigen Problemlagen.2 Ungeachtet dessen, dass die Fragen der Bertelsmann-Studie als suggestiv und die Ergebnisdeutungen als vereinfachend kritisiert werden können,3 ist bemerkenswert, welchen Widerhall diese »Nostalgie-Studie« in der deutschsprachigen Presselandschaft fand. Dabei war es nicht nur das Statement »Früher war alles besser«, das zahlreiche Tageszeitungen wiederholten, sondern auch der Verweis auf die politische Wirkungsmacht des Gefühls der Nostalgie. Die Autorinnen der Studie selbst behaupteten, Nostalgie sei »ein mächtiges Mittel der Politik«.4 Ob die Politik dieses Gefühl instrumentalisiert oder Nostalgie in spezifischen Kontexten per se politisch aufgeladen ist, ließen sie allerdings unbeantwortet.

Ihre eigentliche Brisanz erhielt die Umfrage dadurch, dass nostalgische Gefühle im Kontext persönlicher Einstellungen zu Migration abgefragt wurden. Folgt man den Auswertungen, ist der Zusammenhang eindeutig: »Was die Nostalgiker auszeichnet, ist ihre skeptische Sicht auf Einwanderung und Migration und ihre Sorge vor Terrorismus«,5 lautete das Ergebnis. Diese Interpretation und Rezeption einer nicht unproblematischen Umfrage verweist dabei weniger auf die »Macht der Vergangenheit« (so der Titel der Studie) als vielmehr auf ein Bündel verschiedener Gefühlslagen, die sich zwar aus Vorstellungen über Vergangenheit speisen, im Grunde jedoch der Selbstverortung im Hier und Jetzt dienen.

Als Gefühlsdisposition in der Gegenwart hat Nostalgie demnach politischen Gehalt. Dieser resultiert daraus, dass Nostalgie nicht mehr so sehr eine emotionale Orientierung in Raum und Zeit beschreibt (wie es der ursprüngliche Wortsinn und Gebrauch nahelegt), sondern mit der Frage nach Identität und Zugehörigkeit verbunden wird. Nostalgie bezeichnet heute, so meine These, die Sehnsucht nach Sicherheit und Vertrautheit in einer sich rasch verändernden Welt. Damit steckt in dem Gefühl der Nostalgie nicht nur der innerliche, intime Weltzugang, sondern auch der Anspruch auf eine planbare und erwartbare Zukunft.

Ein emotionshistorischer Blick zeigt: Über mehr als drei Jahrhunderte war Nostalgie bedeutungsgleich mit Heimweh. Der zentrale Referenzpunkt von Heimweh als »heftigem Verlangen« war das »Vaterland«, die »Heimath«, so die Definition in Adelungs Wörterbuch (1808).6 Daher ist es nicht verwunderlich, dass gegenwärtige nostalgische Praktiken eben auch um Heimatvorstellungen und Heimat(re)konstruktionen kreisen. Der Schweizer Männerchor »Heimweh« beispielsweise verkauft erfolgreich »Heimwehmusig«. Vor der Kulisse der sonnenbeschienenen Alpen besingt er auf seinem Album von 2020 im Schweizer Dialekt und einer Mischung aus Schlager, Pop und Jodeln die »Verruckti Wält«. Die starke emotionale Botschaft der Performance ist die Suche nach Sicherheit in eben jener »verrückten Welt«.7 Ebenfalls unter dem Titel »Heimweh« widmet sich die Kölner Mundart-Band »Cat Ballou« auf einer Single von 2019 der Sehnsucht nach der »Heimatstadt Kölle«.8 Es gibt aber auch Musikgruppen, die ihren »Heimat«-Bezug ironisch kommentieren und damit die vermeintlich starken Heimatgefühle brechen, wie es die Gruppe »Hans Well & Wellbappn« zeigt.9 Diese Beobachtungen unterstreichen, dass eine emotionshistorische Annäherung an Nostalgie und Heimweh um »Heimat« nicht herumkommt.

Genauso wie Nostalgie erfreut sich auch »Heimat« jüngst einer erneuten Popularität. Den Grund für den »Heimat«-Hype sieht der Historiker Jens Jäger »in der Unbestimmtheit des Begriffs«: Darin zeige sich »seine prominente emotionale Seite, die ihn für Marketingzwecke jeder Art – und damit sind auch politische Absichten eingeschlossen – attraktiv macht«.10 »Heimat«, so demonstriert der kurze Blick auf die Musikgruppen, kann einen zentralen Bezugsraum nostalgischen Sehnens darstellen. Zugleich lässt sich genau dieses Sehnen trefflich ironisieren, um die eigene politische Position zu markieren. Es lässt sich nicht von Nostalgie reden und von Heimat schweigen. Und wenn »Heimat« »Politik« ist,11 kann Nostalgie nicht unpolitisch sein.

Dieser Zusammenhang bedarf einer Erklärung. Dabei ist es hier nicht das Ziel, »Heimat« als problematisches Konzept zu diskutieren. »Heimat« soll weder definiert noch dekonstruiert werden; das wird momentan an vielen anderen Stellen getan.12 Vielmehr soll verdeutlicht werden, was Heimat, Heimweh und Nostalgie miteinander zu tun haben. Wer benutzt wann, wie und warum Nostalgie als ein Heimatgefühl, um spezifische politische Deutungen herzustellen? Um diese Fragen zu beantworten, lohnt es sich, einen näheren Blick auf die jahrhundertelange Verwobenheit von Nostalgie und Heimweh zu werfen. Die darin sichtbaren Konjunkturen ermöglichen es, gegenwärtige Kontexte einzuordnen, in denen Nostalgie zu einem Heimatgefühl wird, das politische Haltungen markieren kann.

1. Von der Pathologisierung zur Pädagogisierung des Heimwehs

Heimweh galt zunächst gar nicht als Emotion, sondern als eine Krankheit. Der Begriff »Heimweh« wurde das erste Mal 1569 als Dialektwort dokumentiert.13 Zwischen dem 17. und dem frühen 20. Jahrhundert war Heimweh eine medizinisch präzise beschriebene tödliche Krankheit.14 Sie wurde das erste Mal 1688 vom Schweizer Arzt Johannes Hofer definiert, der das Phänomen zahlreicher sterbenskranker Schweizer Soldaten im Ausland untersuchte.15 Die Symptome ihres Leidens waren medizinischen Beschreibungen zufolge »fortwährende Traurigkeit, häufige Seufzer, fortwährendes Denken an die Heimat, unruhiger Schlaf, Abnahme der Kräfte, geringer Appetit, Herzensängste und unregelmäßiger Herzschlag, […] Fieber, Störung der Verdauung, Abmagerung, Schwächung«.16 Daher führe Heimweh unweigerlich zum Tode, wenn man die Betroffenen nicht in ihre Heimat zurückschicke. In dieser ersten und mindestens zwei Jahrhunderte geltenden medizinischen Charakterisierung bezog sich das tödliche Sehnen auf einen Ort, im Falle der Söldner auf die Schweizer Alpen. Als »Schweizerkrankheit«17 beruhte das Heimweh also in erster Linie auf einer Raum­dimension.

Dass Heimweh auch einen Zeitbezug haben konnte, geht aus den Erläuterungen Jean-Jacques Rousseaus hervor. In seinem »Dictionnaire de Musique« erläuterte er 1768 die ungeheure Wirkung des Kuhreigens »Ranz des Vaches« (»ein unter den Schweizern berühmtes Lied, das ihre jungen Hirten auf dem Alphorn blasen, wenn sie das Vieh in den Bergen hüten«) auf die Schweizer Söldner: »Das Lied galt ihnen so viel, daß es bei Todesstrafe verboten war, es in ihren Söldnerregimentern zu singen; denn die es sangen, zerflossen in Tränen, desertierten, oder es brach ihnen das Herz, so sehr weckte das Lied in ihnen das brennende Verlangen, die Heimat wiederzusehen. […] Diese Wirkungen (sie sind nur bei Schweizern festzustellen) sind einzig auf das Herkommen, die Macht der Erinnerung zurückzuführen, auf tausend kleine Erlebnisse, die bei diesem Lied in den Hörern wieder emporsteigen und ihnen ihr Land, das vergangene Schöne, die Jugend zurückbringen, bitteren Schmerz darüber erregend, daß dies alles ihnen verloren ist.«18 Dieser »Kuhreigen« (auch als »Kuhreihen« bezeichnet) hatte bereits in den Abhandlungen über die Nostalgie seit Hofer eine besondere Bedeutung. Auch später wurde insbesondere dieser Melodie wiederholt die Kraft unterstellt, die Sehnsucht nach der zurückgelassenen Heimat verstärken zu können. Schon Hofer sprach von einem expliziten Verbot dieser Musik, um Heimwehgefühle zu vermeiden.19 Neu bei Rousseau war jedoch, dass dem krankhaften Sehnen nach der Heimat der »bittere Schmerz« über die Einsicht in die Vergänglichkeit des Lebens zur Seite gestellt wurde, die Einsicht darin, dass »das vergangene Schöne, die Jugend« verloren sei. Mit dieser Beschreibung erhielten Heimweh und Nostalgie (als Synonyme genutzt) ihre charakteristische Raum- und Zeitdimension.

Verstanden als potentiell tödliche Krankheit stellte das Heimweh im 19. Jahrhundert ein ernsthaftes Problem für das Militär vieler Länder Europas und Nordamerikas dar. Die Militärärzte dokumentierten ganze Heimweh-Epidemien. Noch im amerikanischen Bürgerkrieg während der 1860er-Jahre war bei gut 5.000 Soldaten die Rede von Heimweh, offiziell starben 58 von ihnen daran. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts verschwand das pathologische Heimweh aus den militärischen Krankenstatistiken.20

Parallel dazu veränderte sich der medizinische Diskurs um das Heimweh und spiegelt die zeitgenössischen Bedürfnisse und Veränderungen wider. Die Industrialisierung erforderte eine höhere Mobilität: Auf Pferdekarren, mit Zügen oder Dampfschiffen verließ vor allem die mitteleuropäische Landbevölkerung im 19. Jahrhundert ihre Heimaten, auf der Flucht vor Hunger und Armut. Die Menschen zogen auf der Suche nach Arbeit in die Städte; sie wanderten aus, in der Hoffnung auf ein fruchtbares Stück Land, das ihnen in Übersee Nahrung und Wohlstand versprach.

Es braucht noch viel mehr historische Forschung, um die komplexen Ursachen und Entwicklungen zu benennen, die zur Veränderung des Heimwehdiskurses im Laufe des 19. Jahrhunderts führten. Fest steht jedoch, dass sich der Diskurs in zweifacher Hinsicht verschob: Zum einen wurde Heimweh in der medizinisch-psychiatrischen Literatur des späteren 19. Jahrhunderts mit Trennungsschmerz, Traurigkeit, Einsamkeit oder Melancholie in Verbindung gebracht; es galt als Symptom einer depressiven Verstimmung. Als Anpassungsschwierigkeit war Heimweh damit keine tödliche Krankheit mehr, sondern als emotionale Disposition überwindbar.21

Damit verschob sich zum anderen auch der gesellschaftliche Diskurs entlang von Geschlechterbildern. In dem Moment, als es sich nicht mehr um eine tödliche Krankheit handelte, war Heimweh nicht länger ein Phänomen, das vorrangig männliche Soldaten betraf. Als Anzeichen einer depressiven Verstimmung wurde Heimweh – parallel zum medizinisch-psychiatrischen Diskurs um Hysterie – zu einem weiblichen Leiden. Dabei ist nicht nur die Zuweisung entlang der Kategorie Geschlecht interessant, sondern auch entlang von Klasse und Alter. Es waren einerseits einfache, eher ungebildete Frauen, bei denen diese Form der depressiven Verstimmung diagnostiziert wurde, die im schlimmsten Fall zu zerstörerischem Verhalten führen konnte, wie Karl Jaspers 1909 in seiner Dissertation anhand von Brandstiftungen und Gewaltverbrechen von Dienst- und Kindermädchen diskutierte.22 Andererseits verrät ein Blick in die Kinder- und Jugendliteratur des frühen 20. Jahrhunderts, wie sehr Heimweh als pädagogische Herausforderung verstanden wurde. So litten angeblich vor allem Mädchen und junge Frauen daran, ihre Familie und ihre Heimat im Prozess des Erwachsenwerdens zu verlassen.23

Das kindliche Heimweh findet sich erstmals 1880 prominent in dem Kinderbuchklassiker »Heidi« von Johanna Spyri.24 Jenseits dessen, dass Heidis Heimweh einen dramaturgischen Zweck in der Erzählung erfüllt, lässt sich in diesem Kinderbuch idealtypisch die Bedeutungsverschiebung von Heimweh erkennen. Heidi leidet offensichtlich noch an der lebensbedrohlichen Krankheit Heimweh. Die ganze Persönlichkeit des Mädchens ändert sich, als sie aus ihren vertrauten Schweizer Bergen in die anonyme Großstadt Frankfurt am Main kommt: Aus dem lebensfrohen, munteren, pausbäckigen Schweizer Naturkind wird ein bleiches, abgemagertes, »mäuschenstilles« und trauriges Wesen.25 Spyri charakterisiert Heimweh als die unstillbare Sehnsucht nach einem verlassenen Ort – der Heimat –, der Vertrautheit, Zugehörigkeit, Schutz, Glück und Identität verspricht. Heidi ist diesem Gefühl zunächst hilflos ausgesetzt. Das einzige Heilmittel für sie ist (wie auch bei dem Heimweh der Schweizer Söldner) die Rückkehr in die heimatlichen Alpen. Im weiteren Verlauf der Geschichte wird jedoch eine Akzentverschiebung deutlich – das Heimweh zeigte seine dezidiert pädagogische Funktion. Denn nur durch die Erfahrungen in der fernen Großstadt und des Heimweh-Leidens wird aus dem unreifen, ungezähmten, naturwüchsigen Kind am Ende der Geschichte ein moralisch gereiftes, gebildetes und innerlich gestärktes Mädchen. Heidis Geschichte diente daher als Lehrbeispiel dafür, wie das kindliche Heimweh als legitime und notwendige Phase im Sozialisationsprozess verstanden werden könne: Es brauche nur die richtige Erziehung, um dieses Heimweh zu überwinden.

Die pädagogische Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts steckte daher voller Ratschläge für Eltern und Erzieher, wie heimwehkranken Kindern und Heranwachsenden zu helfen sei. Dabei wurde sowohl auf präventive wie auch auf kurative Aspekte Wert gelegt, wobei vor allem die Prävention viel Aufmerksamkeit erhielt, denn »besser als die heilende Tätigkeit der Erziehung ist freilich die verhütende, welche im steten Hinblick auf das Erziehungsziel die Charakterstärke der Sittlichkeit im Zögling dergestalt steigert, dass das Heimatgefühl, diese individuelle Form der Natur- und Menschenliebe, von der Vernunft in Schranken gehalten und so sein Anwachsen zur psychopathischen Erscheinung verhindert wird«.26 Pädagogische Maßnahmen sollten die »zweckbewusste Einwirkung auf den Gedankenkreis des Heimwehkranken« anstreben, die »Erschliessung neuer sinnenfrischer Vorstellungs- und Gefühlskreise«,27 wofür Erzieher »Geduld und Liebe« mitbringen müssten.28

In den Folgejahrzehnten setzte sich schließlich die Einsicht durch, dass Heimweh ein Zeichen von fehlendem Selbstwertgefühl sei und nur gemütsbetonte, schwache Kinder befalle. Daher war die Kinderbuchliteratur des 20. Jahrhunderts voll von Mädchen, die an Heimweh litten.29 Die Phase zwischen Kindheit und Frausein in der Sozialisation junger Mädchen galt um die Jahrhundertwende in Deutschland als »Backfischzeit«, die in einer eigenen Literaturgattung thematisiert wurde. In diese Entwicklungsphase gehörte das Heimweh als Übergangsemotion zum Prozess der Trennung vom vertrauten Elternhaus auf dem Weg zum Erwachsensein.30

Noch vor den großen weltpolitischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, in einer Zeit, als Mobilität eine der zentralen Herausforderungen an das moderne Leben war, wurde Heimweh somit diskursiv eingehegt und als alters- und geschlechtsspezifisches Reifeproblem verortet. Um 1950 verlor es in der pädagogischen Literatur seine Bedeutung. Das nunmehr gezähmte Heimweh war nur noch von kurzer Dauer und ertragbarer Intensität, ein »graue[r] Zwerg«, wie ihn Erich Kästner in »Das doppelte Lottchen« beschreibt, der abends an den »Betten im Schlafsaal« sitze: »[E]r zieht sein graues Rechenheft und den grauen Bleistift aus der Tasche und zählt ernsten Gesichtes die Kindertränen ringsum zusammen, die geweinten und die ungeweinten.«31

Diese ersten Konjunkturen des Heimweh-Phänomens zeigen, wie sehr das Sehnen nach einer verlorenen Zeit und einer zurückgelassenen Heimat zusammenfiel. Dabei galt die frühere Heimat im Rückblick als ein idealisierter Zustand emotionaler Sicherheit und Zugehörigkeit. Mit dieser Verlagerung des Heimwehdiskurses aus der medizinisch-psychiatrischen Fachliteratur in den pädagogischen Bereich ging auch eine Veränderung des Heimwehgefühls einher. Die Kinder und Heranwachsenden litten am Verlust des konkreten Ortes der Heimat als sozialem Anker und familiärem Geborgenheitsraum, nicht so sehr an der Einsicht in die Vergänglichkeit des Lebens. Damit war die Ausdifferenzierung in zwei verschiedene Gefühle entlang der Raum- und Zeitdimension vorbereitet.

2. Heimweh und Nostalgie: Begriffliche Verschiebungen

In Anbetracht der großen Flucht- und Migrationsbewegungen in Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg löste sich das Heimwehgefühl Mitte des 20. Jahrhunderts aus dem pädagogischen Diskurs. Ab den 1950er-Jahren gab es in beiden Teilen Deutschlands kaum mehr eine Debatte um das kindliche Heimweh im Sozialisationsprozess. In den Nachkriegsjahrzehnten wuchsen die meisten Kinderbuchheld*innen in einer behüteten Welt auf, und sie kannten nicht das Gefühl des Heimwehs – im Gegensatz zu ihren Eltern, die noch besorgt darüber wachten, ob ihre Kinder in der Ferne an dieser Sehnsucht litten. Ein letztes Mal erschien ein Eintrag zu Heimweh in einem deutschsprachigen pädagogischen Lexikon von 1953.32

Diese Entwicklung korrespondiert mit einer sich wandelnden Bedeutung von »Heimat«. Hatten die Auswanderer des 19. Jahrhunderts, getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben in der Ferne, ihre »Heimaten« aufgrund eigener Entscheidungen verlassen, verloren die Millionen Heimatlosen der Nachkriegszeit ihr vertrautes Umfeld durch Flucht, Verfolgung, Deportation oder Vertreibung. Ein erster kursorischer Blick auf die Nachkriegszeit offenbart eine interessante Ausdifferenzierung verschiedener Bedeutungen von Heimweh: das Heimweh der »Heimatvertriebenen«, die den konkreten Ort ihrer Herkunft, ihrer Zugehörigkeit und ihres Familienzusammenhangs verloren hatten; und eine andere, unspezifischere Form von Heimweh, dem Menschen anhingen, die mehrheitlich zwar nicht ihre Heimat verlassen mussten, sich aber infolge der Katstrophenerfahrungen des Zweiten Weltkrieges nach dem verlorenen Gefühl der Geborgenheit sehnten.

Der emotionale Referenzpunkt der Vertriebenen war und blieb die verlorene Heimat als konkreter Ort. So unterzeichneten 30 Vertreter*innen der deutschen Heimatvertriebenen im August 1950 eine »Charta«, die ihnen als »Grundgesetz« galt. Darin betonten sie den Verzicht auf Rache und Gewalt für das erlittene Unrecht und forderten zugleich das »Recht auf Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit«.33 Im internationalen Recht wurde dies jedoch nicht verankert. Für die Geflüchteten und Vertriebenen blieb die Heimat verloren, die neue Heimat »kalt«.34

Heimatvertriebene in Stuttgart, Juli 1955: Auf einer »Treuekundgebung« füllen Trachtengruppen die Bühne, um ihre Verbundenheit mit der »verlorenen« Heimat und ihren fortdauernden Anspruch auf diese zu demonstrieren. In Polen hingegen war von den »wiedergewonnenen« Gebieten die Rede. (picture-alliance/Adolf Castagne)
Heimatvertriebene in Stuttgart, Juli 1955: Auf einer »Treuekundgebung« füllen Trachtengruppen die Bühne, um ihre Verbundenheit mit der »verlorenen« Heimat und ihren fortdauernden Anspruch auf diese zu demonstrieren. In Polen hingegen war von den »wiedergewonnenen« Gebieten die Rede.
(picture-alliance/Adolf Castagne)

Nach der Definition im »Großen Brockhaus« von 1954 galt »Heimat« in dieser Zeit als »die Umwelt, mit der der einzelne durch Geburt oder Lebensumstände verwachsen ist«. Die emotionale Grundierung von Heimat in diesem Lexikon-Eintrag ist für die Frage nach zeitgenössischen Vorstellungen von Heimweh interessant; so heißt es in dem Eintrag weiter: »Bes. im Deutschen begreift das Wort eine Gemütsbindung, das Daheim-geborgen-Sein.« Der Eintrag bot 1954 den Millionen Heimatvertriebenen einen Kompromiss an, indem darauf verwiesen wurde, dass zwar »Familie und Herkunft für das Heimatbewußtsein wesensnotwendig« seien, es aber schon immer »Wahlheimat« gegeben habe. Das bedeute, dass »Kinder von Heimatvertriebenen schnell heimisch werden, wenn die Bedingungen günstig sind«. Damit wurde den jüngeren Generationen die Möglichkeit eröffnet, sich neu beheimaten zu können. Für die älteren sah das etwas anders aus: Das »Heimweh nach der verlorenen H. [kann] sich bis zu körperlichen Krankheitserscheinungen steigern.«35 Nach mehr als 50 Jahren galt Heimweh damit erneut als Krankheit. Diese diskursive Einrahmung erschien notwendig, um den Verlustgefühlen der »Heimatvertriebenen« Legitimität zuzusprechen und damit auch gesellschaftspolitisch Signale der Anerkennung der spezifischen Situation der Geflüchteten zu senden. Denn die Frage, wie mit den Forderungen nach »dem Recht auf Heimat« der neugegründeten Heimatverbände angesichts der Konfliktlinien im Kalten Krieg umzugehen sei, war für die bundesrepublikanische Nachkriegspolitik alles andere als einfach.

Das Foto der jungen Bannerträger zum Pfingsttreffen heimatvertriebener Pommern in Bochum im Juni 1960 zeigt, wie das Verlustgefühl den Anspruch auf Heimat auch generationsübergreifend begründete. Die Formel »Pommern gehört uns« hatte dabei eine durchaus aggressive Konnotation. (picture-alliance/Wolfgang Hub)
Das Foto der jungen Bannerträger zum Pfingsttreffen heimatvertriebener Pommern in Bochum im Juni 1960 zeigt, wie das Verlustgefühl den Anspruch auf Heimat auch generationsübergreifend begründete. Die Formel »Pommern gehört uns« hatte dabei eine durchaus aggressive Konnotation.
(picture-alliance/Wolfgang Hub)

Solange eine Rückkehr in die Heimat nicht möglich war, pflegten die »Heimatvertriebenen« emotionale Ersatzpraktiken der »Beheimatung«,36 um das Heimweh in den Griff zu bekommen. Ab 1950 gibt es jährlich im August/September den »Tag der Heimat«. Die Geflüchteten und Vertriebenen gründeten in der Bundesrepublik Landsmannschaften und Verbände, 1957 schlossen sie sich zum Bund der Vertriebenen zusammen. In den Heimatvereinen und den »ostdeutschen Heimatstuben« pflegten die Menschen ihre Kultur, ihre Bräuche, sangen ihre Lieder, tanzten ihre Tänze und kochten ihr Essen, getrieben von der Sehnsucht nach dem konkreten Ort sowie dem im »Brockhaus« beschriebenen Verlust der »Gemütsbindung« und des Gefühls des »Daheim-Geborgen-Seins«.37 Anders als in den medizinischen und psychologischen Diskursen der Jahrhunderte zuvor war Heimweh nun weder ein individuelles Problem noch führte es zur Vereinzelung. Stattdessen wurde es ein verbindendes Gefühl, die Eintrittskarte zur neuen Zugehörigkeitsgemeinschaft jenseits von Heimat.

Die böhmische Bauernfidel in der Vitrine der Iglauer Heimatstube in Heidenheim steht für die heimatliche Volksmusik, für traditionelle Feiern und Feste. (Foto: Michal Urban, 2020)
Die böhmische Bauernfidel in der Vitrine der Iglauer Heimatstube in Heidenheim steht für die heimatliche Volksmusik, für traditionelle Feiern und Feste.
(Foto: Michal Urban, 2020)

Das Heimweh, das an die konkrete Verlusterfahrung des Herkunftsortes gekoppelt war, unterschied sich von einer anderen Form des Heimwehs, die sich parallel dazu in der bundesrepublikanischen Gesellschaft beobachten lässt. Dieses andere Heimweh bezog sich auf den empfundenen Verlust von Geborgenheitsgefühlen, wie man sie aus vergangenen Zeiten zu erinnern glaubte. Diese Stimmungslage äußerte sich in einem »ängstliche[n] Sicherheitsbestreben« kombiniert mit »rückwärts­gewandter Sehnsucht«, die die Vergangenheit als besonders harmonisch, glücklich und vollkommen projizierte.38 »So schön, schön war die Zeit«, besang Freddy Quinn symptomatisch dieses Heimweh in dem gleichnamigen Schlager, der 1956 ganze 21 Wochen lang der Nummer-1-Hit der Bundesrepublik war und damit bis heute zu den Liedern mit der längsten Verweildauer an der Spitze der deutschen Charts gehört. Solches Sehnen wurde zeitgenössisch ebenfalls als »Heimweh« bezeichnet. Vom Heimweh der Vertriebenen unterschied sich das »nostalgische Heimweh« dennoch grundsätzlich, denn Objekt der Sehnsucht war nun weniger ein verlorener Ort als vielmehr eine verlorene Zeit. Eine Unterscheidung zwischen Heimweh und Nostalgie gab es im zeitgenössischen Diskurs vorerst nicht. 1955 galten beide Begriffe noch als Synonyme.39 In den 1950er- und 1960er-Jahren begann jedoch die Erfolgsgeschichte des Begriffs »Nostalgie«. Die Wortverlaufskurve von Nostalgie erreichte 1976 – parallel zur »Nostalgie-Welle«40 – ihren ersten Höhepunkt.41

Als ortsbezogenes Sehnsuchtsgefühl rückte das Heimweh demgegenüber in den Hintergrund öffentlicher Debatten.42 Parallel dazu lässt sich eine Entemotionalisierung des Begriffs »Heimat« diagnostizieren. Im »Brockhaus« von 1979 findet sich nur noch eine knappe Definition von Heimat, bar aller emotionalen Dimensionen: Heimat sei der »Ort, wo man zu Hause ist, Wohnort und Umgebung oder Geburtsort, Ursprungs- oder Herkunftsland«.43 Das besondere Näheverhältnis von Mensch und Raum, die Zuschreibung von Heimat als Schutzraum und Identitätskonzept, wie es noch zehn Jahre früher ausführlich im Lexikon erläutert worden war, erschien Ende der 1970er-Jahre nicht mehr erwähnungsbedürftig.

3. Die neue Allianz von Nostalgie und Heimweh
als politisches Gefühl

Derzeit lässt sich eine umgekehrte Entwicklung beobachten: Während »Heimat« erneut zu einem besonders emotionalen und damit hochumstrittenen Konzept geworden ist, hat »Nostalgie« im aktuellen Diskurs zwei weitere Bedeutungsveränderungen erfahren. Einerseits wird Nostalgie explizit als Glücksgefühl beschrieben, andererseits wird sie wieder zu einem Sehnen, das nicht mehr nur der verlorenen Zeit, sondern auch dem Raum gilt.

Vor gut zehn Jahren begann die Sozialpsychologie, Nostalgie als Alltagsemotion genauer zu erforschen. Dabei ging es vor allem um die Frage, welche Funktion Nostalgie für die psychische Gesundheit habe, warum also Menschen nostalgisch seien.44 Mit Blick auf den historischen Diskurs konstatierten die Wissenschaftler*innen, dass die Pathologisierung von Nostalgie vor allem auf die »Unwissenschaftlichkeit« der älteren Forschung zurückzuführen sei.45 Mit ihren heutigen Maßstäben psychologischer Forschung erklären die Autor*innen einen drei Jahrhunderte alten historischen Diskurs für hinfällig. Denn Nostalgie habe neuesten Erkenntnissen zufolge im Gegenteil sogar einen positiven Effekt auf das Wohlbefinden der Menschen: Sie führe zu mehr Zukunftsoptimismus, verbessere die Stimmung und steigere das Selbstwertgefühl. Nostalgie mache glücklich, sie sei ein »Schutzmantel für die Seele«.46 Im Zeitalter von »Self-Care« gelingt es den Sozialpsycholog*innen, Nostalgie als Glücksformel für die Stärkung des psychischen Immunsystems anzubieten. Was in dieser spezifischen disziplinären Perspektive weniger beachtet wird, ist die dem Begriff eingeschriebene gesellschaftspolitische Brisanz.47

Im Kontrast dazu steht der gegenläufige Trend, der Nostalgie an die neu entflammten »Heimat«-Debatten bindet. Zunehmend verlaufen nostalgische Praktiken und Diskurse entlang von Choreographien der Identitätsbildung und Stabilisierung, in deren Zentrum Konzepte und Vorstellungen von »Heimat« als Zugehörigkeitsraum stehen. Dies führt zu dem eingangs formulierten Befund, dass Nostalgie in dem Maße politisch ist, wie wir es mit »Politiken der Heimat« oder »Heimat« als politisch umkämpftem Raum zu tun haben.48

Anders als das Team von Sozialpsycholog*innen an der Universität Southampton, das die historische Erzählung von Nostalgie als einem Leiden als »unwissenschaftlich« dekonstruiert, schlägt der US-amerikanische Philosoph und Psychiater Glenn A. Albrecht eine erneute Pathologisierung der nostalgischen Heimwehgefühle vor. Dafür prägte er 2003 den Begriff »Solastalgie«, ein Kofferwort aus Nostalgie und solacium (lat. Trost). Er versteht darunter eine »Earth Emotion«,49 ein Gefühl von »Heimweh in der Heimat«. In seinem Verständnis ist damit nicht nur ein Gefühl benannt, sondern ein »psychoterrastisches« Leiden definiert, das »durch negativ wahrgenommene und empfundene Veränderungen der heimatlichen Umgebung« ausgelöst werde, die man ohnmächtig hinnehmen müsse.50 Die Menschen würden an unerwünschten Veränderungen in der Heimat leiden – dazu zählten Umwelt- und Naturkatastrophen, aber auch Folgen des Klimawandels. Albrecht stellt Solastalgie als »räumlich und zeitlich erfahrene Entfremdung und Enteignung« der »im traditionellen Sinn verstandenen Nostalgie« gegenüber. Für ihn beschreibt erstere eine »existentielle Erfahrung des Verlustes der Gegenwart, manifestiert in einem Gefühl von Desorientierung«.51 Die Verunsicherung, die er als Auslöser der Solastalgie versteht, entstehe aus der Wahrnehmung von unterschiedlichen Geschwindigkeiten: Die Welt um mich herum verändert sich so schnell, ich komme nicht hinterher. Gründe für solche Veränderungen gibt es viele; Albrecht hebt den Klimawandel heraus. Wie das frühe Heimweh beschreibt der Psychiater auch Solastalgie als ernstzunehmende Krankheit. Diese Pathologisierung legitimiert die Mittel der Heilung. Ließ sich das Heimweh des 18. und 19. Jahrhundert nur durch die Rückkehr in die verlassene Heimat heilen, sei die »Medizin« gegen die Solastalgie, »Dinge zu schützen und zu erhalten – und zwar sowohl in der Gegenwart als auch der Zukunft«.52 Hier zeigt sich, welches Potential die Rede vom modernen Heimweh, von Solastalgie, für rechtspopulistische Ideen haben kann. Wenn nur die Rückkehr in den angeblichen Urzustand, d.h. das Abwehren und Rückgängigmachen aller Veränderungen, Heilung von dieser »Krankheit« verspricht, schließt sich der Bogen zur eingangs zitierten Bertelsmann-Studie, die Nostalgiker*innen eine besonders skeptische Sicht auf Migration und besonders große Angst vor Terrorismus zuschreibt.

4. Fazit: Politische Heimatgefühle

Der französische Anthropologe Bruno Latour meinte 2020: »[A]us welchem Land wir auch stammen, [wir erleben] eine allgemeine Krise des Verlustes unseres Selbst und unseres Grund und Bodens.«53 Ein solches »allgemeines Verlustgefühl« kristallisiert sich in der Solastalgie, die zunehmend im Internet ihren Resonanzraum findet. Ebenfalls 2020 wurde sie im Internetblog »Geist und Gegenwart« – nach eigenen Angaben geschrieben von »philosophischen Praktikern« – zur »Krankheit des 21. Jahrhunderts« erhoben.54 Als neuer Heimwehbegriff soll Solastalgie, wie jahrhundertelang das Heimweh, zur Orientierung in Zeit und Raum dienen. Sie stellt eine so wirkmächtige Gefühlsdisposition dar, weil ihr Bezugspunkt Vorstellungen von konkreten und unversehrten Räumen der Zugehörigkeit und Vertrautheit – von »Heimat« – sind. Latour zufolge haben wir es heute mit einem besonders gravierenden Zeitenwandel zu tun, begründet durch die weltweiten Fluchtbewegungen sowie die merklichen Anzeichen des Klimawandels55 und (so sei hier ergänzt) ganz aktuell die grundlegenden Veränderungen unseres Alltags in Zeiten der Corona-Pandemie. Mit der Sehnsucht nach Wiederherstellung des Status quo ante verbunden ist der Wunsch nach Sicherheit, Planbarkeit, Vertrautheit, damit nach persönlicher Handlungsfähigkeit in einer sich rasch verändernden Welt. Daher, so die These, begleiten moderne Nostalgiediskurse auch Ausgrenzungsdebatten, die in die Abwehr von Veränderungen und in Xenophobie münden können. Zum Beispiel demonstriert der Essayband »Eure Heimat ist unser Albtraum«, wie das Reden von »Heimat« und »Beheimatung« zu Praktiken nicht nur der Inklusion, sondern auch der Exklusion führt.56 Die Beiträge von Menschen unterschiedlicher Herkünfte und Blickwinkel zeigen, dass »Heimat« keineswegs selbstverständlich ist – und wie »Beheimatung« in Deutschland angesichts alltäglicher, rassistisch motivierter Ausgrenzung scheitern kann.

Das Wahlplakat der »Kieler Liste für Ausländer-Begrenzung« vom Februar 1982 nahm das von den Vertriebenenverbänden eingeforderte »Recht auf Heimat« als Argument gegen Zuwanderung in die Bundesrepublik. Damit wurde »Heimat« zu einer Ausgrenzungskategorie der vermeintlichen Mehrheitsgesellschaft gegen »Fremde«. (picture-alliance/Klaus Rose)
Das Wahlplakat der »Kieler Liste für Ausländer-Begrenzung« vom Februar 1982 nahm das von den Vertriebenenverbänden eingeforderte »Recht auf Heimat« als Argument gegen Zuwanderung in die Bundesrepublik.
Damit wurde »Heimat« zu einer Ausgrenzungskategorie der vermeintlichen Mehrheitsgesellschaft gegen »Fremde«.
(picture-alliance/Klaus Rose)

Es lässt sich vermuten, dass die Suche nach Sicherheit, Geborgenheit und Zugehörigkeit von vielen Seiten des politischen Spektrums weiterhin nachdrücklich betrieben wird. Damit verbunden ist dann auch die Definition dessen, was Unsicherheit bedeutet, die Festlegung darauf, wer ein Anrecht auf welche Zugehörigkeit hat und wem welcher Raum von Geborgenheit zusteht. Es gilt deshalb, einen historisch geschulten, kritischen Blick auf die verschiedenen gesellschaftlichen Ausprägungen von Nostalgie zu haben, sich dabei der Ambivalenzen dieses Gefühls bewusst zu bleiben und im Zweifel nostalgische Praktiken als rassistisch, antisemitisch, ausgrenzend zu entlarven.


Anmerkungen:

2 Catherine E. de Vries/Isabell Hoffmann, Die Macht der Vergangenheit. Wie Nostalgie die öffentliche Meinung in Europa beeinflusst. eupinions #2018/2, Bertelsmann Stiftung, November 2018.

3 So geschehen bei Horst Kahrs, »Europa« im Zangengriff der Polarisierung? Wie die komplexen europäischen Verhältnisse einfach erklärt werden, damit sich wenig ändert. Rosa Luxemburg Stiftung, Institut für Gesellschaftsanalyse, Arbeitspapier 1/2019, April/Mai 2019. Kahrs kritisiert ausführlich die spezifisch polarisierende Deutung der Umfrageergebnisse, S. 17-19.

4 de Vries/Hoffmann, Die Macht der Vergangenheit (Anm. 2), S. 3.

5 Ebd., S. 13.

6 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Zweiter Theil, Wien 1808, Sp. 1084.

10 Jens Jäger, Heimat, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 9.11.2017.

11 So das nachdrückliche Statement von Beate Binder, Politiken der Heimat, Praktiken der Beheimatung, oder: Warum das Nachdenken über Heimat zwar ermattet, aber dennoch notwendig ist, in: Dana Bönisch/Jil Runia/Hanna Zehschnetzler (Hg.), Heimat Revisited. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf einen umstrittenen Begriff, Berlin 2020, S. 85-105, hier S. 85.

12 Siehe neben dem zuvor genannten Sammelband etwa Edoarda Costadura/Klaus Ries/Christiane Wiesenfeldt (Hg.), Heimat Global. Modelle, Praxen und Medien der Heimatkonstruktionen, Bielefeld 2019.

13 Vgl. Simon Bunke, Heimweh. Studien zur Kultur- und Literaturgeschichte einer tödlichen Krankheit, Freiburg 2009, S. 35.

14 Ebd., S. 25f.

15 Johannes Hofer, Dissertatio medica de nostalgia, oder Heimwehe, Basel 1688; vgl. Bunke, Heimweh (Anm. 13), S. 26f.

16 Bunke, Heimweh (Anm. 13), S. 83.

17 Ebd., S. 35.

18 Jean-Jacques Rousseau, Dictionnaire de Musique, Paris 1768, S. 398f. Deutsche Version aus: ders., Musik, Kuhreihen und Schweizer Heimweh, in: Du. Kulturelle Monatsschrift 7 (1947) H. 8, S. 31.

19 Vgl. Paul Helmer, De nostalgie – vom Mythos des Kuhreihens, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 79 (1983), S. 134-150, hier S. 138.

20 Bunke, Heimweh (Anm. 13), S. 131; Susan Matt, Homesickness. An American History, Oxford 2011, S. 5. Auch hier war es den Soldaten verboten, ein bestimmtes Lied anzustimmen: »Home, sweet home« (1823, John Howard Paye, Henry Rowley Bishop).

21 Vgl. auch Bunke, Heimweh (Anm. 13), S. 24f.; Rudolf Bernet, Heimweh und Nostalgie, in: Katrin Busch/Iris Därmann (Hg.), »Pathos«. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffes, Bielefeld 2007, S. 103-118, hier S. 109.

22 Vgl. Karl Jaspers, Heimweh und Verbrechen, Leipzig 1909 (Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Hohen Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg).

23 Vgl. Juliane Brauer, Heidis Heimweh, in: Ute Frevert u.a., Wie Kinder fühlen lernten. Kinderliteratur und Erziehungsratgeber 1870–1970, Weinheim 2021, S. 258-281.

24 Johanna Spyri, Heidis Lehr- und Wanderjahre, Gotha 1880. Vgl. auch Annie Pfeiffer, Between Hysteria and ›Heimweh‹. Heidi’s Homesickness, in: German Life and Letters 72 (2019) H. 1, S. 52-63.

25 Spyri, Heidis Lehr- und Wanderjahre (Anm. 24), S. 136.

26 Gustav Siegert, Art. »Heimweh«, in: Wilhelm Hein (Hg.), Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Bd. 4, Langensalza 1897, S. 186.

27 Ebd.

28 S.P. Widmann, Art. »Heimweh«, in: Otto Willmann/Ernst M. Roloff (Hg.), Lexikon der Pädagogik, Bd. 2, Freiburg 1913, Sp. 703-705, hier Sp. 705.

29 Vgl. Brauer, Heidis Heimweh (Anm. 23).

30 Claudia Grenz, Mädchenliteratur. Von den moralisch-belehrenden Schriften im 18. Jahrhundert bis zur Herausbildung der Backfischliteratur im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1981.

31 Erich Kästner, Das doppelte Lottchen. Ein Roman für Kinder, Zürich 1949, S. 7.

32 Gregor Müller, Art. »Heimweh«, in: Deutsches Institut für Wissenschaftliche Pädagogik, München/Institut für Vergleichende Erziehungswissenschaft, Salzburg/Heinrich Rombach (Hg.), Lexikon der Pädagogik, Bd. 2: Fest, Feier – Klug, Freiburg 1953, Sp. 657-658.

33 »Charta der deutschen Heimatvertriebenen«, 5.8.1950, URL: <https://www.bund-der-vertriebenen.de/charta>. Siehe dazu Kurt Nelhiebel, 60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Ursprung und Rezeption eines Dokuments, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 58 (2010), S. 730-743; Matthias Stickler, 70 Jahre Unterzeichnung der Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Anmerkungen zu einem oft missverstandenen Dokument, in: Historisch-Politische Mitteilungen 27 (2020), S. 117-131.

34 Andreas Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, Berlin 2008, S. 16.

35 Alle Zitate aus: Art. »Heimat«, in: Der Große Brockhaus, Bd. 5: Gp –Iz, 16. Aufl. Wiesbaden 1954, S. 351-352, hier S. 351, Hervorhebungen im Original. Fast derselbe Wortlaut findet sich in der Auflage von 1969.

36 Zum Begriff vgl. Binder, Politiken der Heimat (Anm. 11).

37 Vgl. auch Ulrike Präger, Longing for Belonging in Forced Migration: Musical Recollections of Germans from the Bohemian Lands, in: Magdalena Waligórska (Hg.), Music, Longing und Belonging. Articulations of the Self and the Other in the Musical Realm, Cambridge 2013, S. 157-175; Cornelia Eisler, Verwaltete Erinnerung – symbolische Politik. Die Heimatsammlungen der deutschen Flüchtlinge, Vertriebenen und Aussiedler, München 2015.

38 Vgl. Axel Schildt/Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 97f.

39 Vgl. das Lemma »Nostalgie«, in: Der große Brockhaus in zwölf Bänden, Bd. 8, Wiesbaden 1955, S. 471.

40 Tobias Becker, Rückkehr der Geschichte? Die »Nostalgie-Welle« in den 1970er und 1980er Jahren, in: Fernando Esposito (Hg.), Zeitenwandel. Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom, Göttingen 2017, S. 93-117, hier S. 94. In Großbritannien und den USA setzte diese »Welle« mit »Hippie«- und »Back to the Nature«-Bewegung bereits ein paar Jahre eher ein.

42 Die Wortverlaufskurve für »Heimweh« erreichte Mitte der 1970er-Jahre ihren Tiefpunkt: <https://www.dwds.de/wb/Heimweh>.

43 Art. »Heimat«, in: Der große Brockhaus in 12 Bänden, Bd. 5, 18. Aufl. Wiesbaden 1979, S. 345.

44 Vgl. Johannes Seehusen/Kai Epstude/Tim Wildschut/Constantine Sedikides, Macht uns Retro glücklich? Über die Bedeutung von Nostalgie für das psychische Wohlbefinden, in: The Inquisitive Mind 1/2016.

45 Ebd.

46 Pia Heinemann, Wozu sind nostalgische Gefühle eigentlich gut?, in: Welt Online, 28.12.2009.

47 Anm. der Red.: Siehe jedoch auch den Beitrag von Tim Wildschut, Constantine Sedikides und Anouk Smeekes im vorliegenden Heft.

48 Vgl. Binder, Politiken der Heimat (Anm. 11), S. 86.

49 Glenn A. Albrecht, Earth Emotions. New Words for a New World, Ithaca 2019.

50 Ders., Solastalgie. Heimweh in der Heimat, in: Norbert Jung/Heike Molitor/Astrid Schilling (Hg.), Vom Sinn der Heimat. Bindung, Wandel, Verlust, Gestaltung – Hintergründe für die Bildungsarbeit, Opladen 2014, S. 47-60, hier S. 47, S. 50.

51 Ebd., S. 51.

52 Ebd.

53 Bruno Latour, Heimat: Der Planet rebelliert. Der Boden unter unseren Füßen schwindet, in: Bönisch/Runia/Zehschnetzler, Heimat Revisited (Anm. 11), S. 273-278, hier S. 273.

55 Latour, Der Planet rebelliert (Anm. 53), S. 273f.

56 Fatma Aydemir/Hengameh Yaghoobifarah (Hg.), Eure Heimat ist unser Albtraum, Berlin 2019.

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