Disability History

Behinderung sichtbar machen: Emanzipationsbewegung und Forschungsfeld

Anmerkungen

Was verrät der Umgang mit Behinderung über moderne Gesellschaften? Während in Arbeiten von Disability Historians zu lesen ist, dass die Linse »Behinderung« einen ganz neuen, kritischen Blick auf Kultur und Gesellschaft und ihren Umgang mit Diversität ermögliche,1 erweckt die Durchsicht der großen Synthesen etwa zur bundesrepublikanischen Zeitgeschichte den Eindruck, dass es offenbar auch ohne diese Kategorie geht.2 Weder kommen Menschen mit Behinderung dort vor, noch wird »Behinderung« als Strukturkategorie verstanden. Dies erstaunt umso mehr, als die Relevanz des Phänomens nicht bestritten werden kann: Etwa ein Siebtel der Weltbevölkerung lebt mit einer körperlichen, seelischen oder kognitiven Behinderung. In der Bundesrepublik ist dieser Wert kaum niedriger.3 Der Anteil derjenigen, die wir heute als Menschen mit Behinderungen bezeichnen würden, dürfte in früheren Gesellschaften – legt man zum Beispiel die an Teilhabechancen orientierte Definition des deutschen Sozialgesetzbuches (SGB) IX zugrunde4 – mitunter noch größer gewesen sein. Die Geschichte dieser Menschen und des gesellschaftlichen Umgangs mit ihnen wurde von der historischen Forschung lange Zeit vernachlässigt. Die seit den 1980er-Jahren im Kontext der angelsächsischen Emanzipationsbewegung entstandene Disability History rückt beides ins Zentrum.5

Dabei bedient sie sich grundsätzlich des ganzen Methodenarsenals der Geschichtswissenschaft und durchlebt deren Turns, ist aber besonders mit der Sozialgeschichte verbunden. Von der Medizingeschichte, die über lange Zeit hinweg die historische Forschung über chronische Krankheit und Behinderung geprägt hat, grenzt sich die Disability History zu einem gewissen Grad ab, denn sie versteht Behinderung als ein soziokulturelles Phänomen, nicht als individuellen, medizinisch objektivierten Zustand. In den letzten Jahren sind verstärkt kulturgeschichtliche Zugänge hinzugekommen. Im deutschsprachigen Raum hat sich die Disability History seit den 2000er-Jahren etabliert. Wenngleich die Publikationsintensität bisher geringer ist als im angelsächsischen Raum, zeugen von dieser Etablierung inzwischen Literaturberichte, Handbücher und Einführungen ebenso wie der stetig wachsende Forschungsstand.6 In der akademischen Lehre werden Inhalte der Disability History wie auch der Disability Studies besonders an den Hochschulen für angewandte Wissenschaften vermittelt, doch es gibt beispielsweise in Köln, Bremen und Kiel auch eine entsprechende Schwerpunktsetzung an Volluniversitäten. Anders als im angelsächsischen Raum werden bisher in Deutschland keine BA- oder MA-Studiengänge in Disability History angeboten.

Die Disability History kann als ein Arbeitsfeld mit offenen Grenzen charakterisiert werden. Die meisten Forscher:innen reflektieren in ihren Arbeiten die aktivistischen Ursprünge dieser Subdisziplin, doch das Feld hat sich auch in einer Weise weiterentwickelt, die stark der Entwicklung der Frauen- und Geschlechtergeschichte ähnelt: Kompensatorisch-advokatorische Zielsetzungen wurden von einem breiteren wissenschaftlichen Blick auf Gesellschaft und Kultur abgelöst. So ist die Disability History im Grunde anschlussfähig an alle anderen Bereiche und Zugänge der Geschichtswissenschaft. Sie teilt mit den Gender Studies, den Race and Ethnicity Studies und anderen überfachlichen Querschnittsfeldern das Interesse für eine soziokulturelle Strukturkategorie und deren intersektionale Überschneidungen, insbesondere einen Blick für gesellschaftliche Machtkonstellationen und -asymmetrien, Inklusions- und Exklusionsmechanismen.7

Je mehr Menschen mit Behinderungen seit den 1970er-Jahren ihre eigenen Sichtweisen öffentlich machten, desto deutlicher wurden die alltäglichen und strukturellen Diskriminierungen für die Gesellschaft erkennbar. Das hier gezeigte Cover des Buches »Geschlecht: behindert, besonderes Merkmal: Frau«, herausgegeben von Silke Boll u.a. (München: Arbeitsgemeinschaft Sozialpolitischer Arbeitskreise [AG SPAK] 1985 [und öfter]), steht beispielhaft für diese Selbstthematisierungen. Im Buch beschrieben Frauen mit Behinderungen, wie Sozialrecht, Rehabilitationswesen und Medizin sie doppelt benachteiligten. Sie lenkten zudem erstmals den Blick auf unterschiedliche Formen von Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen, darunter auch sexualisierte Gewalt. Siehe zu diesem Band auch den Essay von Sebastian Schlund im vorliegenden Heft.
Je mehr Menschen mit Behinderungen seit den 1970er-Jahren ihre eigenen Sichtweisen öffentlich machten, desto deutlicher wurden die alltäglichen und strukturellen Diskriminierungen für die Gesellschaft erkennbar. Das hier gezeigte Cover des Buches »Geschlecht: behindert, besonderes Merkmal: Frau«, herausgegeben von Silke Boll u.a. (München: Arbeitsgemeinschaft Sozialpolitischer Arbeitskreise [AG SPAK] 1985 [und öfter]), steht beispielhaft für diese Selbstthematisierungen. Im Buch beschrieben Frauen mit Behinderungen, wie Sozialrecht, Rehabilitationswesen und Medizin sie doppelt benachteiligten. Sie lenkten zudem erstmals den Blick auf unterschiedliche Formen von Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen, darunter auch sexualisierte Gewalt. Siehe zu diesem Band auch den Essay von Sebastian Schlund im vorliegenden Heft.

Charakteristisch für das Feld sind Kontroversen über die heuristische Reichweite seines zentralen Begriffs »Behinderung«, welche sich auch in den Beiträgen dieses Hefts abbilden. Gemeint ist damit erstens das methodische Problem, die heutige, stark wissenschaftsbasierte WHO-Klassifikation von Behinderung oder den medial vermittelten Kollektivbegriff »behindert« für die Untersuchung vergangener Gesellschaften zu benutzen, die diese Begriffe nicht hatten. Trotz solcher Schwierigkeiten können die Termini aber auch für weiter zurückliegende Zeiträume als erkenntnisleitende, heuristische Kategorien gewinnbringend sein.8 Zudem sollte unabhängig von der untersuchten Epoche Behinderung ohnehin als kontingent und historisch verstanden werden. Die Historisierung von Deutungen wahrgenommener oder zugeschriebener physischer oder psychischer Merkmale (embodied differences) als »Behinderungen« ist mithin ein genuiner Analysegegenstand der Disability History.

Zweitens wird neben diesem methodischen Problem die grundsätzliche Frage diskutiert, welchen Ort die Kategorie »Behinderung« überhaupt in der geschichtswissenschaftlichen Landschaft einnehmen soll. Dazu haben sich zwei Grundpositionen etabliert. Manche Historiker:innen sehen in der Disability History die Geschichte von Menschen mit Behinderungen inklusive der Geschichte des gesellschaftlichen Umgangs mit ihnen. Aus dieser Perspektive ist Disability History in erster Linie eine wichtige Erweiterung des Spektrums geschichtswissenschaftlicher Forschungsthemen, die auch als Korrektiv und Feinjustierung übergreifender Meistererzählungen fungieren könne.9 Disability History in dieser Form eröffnet neue, kritische Einblicke in die soziokulturellen Dynamiken der jüngeren Vergangenheit. Sie hat das Potential, Fortschrittserzählungen der Zeitgeschichte wie Individualisierung, Liberalisierung oder Pluralisierung mithilfe der Analysekategorie Disability zu hinterfragen oder zumindest zu nuancieren. Darüber hinaus kann sie Traditionsbildungen in Frage stellen, etwa die oft linear als Erfolgsgeschichte erzählte Entwicklung der europäischen Wohlfahrtsstaaten, aber auch wenig komplexe Narrative von ubiquitärer Ausgrenzung in kapitalistischen Systemen, die manche der frühen Arbeiten aus der Emanzipationsbewegung enthielten.10 Die Disability History bringt in die Forschung zur Geschichte sozialer Ungleichheiten zudem eine weitere Differenzkategorie ein. Ein Risiko besteht freilich darin, dass eine derartige Teil-Geschichte bestehende Vorstellungen von »normal« oder »Mainstream«, »anders« oder »besonders« dauerhaft festschreibt, wenn etwa Behinderung, Race oder Geschlecht immer nur die »besondere« Perspektive ist.

Das Plakat einer Caritas-Sammlung aus dem Jahr 1972 zeigt ein Mädchen oder eine sehr kindlich wirkende Frau mit Zopf im Rollstuhl. Die Person beugt sich zu einer Blume hinab, kann sie aber nicht erreichen. Das Plakat mit der Überschrift »Hilf einen Schritt weiter« steht für die Vielzahl von Bildern, die eine spezifische Sicht von Institutionen und Menschen ohne Behinderungen wiedergeben. Handelt es sich um Fotos, wurden sie früher häufig ohne Zustimmung der abgebildeten Personen aufgenommen. (Archiv des Deutschen Caritasverbandes)
Das Plakat einer Caritas-Sammlung aus dem Jahr 1972 zeigt ein Mädchen oder eine sehr kindlich wirkende Frau mit Zopf im Rollstuhl. Die Person beugt sich zu einer Blume hinab, kann sie aber nicht erreichen. Das Plakat mit der Überschrift »Hilf einen Schritt weiter« steht für die Vielzahl von Bildern, die eine spezifische Sicht von Institutionen und Menschen ohne Behinderungen wiedergeben. Handelt es sich um Fotos, wurden sie früher häufig ohne Zustimmung der abgebildeten Personen aufgenommen.
(Archiv des Deutschen Caritasverbandes)

Andere Forscher:innen hingegen verstehen Dis/ability deutlich umfassender. Sie plädieren dafür, die Analyse jedweder normativer Denkweisen in »verkörperten Andersartigkeiten«, die beispielsweise auch für Diskriminierungen und Privilegierungen aufgrund von Geschlecht und Race charakteristisch sind, zum Ausgangspunkt einer neuen Geschichtsschreibung zu machen.11 Über die Erforschung von Dis/ability können, so die Annahme, zentrale Funktionsmechanismen gerade moderner Gesellschaften untersucht werden.12 Der Auftrag der Disability History, die aus gesellschaftlichem Aktivismus hervorging und mit ihm verknüpft blieb, sei es, durch die Untersuchung der historischen Gewordenheit unserer gegenwärtigen Umgangsweisen mit Differenz dazu anzuregen, diese zu prüfen und eventuell Orientierungswissen zu entwickeln, welches andere Umgangsweisen ermögliche. Dabei sollten Disability Historians normative Diskurse in besonderem Maße reflektieren13 und auch ihr eigenes Tun kritisch beobachten, denn als Angehörige des Systems Wissenschaft produzieren und verbreiten sie nicht nur bestimmte Bilder und Konzepte von Behinderung, sondern sind oft selbst Teil systematischer Exklusionsvorgänge. Dazu gehört auch ein selbstkritischer Blick auf die Sprache der Historiographie, die noch potentiell abwertende Metaphern oder Begriffe verwendet, die ein veraltetes Verständnis von Behinderung enthalten. Dabei geht es nicht nur um die Problematik der Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdbeschreibung, sondern auch um die unreflektierte Nutzung historischer Begriffe im aktuellen Sprachgebrauch.14

Vier Mitglieder der integrativen Wohngemeinschaft des Münchner Vereins »Gemeinsam Leben Lernen« auf einer Rikscha unterwegs in ihrem Stadtviertel in den 1990er-Jahren. Junge Menschen mit und ohne Behinderung, die sich in diesem Verein kennengelernt hatten, setzten durch, dass 1989 die erste Wohngemeinschaft »mit und ohne« zusammenziehen konnte. (© Gemeinsam Leben Lernen e.V.)
Vier Mitglieder der integrativen Wohngemeinschaft des Münchner Vereins »Gemeinsam Leben Lernen« auf einer Rikscha unterwegs in ihrem Stadtviertel in den 1990er-Jahren. Junge Menschen mit und ohne Behinderung, die sich in diesem Verein kennengelernt hatten, setzten durch, dass 1989 die erste Wohngemeinschaft »mit und ohne« zusammenziehen konnte.
Gemeinsam Leben Lernen e.V.)

Die genannten konträren Positionen finden sich in gewisser Weise auch in den Essays von Sebastian Schlund und Nina Mackert in diesem Heft. Schlund fordert, Disability History prinzipiell intersektional zu betreiben, also unterschiedliche Kategorien zu koppeln, um Lebenslagen nuancierter zu historisieren.15 Demgegenüber schlägt Mackert vor, nur eine vormals als neutral geltende und übergreifende Kategorie in ihrer Gewordenheit sichtbar zu machen, nämlich die jeweils geltenden »Fähigkeits­normen«.16 Sie plädiert dafür, nicht allein die Geschichte der durch Disability Ausgeschlossenen zu erforschen, sondern den Blick auch auf die durch Ability Ermächtigten zu richten.

Die skizzierten Deutungsdifferenzen über die Zielrichtung der Disability History wurden bisher vor allem essayistisch oder in Theoriemodellierungen ausgefochten. Die deutschsprachige Disability History hat seit ihrem Bestehen eine ganze Reihe von empirischen Studien hervorgebracht, von denen einige in die Zeitgeschichte fallen. Bis vor wenigen Jahren lag der Schwerpunkt dabei eher auf ideen- und politikgeschichtlichen Studien. Besondere Aufmerksamkeit erhielten Themenbereiche wie die Eugenik, der nationalsozialistische Kranken- und Behindertenmord,17 die Sozialpolitik und sozialstaatliche Interventionen18 sowie die Geschichte einzelner Institutionen.19 Viele der mittlerweile erschienenen Studien zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen verwenden das soziale Erklärungsmodell von Behinderung, dessen sozialkonstruktivistischem Ansatz zufolge Behinderung aus einem Zusammenspiel von Wissenschaft, Gesellschaft, Politik, Ökonomie und Kultur hervorgeht.20 Behinderung ist demnach zwar durch wahrnehmbare verkörperte Unterschiede, Verhaltensweisen oder Beeinträchtigungen (intellektueller oder physischer Art) gekennzeichnet. Aber erst durch Barrieren, zum Beispiel mentaler, sozialer oder baulicher Art, die die Teilhabe beeinträchtigter Menschen am gesellschaftlichen Leben verhindern, entstehe die tatsächliche Behinderung.

Insbesondere Machtkonstellationen und die Frage, wie Teilhabekonjunkturen von Menschen mit Behinderungen mit gesamtgesellschaftlichen Machtfragen verwoben sind, beschäftigen die Disability History. In ihrem Beitrag zu diesem Heft widmet sich Ulrike Winkler der Alltagsgeschichte behinderter Menschen in der DDR, indem sie die gebaute Umgebung als Untersuchungsgegenstand begreift.21 Sie zeigt, dass die Rehabilitation von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen im SED-Staat nicht nur als gesellschaftspolitisches Desiderat, sondern zunehmend auch als architektonische Planungsaufgabe begriffen wurde. Die als »geschädigt« bezeichneten Bürger:innen sollten am »Aufbau des Sozialismus« mitwirken. Winkler schildert, wie die Betroffenen in ihrem Alltag mit den baulichen Barrieren bzw. den für sie konzipierten baulichen Veränderungen umgingen und welche Reaktionen sie dabei in ihrer Umgebung antrafen.

Derartige Fragen sind nicht an ein bestimmtes politisches System gebunden. Nicholas Watson untersucht anhand US-amerikanischer und britischer Beispiele, inwieweit Rollstühle als medizinische Geräte sowohl zur strukturellen Ausgrenzung als auch zur Emanzipation von Rollstuhlfahrer:innen beitrugen. Er arbeitet heraus, dass die Nutzung von Rollstühlen jenseits des medizinischen Bereichs zu einem Symbol für Normabweichung avancierte, was sich auch in der barrierereichen Stadtarchitektur zeigte. Für Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, war dieses Hilfsmittel jedoch vor allem ein Instrument der Teilhabe und gesellschaftlichen Eingliederung. Anhand des Spannungsfeldes von In- und Exklusion verdeutlicht Watson damit die Chancen, Prothetik sowie Mobilitätshilfen als historische Quellen zu begreifen.

Das Foto zeigt – idealisiert – die Verständigung in Amerikanischer Gebärdensprache (<em>American Sign Language</em>, ASL) mithilfe der in den 1960er-Jahren noch neuen Technik der Bildtelefonie. Ein Student führt hier auf der New Yorker Weltausstellung 1965 ein solches Gespräch am Stand des Herstellers. Abbildungen wie diese machen auf Innovationen der Hilfsmitteltechnik aufmerksam, sagen aber nichts über deren Verbreitung und Zugänglichkeit aus. Solche Fotos zeigen technizistische Fortschrittsversprechen, die kritisch zu hinterfragen sind. Selbst in den USA waren derartige Bildtelefone kaum verbreitet. In Deutschland gab es fast gar keine. Selbst die in den 1970er-Jahren käuflichen Schreibtelefone besaßen nur wenige Privathaushalte. Technik dieser Art erleichtert Menschen mit Hörbehinderungen die Kommunikation nur dann, wenn ihr Gegenüber ebenfalls darüber verfügt. Das war bei Bild- und Schreibtelefonen aber nicht der Fall, nicht einmal bei öffentlichen Stellen oder Behörden. Erst flächendeckend verfügbare Faxgeräte, die SMS-Funktion von Handys sowie später die Messenger-Apps und Videochats erweiterten wirklich die Kommunikationsmöglichkeiten sowohl für Gebärdensprachen als auch für Schriftsprachen.  (picture-alliance/AP Images)
Das Foto zeigt – idealisiert – die Verständigung in Amerikanischer Gebärdensprache (American Sign Language, ASL) mithilfe der in den 1960er-Jahren noch neuen Technik der Bildtelefonie. Ein Student führt hier auf der New Yorker Weltausstellung 1965 ein solches Gespräch am Stand des Herstellers. Abbildungen wie diese machen auf Innovationen der Hilfsmitteltechnik aufmerksam, sagen aber nichts über deren Verbreitung und Zugänglichkeit aus. Solche Fotos zeigen technizistische Fortschrittsversprechen, die kritisch zu hinterfragen sind. Selbst in den USA waren derartige Bildtelefone kaum verbreitet. In Deutschland gab es fast gar keine. Selbst die in den 1970er-Jahren käuflichen Schreibtelefone besaßen nur wenige Privathaushalte. Technik dieser Art erleichtert Menschen mit Hörbehinderungen die Kommunikation nur dann, wenn ihr Gegenüber ebenfalls darüber verfügt. Das war bei Bild- und Schreibtelefonen aber nicht der Fall, nicht einmal bei öffentlichen Stellen oder Behörden. Erst flächendeckend verfügbare Faxgeräte, die SMS-Funktion von Handys sowie später die Messenger-Apps und Videochats erweiterten wirklich die Kommunikationsmöglichkeiten sowohl für Gebärdensprachen als auch für Schriftsprachen.
(picture-alliance/AP Images)

Mit dem Cultural Turn kam eine neue Sensibilität für Benennung und Symbolik, Diskurse und Repräsentationen sowie kulturwissenschaftliche Ansätze in die Disability History.22 Seither kann diese stärker auch Wissensordnungen und Prozesse der Kategorisierung sowie Inszenierungen, Bild- und Textsprachen von Behinderung analysieren.23 Raphael Rössel betrachtet in der Rubrik »Neu gesehen« die ZDF-Serie »Unser Walter« (1974). Erstmals zeigte diese Spielfilmreihe der westdeutschen Fernsehöffentlichkeit, wie ein Mensch mit einer geistigen Behinderung aufwuchs. Jede Folge präsentierte ein Lebensjahr des Protagonisten Walter Zabel und die sich wandelnden Herausforderungen, vor denen seine Familie stand. Flankiert wurde dies von dokumentarischen Kurzbeiträgen über die seit den 1950er-Jahren erwirkten infrastrukturellen Fortschritte durch Initiativen wie »Lebenshilfe« oder »Aktion Sorgenkind«.24 Anhand von Serienausschnitten, archivalischen Telefonprotokollen des ZDF und Medienberichten erschließt Rössel die doppelte Wirkweise der Sendung. Während sie einerseits der bundesdeutschen Mehrheit weithin unbekannte Lebenswelten präsentierte und viele Zuschauer:innen für die Problemlagen von Menschen mit Trisomie 21 sensibilisierte, lieferte sie andererseits eine fortschrittsoptimistische und geschlechterkonservative Musterlösung für den innerfamiliären Umgang mit behinderten Kindern.

Esme Cleall widmet sich in ihrem Beitrag für die Rubrik »Neu gelesen« den Werken des US-amerikanischen Psychologen Harlan Lane (1936–2019), der als Hörender ein Programm für die Amerikanische Gebärdensprache (American Sign Language, ASL) an der Bostoner Northeastern University mitetablierte. Lane wurde zu einem bekannten und gleichzeitig umstrittenen Fürsprecher der Gehörlosen-Community. Er forderte, dass Gehörlose in den USA als ethnische Minderheit verstanden werden sollten – und nicht als Gruppe, die durch eine Behinderung definiert wird. Diese Position wiederum hatte großen Einfluss auf die Gestaltung der amerikanischen Gehörlosenpolitik. Cleall markiert die Verbindungen zwischen postkolonialer Theorie und Behinderung.

Auch zum alltäglichen Leben von Menschen mit Behinderungen, zu ihren Erfahrungen, ihren Selbstpositionierungen und Interaktionen dringen Disability Historians stärker vor. Dadurch wird ein wesentliches Anliegen der internationalen Disability Studies untermauert, das die Disability History aufgenommen hat: Menschen sollen als Akteur:innen und Subjekte mit ihrer Pluralität von sozialen Rollen, Handlungsspielräumen und Positionen sichtbar werden. Individualität, Alltagshandeln, Selbstorganisation und Selbstbestimmtheit, soziale und politische Partizipation (bzw. deren Begrenzungen) sollen untersucht werden.25

In diese Richtung stößt Michael Rembis mit seinem Beitrag in diesem Heft vor, denn er wählt die Perspektive der Patient:innen, um das Leben in US-amerikanischen psychiatrischen Anstalten des frühen 20. Jahrhunderts zu erforschen. Auf der Basis von veröffentlichten schriftlichen Selbstzeugnissen zeigt er eine scheinbar unvereinbare Mischung aus Bedrängtheit und Einsamkeit, Langeweile und Missachtung, aber auch Freundschaft, Gemeinschaft und Lebensfreude. Seine in der (US-amerikanischen) Tradition der People’s History verortete und am ehesten mit der deutschen Alltagsgeschichte zu vergleichende Studie macht deutlich, dass das (Zusammen-)Leben in den Institutionen aus der Sicht der Bewohner:innen oft deutlich dynamischer war, als es institutionelle Quellen erwarten lassen.

Neuere zeitgeschichtliche Spezialstudien über Heime und Einrichtungen zeigen unter anderem, wie Grenzen zwischen »Andersheit« bzw. »Normalität« gezogen, inszeniert und gelebt wurden.26 Obwohl in den Quellen vieles nur durch den vermittelnden Blick der jeweiligen Institution überliefert ist, lassen sich aus ihnen doch auch individuelle Perspektiven erfassen, insbesondere wenn ergänzende Interviews mit Zeitzeug:innen möglich sind.

Die Zusammenschau des Forschungsstandes legt nahe, dass die Kategorie Behinderung nicht allein Gegenstand von Arbeiten der Disability History bleiben sollte, sondern umfassend in die zeitgeschichtliche Forschung eingebettet werden muss. Anfangs war ein engerer Rahmen nötig, eine Art Sektorengeschichte, um die Analysekategorie »Behinderung« für die zeitgeschichtliche Forschung zu positionieren und ein neues Arbeitsfeld abzustecken. Studien dieser Art sind zweifellos auch weiterhin legitim und wichtig. Aber mit zunehmendem empirischem Wissen wird es nun auch vielversprechender, die Kategorie verstärkt in die »allgemeine« zeitgeschichtliche Forschung einzubinden, wobei die Kategorien und Ursachen von Behinderungen durchaus auch in den Blick genommen werden sollten. So mag eine durch Krieg verursachte Behinderung andere geschichtswissenschaftliche Fragen adressieren als eine angeborene. Es überrascht eigentlich, dass die Lebens- und Alltagssituationen der Millionen von Menschen mit Behinderungen in der Zeitgeschichte nicht schon längst stärker Eingang in Arbeiten zur Bildungs-, Wissenschafts- oder Kulturgeschichte gefunden haben. Bisher zeigt sich die (deutsche) Zeitgeschichte der Kategorie Behinderung gegenüber relativ sprachlos. Andere Kategorien – Alter, Geschlecht, Herkunft, Einkommensschicht – sowie die entlang dieser Kategorien gebildeten Gruppen – Alte, Frauen, Fremde, Eliten – wurden demgegenüber in den letzten Jahrzehnten bereits stärker in den Überblickswerken der allgemeinen Geschichtswissenschaft berücksichtigt, insbesondere bei den »großen« Synthesen.

Die in diesem Themenheft versammelten Beiträge sind Bausteine einer zeithistorischen Forschung, die sich den Perspektiven der Disability History zuwendet sowie ein Panorama unterschiedlicher Ansätze und Verständnisse von Behinderung präsentiert. Im begrenzten Rahmen eines solchen Hefts kann es sich zwar nicht um großangelegte Studien handeln, die durch die Linse der Kategorie Behinderung oder sogar intersektional auf ein allgemeines historisches Phänomen blicken. Die Beiträge gehören überwiegend der Tradition der auf Behinderung fokussierten Spezialstudien an, gehen aber einen Schritt weiter. Die Aufsätze von Ulrike Winkler, Gabriele Lingelbach und Raphael Rössel sowie Claire Shaw eröffnen eine je spezifische Perspektive auf die Behindertenpolitik und den Umgang mit Menschen mit Behinderungen in »Ost« und »West«. So vergleichen Lingelbach und Rössel organisierte Freizeiten und Kuren von Menschen mit Behinderungen und ihren Familien in West- und Ostdeutschland nach 1945. Dabei wird erkennbar, wie in beiden Systemen die gegensätzlichen staatlich sanktionierten Familienmodelle, die Denkweisen über Behinderung und individuelle Lebensentwürfe sehr unterschiedlich ineinandergriffen, aber ähnliche Konjunkturen zeitigten. Shaw hingegen untersucht, wie sich parallelkulturelle Gemeinschaften gehörloser Menschen in und zu den sozialistischen Mehrheitsgesellschaften positionierten; sie belegt hier die Diskrepanzen zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung.27 Zu Beginn der 1930er-Jahre gelang es verschiedenen Lobby- und Gewerkschaftsverbänden, das Zentralkomitee der KPdSU davon zu überzeugen, buchstäbliche (Fabriken und Verbände) wie metaphorische (Anerkennung von Gebärden- und visueller Kommunikation) Nischen für gehörlose Menschen einzurichten. Damit war es gehörlosen Menschen einerseits möglich, am öffentlichen und beruflichen Leben teilzuhaben, andererseits blieben sie in der Mehrheitsgesellschaft als deviant markiert.

Studien dieser Art leisten zwar noch keinen übergreifenden Systemvergleich, aber ihre Ergebnisse lassen sich gut kontrastieren. Deutlich wird, inwiefern Menschen mit Behinderungen im Spannungsverhältnis von Macht und Ohnmacht in sozialistischen und kapitalistischen Staaten Handlungsmöglichkeiten bei der Lebensgestaltung zwischen Systemkonformismus und alternativen Entwürfen hatten, wie sie diese nutzten oder in welcher Form sie sich ihnen eröffneten. Die Betrachtung marginalisierter Gruppen und Lebenssituationen liefert Einsichten in die Diskrepanz zwischen obrigkeitlichen ideologisch-politischen Ansprüchen auf der einen und dem realen Lebensalltag der Bürger:innen auf der anderen Seite, wodurch auch Aussagen über die Durchdringungstiefe eines politischen Herrschaftsanspruchs getroffen werden können. Disability hat dabei eine ähnliche Funktion wie andere Kategorien, die das Leben von Minderheiten fokussieren.28

Die im Vergleich mit weiter zurückliegenden Epochen größere Quantität und Vielfalt von Quellen der Zeitgeschichte verbessert die Chancen, sich nicht nur mit basalen sozial- oder politikgeschichtlichen Fragen befassen zu können, sondern zum Beispiel auch mit Wissensordnungen und kulturellen Setzungen. Es bedarf keiner »besonderen« Quellen, sondern eher der Sensibilität, Behinderung dort aufzuspüren, wo sie auf den ersten Blick eben nicht thematisiert wird. Gerade Auslassungen verweisen auf Praktiken der Nicht-Berücksichtigung oder aber der Selbstverständlichkeit.

Auch für die Zeitgeschichte ist es schwer, einen Zugang zu alltäglichem Handeln, individuellen Erfahrungen und Biographien zu finden. Doch kann die zeithistorische Forschung durch Erinnerungs- und Expert:innen-Interviews sich ihre Quellen häufig selbst schaffen, um Menschen als Subjekte der Geschichte zu untersuchen. Pia Schmüser überträgt in der Rubrik »Quellen« diese Fragen nach der Agency behinderter Menschen und ihrer Angehörigen auf die Quellengattung der Eingaben an DDR-Instanzen. Hier handelt es sich um Beschwerde- und Hinweisschreiben, die bei den Verwaltungen der Kreise und Bezirke, aber auch bei der ministerialen Führungsebene und beim Zentralkomitee der SED in einer Vielzahl eingingen. Schmüser nuanciert die bekannten alltagshistorischen Potentiale und Begrenzungen dieser Schreiben.29 Zwar erlauben solche Beschwerdebriefe keinen unverstellten Blick auf die alltäglichen Lebenswelten von Menschen mit Behinderungen in der DDR. Doch lässt sich anhand der Eingaben sehr wohl den Aneignungen und Umdeutungen offizieller Staatsrhetoriken durch einzelne Familien nachspüren.30

Welche weiteren Entwicklungsszenarien können für die Disability History identifiziert werden? Auf einer normativen Ebene verpflichtet die UN-Behindertenrechtskonvention31 in Artikel 8 zu sofortigen und wirksamen Maßnahmen, um in der Gesellschaft das Bewusstsein zu schulen für die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen und für ihre Probleme. Die Verdienste, Fähigkeiten und Fertigkeiten von Menschen mit Behinderungen müssen gesellschaftlich anerkannt werden – in der Gegenwart, aber eben auch für die Vergangenheit. Das bedeutet, dass die Geschichte von Menschen mit Behinderungen stärker erforscht und im kulturellen Gedächtnis verankert werden müsste, als dies bisher geschehen ist. Auch aus rechtlicher Perspektive werden zudem Fragen nach der historischen Aufarbeitung vergangener Benachteiligungen, Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Misshandlungen von Menschen mit Behinderungen immer bedeutender und zum Forschungsfeld der Geschichtswissenschaften.32

Forschung ist also die eine Aufgabe, Vermittlung die andere. Artikel 30 der UN-Behindertenrechtskonvention sagt, dass alle Menschen ein Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am kulturellen Leben haben. Auch Geschichte muss also möglichst inklusiv vermittelt werden. Hier ist die Public History gefragt.33 Das gilt grundsätzlich bei allen Themen; nicht nur dann, wenn es im Sinne einer Public Disability History inhaltlich um Behinderung geht. Dieses Inklusionsziel haben wir aber noch lange nicht erreicht – die Umsetzung stößt auf vielfache strukturelle, mentale und finanzielle Hindernisse.

Ein großes Desiderat ist, dass Forschung und Vermittlung erstens mehr als bisher aus der Perspektive von Menschen mit Behinderungen erfolgen.34 Dies war von Anfang an eine der Grundforderungen der aktivistischen Richtung der Disability History. Gemäß dem Leitsatz der Behindertenrechtsbewegung »Nothing about us without us«35 sollte zudem zweitens die Geschichte von Menschen mit Behinderungen selbst erforscht und erzählt werden. Dem stehen wiederum mannigfache strukturelle und materielle Hürden im Weg, von denen der Zugang zum Universitätsstudium ebenso zu nennen ist wie die Barrieren, die insbesondere die Quellenrecherche erschweren. Hinzu kommt die Frage, ob und inwieweit es von Vorteil, nötig oder eher riskant ist, wenn die Forscher:innen selbst mit einer Behinderung leben und eigenes Erfahrungswissen einbringen.36 Hier gibt es sehr gegensätzliche Positionen. Zumindest müssen aber die verschiedenen Interessen und Perspektiven der beteiligten Akteur:innen aufeinander bezogen werden. Wie für viele andere Bereiche der Public History mag in diesem auch normativ-emotional aufgeladenen Bereich ein shared-authority-Modell vielversprechend sein, in welchem die unterschiedlichen Interessen zwischen Wissenschaft, Aktivismus und Wissenschaftskommunikation gleichberechtigt miteinander verhandelt werden, ohne dass damit zwangsläufig eine konsensuale Darstellung der Geschichte im öffentlichen Raum verbunden ist.37 Auch wer sich selbst nicht als Teil einer aktivistischen Strömung versteht, muss sich mit diesen Fragen auseinandersetzen und anerkennen, dass die Disability History mehr als manche anderen Gebiete der Geschichtswissenschaft öffentlich wahrgenommen und in die Verantwortung gezogen wird.

Abschließend noch kurze »Lesehinweise«: Im vorliegenden Heft finden sich unterschiedliche Bezeichnungen wie »Disability« oder auch »Dis/ability«. Hier haben wir jeweils die Schreibweise den Autor:innen überlassen. Gleiches gilt – wie immer in dieser Zeitschrift – für die Nutzung von Genderformen. Beim Bildmaterial haben wir versucht, durch passende Beschreibungen und Legenden die Barrierefreiheit herzustellen, sodass auch blinde oder sehbehinderte Menschen die Bildinhalte erfassen können. Grundsätzlich ist in dieser Hinsicht gerade bei Online-Veröffentlichungen noch viel zu tun – auch in der Geschichtswissenschaft.


Anmerkungen:

1 Paul K. Longmore/Lauri Umansky, Disability History. From the Margins to the Mainstream, in: dies. (Hg.), The New Disability History. American Perspectives, New York 2001, S. 1-29, hier S. 15.

2 Eine Analyse der Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen fehlt etwa bei Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR. 1949–1990, München 2008, oder Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009; lediglich beiläufig genannt werden Menschen mit Behinderungen bei Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 844.

3 Aktuelle Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) finden sich unter <https://www.who.int/en/news-room/fact-sheets/detail/disability-and-health>, Angaben zur Bundesrepublik Deutschland unter <https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Behinderte-Menschen/_inhalt.html>.

4 Laut §2 Abs. 1 SGB IX gelten diejenigen Menschen als behindert, »die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können«. Darunter fallen neben dauerhaften Beeinträchtigungen auch solche Phänomene, die im allgemeinen Sprachgebrauch eher als Krankheit definiert werden, z.B. eine Krebserkrankung. Arbeiten der Disability History fokussieren allerdings meist angeborene oder erworbene dauerhafte Behinderungen.

5 Einen ersten Versuch, Behinderung in die (deutsche) Zeitgeschichte einzuschreiben, bildete der Sammelband von Gabriele Lingelbach/Anne Waldschmidt (Hg.), Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Zeitgeschichte, Frankfurt a.M. 2016.

6 Elsbeth Bösl/Anne Klein/Anne Waldschmidt (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010; Sebastian Barsch/Anne Klein/Pieter Verstraete (Hg.), The Imperfect Historian. Disability Histories in Europe, Frankfurt a.M. 2013; Cordula Nolte u.a. (Hg.), Disability History der Vormoderne. Ein Handbuch, Affalterbach 2017.

7 Während intersektionale Perspektiven längere Zeit vor allem im Kontext feministischer Forschung eingenommen wurden, erfährt die Analyse der Überschneidungen und gegenseitigen Beeinflussungen verschiedener Ungleichheitskategorien zunehmend auch im Kontext der Disability Studies (und der Disability History) größere Aufmerksamkeit. Dazu beispielsweise Heike Mauer/Johanna Leinius (Hg.), Intersektionalität und Postkolonialität. Kritische feministische Perspektiven auf Politik und Macht, Opladen 2021, oder Laura Dobusch/Yvonne Wechuli, Disability Studies, in: Astrid Biele Mefebue/Andrea Bührmann/Sabine Grenz (Hg.), Handbuch Intersektionalitätsforschung, Wiesbaden 2020, S. 1-14.

8 Klaus-Peter Horn/Bianca Frohne, On the Fluidity of »Disability« in Medieval and Early Modern Societies. Opportunities and Strategies in a New Field of Research, in: Barsch/Klein/Verstraete, The Imperfect Historian (Anm. 6), S. 17-40; Bianca Frohne/Ivette Nuckel, Mit vormodernen Quellen arbeiten: Schriftquellen, in: Nolte u.a., Disability History der Vormoderne (Anm. 6), S. 75-79.

9 Anne Waldschmidt/Gabriele Lingelbach, Jenseits der Epochengrenzen: Perspektiven auf die allgemeine Geschichte, in: Nolte u.a., Disability History der Vormoderne (Anm. 6), S. 50-52; Gabriele Lingelbach, Der Stand der Forschung zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 70 (2019), S. 5-21; Patrick Schmidt, Bettler, Kriegsinvaliden, Körpersensationen. Beeinträchtigte Menschen in printmedialen Diskursen des 17. und 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2017; Raphael Rössel, Belastete Familien? Eine Alltagsgeschichte westdeutscher Haushalte mit behinderten Kindern (1945–1990), Frankfurt a.M. 2022.

10 Siehe z.B. Michael Oliver, The Politics of Disablement. A Sociological Approach, New York 1990; darin v.a. das Kapitel »Disability and the Rise of Capitalism«.

11 Zuerst bei Catherine J. Kudlick, Disability History: Why We Need Another »Other«, in: American Historical Review 108 (2003), S. 763-793. Zu den Definitionskämpfen innerhalb der Disability History siehe Gabriele Lingelbach, Behindert/Nicht behindert. Begrifflichkeiten, Konzepte und Modelle in der Disability History, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 68 (2018) H. 38-39, S. 37-41.

12 Anne Waldschmidt, Disability Studies. Zur Einführung, Hamburg 2020, S. 160.

13 Zum Verhältnis von Aktivismus und Geschichtswissenschaft finden sich besonders in der Public History fundierte Auseinandersetzungen; siehe etwa Thomas Cauvin, Public History. A Textbook of Practice, New York 2016, S. 232.

14 Nichtdiskriminierende Sprache zu verwenden, bedeutet z.B., auf unnötige Metaphern zu verzichten, wie etwa »auf taube Ohren stoßen« oder »hinterherhinken«. Vgl. Rebecca Maskos, Bewundernswert an den Rollstuhl gefesselt – Medien und Sprache in einer noch nicht inklusiven Gesellschaft, in: Theresia Degener/Elke Diehl (Hg.), Handbuch Behindertenrechtskonvention, Bonn 2015, S. 308-319.

15 Dieser aus der kritischen Rechtswissenschaft entlehnte Ansatz wurde für die deutsche Zeit­geschichte von Behinderungen zuerst erprobt in Sebastian Schlund, »Behinderung« überwinden? Organisierter Behindertensport in der Bundesrepublik Deutschland (1950–1990), Frankfurt a.M. 2017; zu den möglichen Chancen und Grenzen des Intersektionalitätsansatzes für die Geschichtswissenschaft siehe auch Nina Mackert, Kimberlé Crenshaw: Mapping the Margins (1991). Oder: Die umkämpfte Kreuzung, in: Olaf Stieglitz/Jürgen Martschukat (Hg.), race & sex. Eine Geschichte der Neuzeit. 49 Schlüsseltexte aus vier Jahrhunderten neu gelesen, Berlin 2016, S. 44-50. Für die neuere US-Geschichte zu Behinderungen liegt ein intersektional orientierter Sammelband vor: Kathleen M. Brain/James W. Trent (Hg.), Phallacies. Historical Intersections of Disability and Masculinity, New York 2017.

16 Siehe auch die Beiträge in dem von Nina Mackert und Jürgen Martschukat herausgegebenen Themenheft der Zeitschrift Rethinking History; zur theoretischen Rahmung vgl. dies., Introduction: Critical Ability History, in: Rethinking History 23 (2019), S. 131-137.

17 Die Disability Historians griffen damit einen in den 1980er-Jahren durch Sozialhistoriker:innen etablierten Themenschwerpunkt auf. Vgl. Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986; Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens«, 1890–1945, Göttingen 1987.

18 Vgl. Deborah Cohen, The War Come Home. Disabled Veterans in Britain and Germany, 1914–1939, Berkeley 2001; Carolin Wiethoff, Arbeit vor Rente. Soziale Sicherung bei Invalidität und berufliche Rehabilitation in der DDR (1949–1989), Berlin 2017; Wilfried Rudloff, Lebenslagen, Aufmerksamkeitszyklen und Periodisierungsprobleme der bundesdeutschen Behindertenpolitik bis zur Wiedervereinigung, in: Lingelbach/Waldschmidt, Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? (Anm. 5), S. 54-81.

19 Vgl. Stefanie Coché, Psychiatrie und Gesellschaft. Psychiatrische Einweisungspraxis im »Dritten Reich«, in der DDR und der Bundesrepublik, 1941–1963, Göttingen 2017; zuvor Cornelia Brink, Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860–1980, Göttingen 2010.

20 Vgl. Paul K. Longmore, A Note on Language and the Social Identity of Disabled People, in: American Behavioral Scientist 28 (1985), S. 419-423; Oliver, Politics of Disablement (Anm. 10); Paul Abberley, Work, Utopia and Impairment, in: Len Barton (Hg.), Disability and Society. Emerging Issues and Insights, London 1996, S. 61-79.

21 Zu dieser technikgeschichtlichen Neuperspektivierung zeithistorisch bisher: Elsbeth Bösl, Behinderung, Technik und gebaute Umwelt. Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen beim Abbau baulich-technischer Hindernisse in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Helga Pelizäus/Ludwig Nieder (Hg.), Das Risiko – Gedanken übers und ins Ungewisse. Interdisziplinäre Aushandlungen des Risikophänomens im Lichte der Reflexiven Moderne. Eine Festschrift für Wolfgang Bonß, Wiesbaden 2019, S. 369-388.

22 Zur Theorie vgl. Anne Waldschmidt, Soziales Problem oder kulturelle Differenz? Zur Geschichte von »Behinderung« aus der Sicht der »Disability Studies«, in: Traverse 13 (2006) H. 3, S. 31-46. Siehe dazu die Arbeiten der Reihe »Disability History« im Campus-Verlag, hg. von Gabriele Lingelbach, Elsbeth Bösl und Maren Möhring.

23 Vgl. z.B. Swantje Köbsell, ›Besondere Körper‹ – Geschlecht und Körper im Diskurs der westdeutschen Behindertenbewegung der 1980er und 1990er Jahre, in: Lingelbach/Waldschmidt, Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? (Anm. 5), S. 239-261.

24 Gabriele Lingelbach, Konstruktionen von ›Behinderung‹ in der Öffentlichkeitsarbeit und Spendenwerbung der Aktion Sorgenkind seit 1964, in: Bösl/Klein/Waldschmidt, Disability History (Anm. 6), S. 127-150.

25 Vgl. Bernhard Frings, Heimerziehung im Essener Franz-Sales-Haus 1945–1970. Strukturen und Alltag in der »Schwachsinnigen-Fürsorge«, Münster 2002; auch Daniel Blackie/Alexia Moncrieff, State of the Field: Disability History, in: History 107 (2022), S. 789-811.

26 Vgl. z.B. Ulrike Winkler, »Es war eine enge Welt«. Menschen mit Behinderungen, Heimkinder und Mitarbeitende in der Stiftung kreuznacher diakonie, 1945–1975, Bielefeld 2012; Christof Beyer u.a., Wissenschaftliche Untersuchung zu Formen von Leid und Unrecht bei der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in schleswig-holsteinischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie in den Jahren 1949 bis 1990, 28.1.2022.

27 Siehe auch Claire Shaw, Deaf in the USSR. Marginality, Community, and Soviet Identity, 1917–1991, Ithaca 2017.

28 Exemplarisch dazu etwa auch Arbeiten zur Homosexualität in der DDR und der Bundesrepublik: Jennifer V. Evans, Homosexuality in the Politics of Masculinity in East Germany, in: Karen Hagemann (Hg.), Gender and the Long Postwar. The United States and the Two Germanys, 1945–1989, Washington 2014, S. 343-362; Andreas Pretzel/Volker Weiß (Hg.), Ohnmacht und Aufbegehren. Homosexuelle Männer in der frühen Bundesrepublik, Hamburg 2010; Benno Gammerl, anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte, München 2021.

29 Vgl. Alf Lüdtke, Sprache und Herrschaft in der DDR. Einleitende Überlegungen, in: Peter Becker/Alf Lüdtke (Hg.), Akten, Eingaben, Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag, Berlin 1997, S. 11-26.

30 Siehe auch Raphael Rössel/Pia Schmüser, Pflege als Alltagsphänomen. Familien behinderter Kinder in der Bundesrepublik und DDR, in: Deutschland Archiv, 3.12.2019.

31 Theresia Degener, Völkerrechtliche Grundlagen und Inhalt der UN BRK, in: dies. u.a. (Hg.), Menschenrecht Inklusion, Göttingen 2016, S. 11-51. Ob dies allerdings überall zu einer tatsächlichen Änderung der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen führt, darf bezweifelt werden. Dazu Corinne Wohlgensinger, Behinderung und Menschenrechte. Ein Verhältnis auf dem Prüfstand, Opladen 2014.

32 Dies zeigt sich u.a. in der 2017 erfolgten Gründung der »Stiftung Anerkennung und Hilfe« für Kinder und Jugendliche, die in der Zeit von 1949 bis 1975 (Bundesrepublik Deutschland) bzw. 1949 bis 1990 (DDR) in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe bzw. der Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren haben.

33 Katherine Ott, Disability and the Practice of Public History: An Introduction, in: Public Historian 27 (2005) H. 2, S. 11-24.

34 Siehe das von der DFG seit 2020 geförderte Projekt »Menschen mit geistigen Behinderungen als Akteure ihrer Geschichte: Teilhabeorientierte Praktiken einer Public Disability History«: <https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/447590969>. Zudem entstand im Rahmen des vom BMBF 2018 bis 2022 geförderten Projekts »DisHist – Menschen mit Behinderungen in der DDR« eine digitale Ausstellung, die auch Texte in einfacher Sprache enthält, die von Menschen mit diagnostizierten geistigen Behinderungen erstellt wurden: <https://behinderung-ddr.de>.

35 James Charlton, Nothing about Us without Us. Disability Oppression and Empowerment, Berkeley 2004.

36 Z.B. Longmore/Umansky, Disability History (Anm. 1).

37 Sebastian Barsch, Public Disability History als »shared authority«, in: Cordula Nolte (Hg.), Dis/ability History Goes Public. Praktiken und Perspektiven der Wissensvermittlung, Bielefeld 2020, S. 27-48. Zur shared authority generell: Alix Green, Professional Identity and the Public Purposes of History, in: Marko Demantowsky (Hg.), Public History and School. International Perspectives, Boston 2018, S. 175-185, hier S. 176.

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