Pathologie der Gesellschaft und liberale Vision

Ralf Dahrendorfs Erkundung der deutschen Demokratie

Anmerkungen

Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München: R. Piper & Co. 1965.

Dahrendorfs „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ ist in besonderer Weise von den Umständen der noch jungen Bundesrepublik geprägt; das Werk gehört „heute selber zur Frühgeschichte dieses Staates und seiner Gesellschaft“.1 Der Soziologe Dahrendorf (geb. 1929) hatte eine Zeitdiagnose in nationalpädagogischer Absicht und mit sozialliberalem Impetus verfasst - „politischer Traktat, Einführungsvorlesung und Theorie der Demokratie“ in einem.2 Seine Untersuchung war „ein Plädoyer für das Prinzip der liberalen Demokratie“ (S. 27). In der Trias von historischer Erklärung, soziologischer Analyse und engagierter politischer Theorie bleibt „Gesellschaft und Demokratie“ bis heute eine Ausnahme und kann wirkungsgeschichtlich kaum überschätzt werden.3

Dahrendorfs Buch inspirierte die soziologienahe, sich in den 1960er-Jahren formierende jüngere Sozialgeschichte, indem es die „deutsche Frage“ im Hinblick auf die gesellschaftliche Verfassung, die sozioökonomische Entwicklung und die politische Kultur formulierte: Nicht das tagesaktuelle Problem des geteilten Deutschland, sondern die „Frage nach den Hemmnissen der liberalen Demokratie in Deutschland“ (S. 39) stand im Zentrum des Erkenntnisinteresses. In zwei Bereichen lässt sich die Wirkung Dahrendorfs auf die bundesrepublikanische Historiografie besonders verdeutlichen:4 hinsichtlich seiner Interpretation des Nationalsozialismus als Modernisierung wider Willen und seiner Bewertung des 20. Juli 1944 (1.) sowie mit Blick auf die paradigmatische Interpretation des deutschen Sonderweges (2.).

1. Anregend, ja provokativ wirkte Dahrendorfs Interpretation der nationalsozialistischen Herrschaft und ihrer gesellschaftlichen Folgen (S. 432): „Der Nationalsozialismus hat für Deutschland die in den Verwerfungen des kaiserlichen Deutschland verloren gegangene, durch die Wirrnisse der Weimarer Republik aufgehaltene soziale Revolution vollzogen.“ Die Tabula rasa des „Dritten Reiches“ habe die Voraussetzungen für den liberalen Staat geschaffen, indem sie vormoderne gesellschaftliche Strukturen eingeebnet habe, die die Eigenverantwortlichkeit des Staatsbürgers und seine direkte Partizipation in der Weimarer Republik noch behindert hätten. Allerdings schränkte Dahrendorf seine These dahingehend ein, dass der durch den Nationalsozialismus bewirkte Modernisierungsschub ein „gleichsam unbeabsichtigtes, dennoch notwendiges Resultat seiner Herrschaft“ gewesen sei (S. 432). Dabei lag er auf einer Linie mit David Schoenbaum, der 1966 - also fast zeitgleich - im Nationalsozialismus eine Dialektik erkannte: Die ideologischen Zwecke, die der bürgerlich-industriellen Welt den Krieg erklärten, sollten mit den Mitteln einer hoch industrialisierten Gesellschaft erreicht werden.5 Beide Autoren sahen den vom Zerstörungsgeist des Nationalsozialismus in Gang gesetzten Modernisierungsprozess durch ein komplexes Spannungsverhältnis zwischen modernen Mitteln und rückwärtsgewandten Zielen gekennzeichnet. Diese neue, ambivalente Sicht ging in Jeffrey Herfs Konzept eines „reactionary modernism“ ein6 und stimulierte auch die spätere Debatte um „Nationalsozialismus und Modernisierung“.7

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Wichtige Impulse gab zudem Dahrendorfs Bewertung des Widerstandes, der in der Frühphase der Bundesrepublik einerseits noch dem Verdikt des „Verrats“ unterlag, andererseits staatstragend zu naiver geschichtspolitischer Identifikation einlud. Dahrendorf würdigte den Widerstand gegen Hitler zwar als „ein Ruhmesblatt deutscher Geschichte“, sah in ihm aber keinen entscheidenden emanzipatorischen Schritt (S. 442): „Ja, noch schlimmer, es war Hitler, der jene Transformation der deutschen Gesellschaft bewirkte, die auch die Verfassung der Freiheit erst möglich macht, während der Widerstand gegen sein Regime im Namen einer Gesellschaft antrat, die nur autoritärer Herrschaft die Basis liefern konnte. Nirgends sind wohl Moralität und Liberalität so sichtbar auseinandergetreten wie in Deutschland [...].“ In der Zeitgeschichtsschreibung wurde diese kritisch historisierende Sicht bald darauf durch Hans Mommsen und Hermann Graml näher belegt, die sich von einer lange Zeit vorherrschenden heroisierenden Perspektive absetzten, welche Hans Rothfels und Gerhard Ritter etabliert hatten.8

Dahrendorfs Deutung des Nationalsozialismus wirkte provozierend, unterstellte er doch, dass die liberale Demokratie in Deutschland ohne die totalitäre Zerstörung der traditionalen gesellschaftlichen Strukturen von vornherein keine Chance besessen hätte. Aus dieser deterministischen Perspektive war die Weimarer Republik alternativlos und konsequent gescheitert. Zudem ist Dahrendorfs Neigung, die NS-Propaganda von „Gleichschaltung“ und „Volksgemeinschaft“ für bare Münze zu nehmen, in hohem Maße anfechtbar geblieben; neuere Untersuchungen haben inzwischen belegt, dass sich die Sozial-struktur in der nationalsozialistischen Gesellschaft weit weniger änderte, als Dahrendorf dies annahm. Unbefriedigend blieb in diesem Zusammenhang schließlich eine reduzierte sozioökonomische Verwendung des ansonsten normativ „westlich“ konnotierten Modernisierungsbegriffs, wodurch andere modernisierungsspezifische Faktoren wie Wissenschaft, Bildung und politische Kultur ausgeblendet wurden.9

2. Wie maßgeblich Dahrendorf den Fragehorizont der lange Zeit dominierenden Sozialgeschichtsschreibung vom deutschen Sonderweg mitbestimmte, wird bis in die Formulierungen hinein deutlich. Er thematisierte „Deutschlands langen Weg in die Modernität“ (S. 170), dessen Verlauf eben durch keine Revolution begünstigt worden sei. Mit der „Historischen Sozialwissenschaft“ verbanden ihn der politische Aufklärungsanspruch und der Maßstab einer erfolgreichen westlichen Modernisierung, die idealtypisch den historischen Normalverlauf repräsentiere. Mochten die Erklärungen, die Dahrendorf gab, im Einzelnen auch „nicht überraschend“ sein und aus einer „Handvoll globaler Annahmen und informierter Vereinfachungen“ bestehen10 - zusammengenommen spiegelten sie das Deutungsreservoir einer kritischen Sozialgeschichte avant la lettre beeindruckend wider und beschrieben die Forschungsagenda einer ganzen Historikergeneration: das Kaiserreich als „autoritärer Wohlfahrtsstaat“, die Anpassung der industrialisierten Gesellschaft an feudale Strukturen (oder umgekehrt), das Verhängnis der tonangebenden Herr-schaftseliten von preußischen Junkern und Beamten, das besonders unpolitische bzw. obrigkeitshörige Wirtschafts- und Bildungsbürgertum, die ausgebliebene Revolution von 1918, die „Tragödie“ einer illiberalen, etatistischen Arbeiterbewegung. Nicht zufällig hat gerade Hans-Ulrich Wehler mit Blick auf Dahrendorfs „Gesellschaft und Demokratie“ von einem „ungewöhnlich einflussreichen Buch“ gesprochen.11

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Ideengeschichtlich hingegen resümierte Dahrendorf den Weg der „verspäteten Nation“ in weitgehend traditioneller Weise, indem er die Genese von deutschem Untertanengeist, Gemeinschafts- und Kulturbewusstsein nachzeichnete und dem liberalen Westen gegenüberstellte. Das streng dichotomische Verständnis von „deutsch“ und „westlich“ erschwerte denn auch die angestrebte Distanzierung von geistesgeschichtlichen Rekonstruktionen des „deutschen Wesens“, wie sie Helmuth Plessner, Gerhard Ritter, Thomas Mann oder Friedrich Meinecke vorgenommen hatten (vgl. Kap. 9, 11, 14, 19, 22, 24). Gegen die zeitgenössische Geschichtsmetaphysik von „Sinn“ und „Schicksal“ setzte Dahrendorf jedoch soziologische Erklärungsmuster wie die Analyse der Klassengesellschaft und der defizitären politischen Kultur, der es an Freiheit, Chancengleichheit und liberaler Staatsbürgertugend gemangelt habe. „Soziale Un-gleichheit und traditionale Verhaftung“ in ständischen Strukturen hätten die „Modernität in Deutschland“ behindert (S. 155), was zudem im Interesse der gesellschaftlichen Führungsschichten gelegen habe.

Hervorzuheben ist schließlich Dahrendorfs Ausarbeitung einer liberalen politischen Theorie, die einen maßgeblichen Beitrag zur „Westernisierung“ der Bundesrepublik leistete. Dahrendorf orientierte sich vor allem an den zeitgenössischen „Cold War Liberals“ wie Friedrich August von Hayek, Raymond Aron und Karl Popper, bezog seine Anregungen aber auch von den Demokratietheorien Max Webers und Joseph Schumpeters. Die liberale, westliche Tradition im Sinne John Lockes, Immanuel Kants und Alexis de Tocquevilles wurde vor allem gegen Hegel beschworen, den Kant „in Deutschland [...] im Grunde nicht überlebt“ habe (S. 18). Hegels „Staat als Wirklichkeit der sittlichen Idee“ und die darin ausgedrückte „deutsche Sehnsucht nach Synthese“ konfrontierte Dahrendorf mit dem liberalen Prinzip, das auf der Anerkennung von Konflikten basiere (S. 174): „Konflikt ist Freiheit, weil durch ihn allein die Vielfalt und Unvereinbarkeit menschlicher Interessen und Wünsche in einer Welt notorischer Ungewissheit angemessenen Ausdruck finden kann.“ Nicht Wahrheitsstreben, sondern der liberal verstandene Wettbewerb der Meinungen bewirke Fortschritt und biete ebenso Schutz vor der „Dogmatisierung des Irrtums“ (S. 239), wie die institutionalisierte Freiheit des Marktes die politische Freiheit stütze und allen Formen staatlicher Planwirtschaft überlegen sei. Angelehnt an Hayek entwarf Dahrendorf eine „Verfassung der Freiheit“, die sich durch „bürgerliche Gleichheit, die rationale Regelung von Konflikten, eine liberale Elite und die Vorherrschaft der öffentlichen Tugenden“ auszeichne (S. 374). An die Seite einer Idealvorstellung vom autonomen, selbstbestimmten Individuum stellte er später allerdings traditionelle Institutionen und Orientierungen („soziale Ligaturen“), „die Rechte schützen und Interessen vermitteln“ sollten.12

Mit „Gesellschaft und Demokratie“ besetzte Dahrendorf erfolgreich eine vakante Position: Er avancierte zum „bedeutendsten liberalen Denker, den Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat“.13 Mit „nicht nur wissenschaftlich, sondern eher noch intellektuell und politisch bahnbrechenden Überlegungen“14 empfahl er sich überdies für eine politische Karriere in der sich damals erneuernden FDP, zumal er politische Schlagworte zu prägen verstand (etwa „Bildung ist Bürgerrecht“). Dahrendorfs zur Überspitzung neigende Thesen artikulierten auch das intellektuelle Unbehagen in der Post-Adenauer-Ära, als die Bundesrepublik noch der gesellschaftlichen Liberalisierung harrte und in den Konsens der Großen Koalition flüchtete (die Dahrendorf übrigens vorausgesagt hatte), anstatt den Konflikt zu suchen. Der studentische Protest der Achtundsechziger machte dieses Defizit an Streitkultur und liberaler Offenheit wenig später deutlich sichtbar.
 

Anmerkungen:

1 Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 11f.

2 Jürgen Habermas, Die verzögerte Moderne [1965], in: ders., Philosophisch-politische Profile, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1991, S. 453-457, hier S. 454.

3 Vgl. auch Heinz Bude, Die Soziologen der Bundesrepublik, in: Merkur 46 (1992), S. 569-580, insbesondere S. 578f.

4 Vgl. zum Folgenden auch Michael Prinz, Ralf Dahrendorfs „Gesellschaft und Demokratie“ als epochenübergreifende Interpretation des Nationalsozialismus, in: ders./Matthias Frese (Hg.), Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996, S. 755-777.

5 David Schoenbaum, Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches, Köln 1968 (engl. Erstausg.: Hitler’s Social Revolution. Class and Status in Nazi Germany 1933-1939, Garden City 1966).

6 Jeffrey Herf, Reactionary Modernism. Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984.

7 Vgl. Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, erw. u. bearb. Neuausg. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 246-278, S. 364-372.

8 Vgl. ebd., S. 279-300.

9 Zu einem komplexen Modernisierungsbegriff vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Vierter Band: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S. 781-794.

10 Habermas, Die verzögerte Moderne (Anm. 2), S. 453ff.

11 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte (Anm. 9), S. 781.

12 Ralf Dahrendorf, Dahrendorf über Dahrendorf. Gesellschaft und Demokratie in Deutschland - nach vierzig Jahren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.1.1989.

13 Hans-Peter Schwarz, Gemeinsam mit Washington. Auf dem Weg in das 21. Jahrhundert bei Tony Blair angelangt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.4.2003.

14 Nolte, Die Ordnung (Anm. 1), S. 11.

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